Drei
Drei Stunden später, nach einem hastig vereinbarten Termin zum Haareschneiden und mehreren Eimern Eistee, fand ich den letzten Schattenplatz im Central Park und hatte bereits die Hälfte meines Rough Guide von Paris mithilfe von Lonely Planet und Wallpaper zusammengestellt. Eine Adresse nach der anderen kritzelte ich in mein Notizbuch, aber irgendwie schweifte ich im Geiste immer wieder ab und sah Alex und mich an den Ufern der Seine entlangschlendern, er im schwarzen Polohemd mit einer Zigarette in der Hand und ich in einem ganz reizenden gestreiften Sweatkleid und Baskenmütze. Manchmal hatte ich ein Baguette unter den Arm geklemmt. Manchmal verlagerte ich uns auch nach oben auf den Eiffelturm. Es war alles wie bei Tom und Katie. Nur weniger gruselig.
Ein irritierendes Piepen riss mich aus meiner Tagträumerei. Ich schaute mich um, aber seltsamerweise starrten alle mich an. Es dauerte etwas, bis mir klar wurde, dass mein Telefon klingelte, und dann noch ein paar Sekunden, bis ich es mit rotem Gesicht aus den Tