Zwanzig
Es dauerte ein paar Stunden, bis wir wieder zurück in Paris und zurück im Hotel und endlich allein waren. Virginie hatte meine wiederholten, aber subtilen Tritte gegen ihr Schienbein, die ich ihr während der Fahrt im Lieferwagen zurück in die Stadt gab, ignoriert und war mit Craig was trinken gegangen, Graham hatte sich hingelegt. Er meinte, er habe dank meiner improvisierten Ein-Frau-Show eine Migräne bekommen. Ich wagte mir gar nicht auszumalen, was passiert wäre, wenn ich gesungen hätte. Ein Schlaganfall? Weil ich jeglicher Diskussion über meine Darbietung aus dem Weg gehen wollte, hatte ich während der Fahrt die meiste Zeit meine liebste »Tu-als-würdest-du-schlafen«-Karte ausgespielt und damit das unvermeidliche »Gespräch« hinausgezögert. Nun kannte in Arras zwar jeder die Details unseres Zerwürfnisses, aber nicht einmal ich wusste, was mich als Nächstes erwartete.
Alex hielt mir die Zimmertür auf, und ich, plötzlich nervös, allein mit ihm zu sein, trippelte hinein. Ich stellte meine Handtasche vorsichtig auf dem Nachttisch ab, was angesichts des Schlags, den sie und mein Laptop bereits abbekommen hatten, ziemlich sinnlos war, aber dennoch, es war nett, nett zu sein. Mit einem lauten Seufzer wandte ich mich zu Alex um, der noch immer an der Tür stand.
»Kommst du nicht rein?«, fragte ich betreten.
»Möchtest du das denn?« Dabei zog er seine Schultern hoch.
»Ich möchte wissen, wo du letzte Nacht warst.« Dabei setzte ich mich aufs Bett und schaute meine abgewetzten Schuhe an. »Und ich möchte wissen, warum du mir nach London gefolgt bist.«
»Ich bin dir nach London gefolgt, weil ich, als ich heute Morgen zurückgekommen bin, festgestellt habe, dass dein Reisepass fehlte, außerdem hattest du den Ausdruck deines Fahrplans zurückgelassen«, erwiderte er und kam durch den Raum, um sich in einen Sessel zu setzen. »Und ich habe die Nacht bei einem Freund verbracht.«
»Warum hast du nach meinem Pass gesucht?« Ich hatte beschlossen, den »Freund« mal kurz ruhen zu lassen.
»Ich sehe jeden Tag nach deinem Reisepass«, erwiderte Alex achselzuckend. »Nimm’s mir nicht übel, aber du neigst dazu, Sachen zu verlieren. Wer, glaubst du, legt jeden Abend deine Schlüssel in diese Schüssel vor deiner Eingangstür? Denn das bist mit Sicherheit nicht du.«
»Oh«, sagte ich ziemlich gerührt.
»Und ich weiß, dass du deswegen ausflippen wirst, aber nicht fragen willst – also der Freund war Solènes Bruder«, fuhr er fort. »Sie verstehen sich nicht, aber er und ich sind immer in Kontakt geblieben. Er ist ein cooler Typ. Ich musste einfach nachdenken, und Graham hatte mir gesagt, du seist wegen einer Migräne ins Hotel zurückgegangen, und ich solle dich nicht anrufen. Also bin ich zu ihm gegangen.«
»Das hat er dir gesagt?«, hakte ich nach. Na so was, da hatte Graham also gelogen, obwohl er meinte, er werde es nicht tun. Wenn er das allerdings nicht getan hätte, wäre Alex womöglich ins Hotel zurückgekommen, und dieser ganze Blödsinn wäre nicht passiert. Toll! Graham war also für das ganze Festivaldebakel verantwortlich!
»Hat er.« Alex, dem ein Strähne schwarzen Haares, die sich gelöst hatte, ins Auge hing, sah mich an. »Aber ich nehme an, das hat nicht gestimmt. Du hast Solène vor dem Auftritt gesprochen, stimmt’s?«
»Habe ich. Und ich habe euch davor zusammen in der Bar gesehen.«
»Meine Güte, warum bist du nicht einfach zu mir gekommen?« Alex strich sich mit seinen Händen übers Gesicht und durch die Haare. »Dann ist das der Grund, weshalb du abgehauen bist? Mal ganz im Ernst, Angela, wie oft müssen wir noch dieses Gespräch führen, dass wir miteinander reden müssen?«
»Dann sprich jetzt mit mir«, erwiderte ich rasch. »Erzähl mir, warum du überhaupt mit deiner Exfreundin, die du so sehr hasst, in dieser Bar warst.«
»Weil sie mich nicht in Ruhe gelassen hat. Weil sie dich nicht in Ruhe gelassen hat. Weil ich ihr klarmachen musste, dass es vorbei war, für immer, dass ich jemand anderen liebte und sie, egal was sie sagte, daran nichts würde ändern können.« Er erhob sich und kam durch das Zimmer auf mich zu, kniete sich vors Bett und ergriff meine Hände. »Es tut mir leid, dass ich es dir nicht gesagt habe, aber sie hatte am Empfang eine persönliche Nachricht für mich hinterlegt. Ich wollte es dir ja anschließend gleich erzählen. Sie gehört nicht zu meinem Leben, Angela, ganz gleich was sie dir erzählt hat. Sie gehört nicht mehr dazu seit dem Tag, an dem sie mich betrogen hat, und sie wird auch nie mehr dazugehören.«
»Gut zu wissen.« Ich schniefte, entschlossen, nicht zu weinen. Ich hatte noch ein paar Fragen. »Und was war an dem anderen Abend? An deinem Geburtstag?«
»Das musst du mir beantworten.« Er drehte sich herum, sodass er im Schneidersitz vor mir saß. »Du bist diejenige, die plötzlich ganz komisch reagiert hat.«
»Ne, ne«, quiekte ich. »Das warst eindeutig du. Du hast damit angefangen, von wegen nicht heiraten und keine Kinder kriegen wollen, und dann hast du auch noch gesagt, du willst nicht mehr, dass ich bei dir einziehe.«
»Oh. Das.«
»Genau. Das.«
»Also«, er schaute zu Boden, »du hast mir immer wieder zu verstehen gegeben, dass du nicht bei mir einziehen willst, also habe ich gedacht, es sei für mein Ego leichter, wenn ich dir den Stock abnehme, mit dem du mich schlägst.«
Ich zog die Stirn kraus. Warum musste Jenny in diesen Dingen immer recht haben?
»Aber ich möchte bei dir einziehen«, sagte ich kleinlaut. »Ich hatte nur Angst davor, weißt du, wegen meiner letzten Erfahrung im Zusammenleben.«
»Und ich habe auch Angst. Als ich das letzte Mal mit jemandem zusammengelebt habe, ist das auch nicht großartig gelaufen«, sagte Alex und sah mich dabei wieder an und strich mir das Haar hinter die Ohren. Wirklich süß von ihm, dass er nicht kommentierte, wie ekelhaft es war. »Aber ich möchte trotzdem mit dir zusammenleben. Ich möchte alles mit dir tun.«
»Aber du hast doch gesagt …«
»Ich weiß, was ich gesagt habe, und das war blöd von mir.« Er hielt seine Hand an meinen zwei Mal geschundenen Wangenknochen und fuhr kopfschüttelnd fort. »Vermutlich hat das Wiedersehen mit Solène mich mehr durcheinandergebracht, als ich mir das eingestehen wollte. Ich glaube nicht, dass ich dir das je gesagt habe, aber ich hatte sie tatsächlich gefragt, ob sie mich heiraten wolle. Das war dumm, es ist einiges schiefgelaufen, sie hatte Probleme mit ihrem Visum, und ich dachte, dadurch würde alles besser werden. Natürlich war das kein Fundament, um sich für das ganze Leben festzulegen und zu verpflichten, das weiß ich.«
»Du hast es mir nicht gesagt, aber sie hat es«, sagte ich und drückte meine Hand an seine. »Aber ich war, wie du weißt, auch schon mal verlobt, also hätte ich es verstanden.«
»Ja, als wäre ich nicht jedes Mal total eifersüchtig, wenn ich mich daran erinnere.« Er zog lächelnd eine Braue hoch. »Mal ganz ehrlich. Wärst du völlig cool damit umgegangen?«
»Ich hätte es irgendwann verstanden«, gab ich zu. »Mal ganz ehrlich, ich verstehe doch, dass es keine große Sache war. Ich habe mich wohl hauptsächlich darüber gewundert, dass du es nie erwähnt hast, aber ich kann es nachvollziehen. Ich würde auch nicht herumlaufen und in höchsten Tönen von der Ehe schwärmen, wenn mir jemand ständig meinen Ex vor Augen hält.«
Dass mir das erst klargeworden war, nachdem Jenny mich darauf gestoßen hatte, ließ ich lieber unerwähnt. Soll er mich ruhig für weise und empathisch halten, ob das stimmte, würde er schon selbst herausfinden.
»Ja, also das gehörte zu den Dingen, über die ich nachgedacht habe«, sagte er leise. »Gerade weil ich gesagt hatte, ich wollte das alles nicht, war ich gezwungen, darüber nachzudenken.«
»Oh?« Mein Mund wurde plötzlich ganz trocken. »Und was ist dabei herausgekommen?«
»Dass ich sie vielleicht doch will«, sagte er und hob sein Gesicht an. »Mit dir.«
»Wirklich?«, flüsterte ich an seinen Lippen.
»Wirklich«, flüsterte er zurück. »Für mich ist es das, Angela. Ich bin der Deine, wenn du mich willst. Wenn du morgen heiraten möchtest, fliegen wir über Vegas zurück. Wenn du nach London zurück möchtest, werde ich Graham dazu bringen, meine Sachen zusammenzupacken, und wir können sofort los. Wenn du achtzehn Kinder und einen Palisadenzaun haben möchtest, gut, dann suche ich mir einen Job in der Werbung, klatsche mein Haar zurück, und wir machen einen auf Mad Men. Aber ohne die Seitensprünge und verschreibungspflichtigen Medikamente. Was immer du willst. Und zwar gleich.«
»Vielleicht fangen wir am besten erst mal mit dem Zusammenziehen an, bevor wir uns übers Heiraten unterhalten«, schlug ich vor, und mein Herz pochte dabei so heftig, dass ich meinen Pulsschlag in meinem lädierten Wangenknochen spürte. »Oder über Kinder.«
»Wir können nur hoffen, dass die, wenn wir welche haben, nicht so dumm sind wie ich oder so ungeschickt wie du, oder sie sind gleich von Anfang an verkorkst«, sagte er und beendete das Gespräch mit einem Kuss. Ich zog ihn hoch aufs Bett, ohne meine Lippen von seinen zu lösen, und als ich sein vertrautes Gewicht auf mir spürte und die Wärme seines Körpers, brachte das endlich alle Stimmen in meinem Kopf zum Schweigen.
Später, als wir in der Dunkelheit zusammengerollt lagen, kam mir eine Idee. »Alex?«, sagte ich und malte entspannt mit meinen Fingern Kreise auf seine Brust.
»Ja?«
»Was hast du gemacht, als du nach London gekommen bist? Ich meine, wie wolltest du mich finden? Du wusstest doch, dass ich kein funktionierendes Telefon hatte.«
»O ja.« Er gähnte, rollte sich auf seine Seite und schlang seine Arme um mich. »Morgen früh müssen wir deine Mama anrufen, und ihr sagen, dass es dir gut geht.«
»Du hast meine Mutter angerufen?« Ich war plötzlich hellwach.
»Morgen früh«, erwiderte Alex und küsste mein Haar. »Jetzt schlaf.«
»Das sagst du so leicht«, flüsterte ich so wütend mir das bei einem Mann möglich war, der vor gerade mal fünfzehn Minuten was richtig Unanständiges mit mir gemacht hatte. »Du hast meine Mutter angerufen – ich fass es nicht.«
»Ich fass es nicht, dass du mich nicht angerufen hast!«, kreischte meine Mutter in vollster Lautstärke durchs Telefon. »Erst sagst du, du kommst nach Hause, dann wieder nicht. Dann rufen seltsame amerikanische Männer an und wollen wissen, wo du bist. Dann rufst du mich an und sagst mir, dass alles gut ist. Nun, nichts ist gut, Angela. Du bewegst jetzt sofort deinen Hintern und kommst nach Hause. Ich war die ganze Nacht wach und krank vor Sorge und hatte keine Ahnung, wie ich Kontakt zu dir aufnehmen sollte. Wir haben dieses Facebook-Ding ausprobiert, aber du hast nicht geantwortet, wir haben Louisa angerufen, wir haben in deiner Wohnung in Amerika angerufen, ich habe sogar diese Jenny angerufen, die mir gesagt hat, ich solle mal »chillen«. Chillen! Jetzt sag mir, Angela Clark, was sollte ich davon halten?«
Ich schloss die Augen und erstellte mir im Geiste eine Liste all der Leute, die ich anrufen und bei denen ich mich entschuldigen musste. »Tut mir leid, Mum«, sagte ich, als sie eine Pause machte. »Der gestrige Tag war verrückt, aber mir geht es gut, und ich fliege heute Nachmittag zurück nach New York. Und ich muss jetzt wirklich auflegen, weil wir zum Flughafen müssen.«
»O nein. Nein, du kommst jetzt sofort hierher, junge Dame. Meine Nerven machen das nicht mehr mit. Erst haust du nach New York ab, dann poussierst du in L. A. herum, als Nächstes bist du in Paris, dann bist du in London. Nein, du kommst jetzt nach Hause.«
»Mum …«
»Nichts da, es hat sich ausgemumt …«
»Willst du mich bitte ausreden lassen?«
»Da gibt es nichts mehr zu sagen! Steig jetzt sofort in den Zug …«
»Wirst du mal für eine Minute den Mund halten, Mum?«
Sie schwieg für genau eine Sekunde.
»Hast du da gerade deiner Mutter, deiner eigenen Mutter, das Wort verboten?«, schnaubte sie. »Also wirklich, ich fass es nicht …«
»Ach, fang nicht wieder an!« Ich erwog wirklich ernsthaft aufzulegen und den Leuten in Zukunft zu sagen, dass ich Waise sei, aber ich wusste ja, dass sie sich nur Sorgen machte. Irgendwo und irgendwie wusste ich das. Und musste mich nur daran erinnern. »Und das waren keine seltsamen Männer, die da angerufen haben, das war Alex, also stell es nicht so hin, als würden ständig irgendwelche Zufallsbekanntschaften bei dir anrufen.«
»Geh weg vom Telefon, geh weg«, quengelte meine Mutter, und ihre Stimme wurde dabei immer leiser.
»Mum?«, fragte ich und achtete nicht auf Alex, der lachend in der Badezimmertür stand. »Mum, bist du noch dran?«
»Hier ist dein Dad, Angela.«
Mir fiel die Kinnlade herunter. Die Stimme meines Dads hatte ich seit Monaten nicht mehr gehört. Glaubte man meiner Mutter, dann hatte »er nie viel zu sagen«, aber ich war eher geneigt zu glauben, dass sie ihn nichts sagen ließ. Und außerdem gefiel es ihr nicht, wenn er ans Telefon ging, weil sie befürchtete, er könnte sich »was einfallen« lassen.
»Dad?«
»Ja, Angela, meine Liebe?«, erwiderte er in aller Seelenruhe, ungeachtet des Geklappers um ihn herum. Ich konnte meine Mutter im Hintergrund weiterquasseln hören, sogar noch lauter als zuvor.
»Es ist so schön, dich zu sprechen«, sagte ich und weinte, bevor ich es merkte. »Geht es dir gut?«
»Es geht mir gut«, sagte er. »Und dir?«
»Mir auch«, erwiderte ich. »Mir geht es wirklich gut.«
»Und du wirst nach New York zurückgehen, sagst du?«
»Ja.«
»Aber du weißt, dass du zurückkommen kannst, wann immer du willst?«
Plötzlich konnte ich meine Mutter nicht mehr hören, und ich hatte ihn in Verdacht, dass er sich im Schrank unter der Treppe eingeschlossen hatte. Ich hatte mich schon immer gefragt, warum man diesen Schrank von innen verriegeln konnte.
»Das weiß ich, Dad.«
»Dann sieh zu, dass du nach Hause kommst, und wir sehen dann schon, wann wir uns sehen«, sagte er. »Ich liebe dich, mein Engel.«
»Ich liebe dich auch.« Er sollte nicht mitbekommen, dass ich weinte, aber die Tränen ließen sich kaum stoppen. »Kümmere dich um Mum.«
»Mache ich«, sagte er und legte auf.
Alex hatte zu lachen aufgehört und schob seinen Kopf durch die Badezimmertür. »Alles o.k. mit dir?«, fragte er. »Müssen wir nach London zurück? Ich kann dich nach Hause begleiten, weißt du.«
»Wir fahren nach Hause«, nickte ich und wischte mir die Tränen ab, »aber nicht dieses zu Hause, unser zu Hause.«
»Bist du dir da sicher?«
Ich legte den Hörer auf. »Ganz sicher.«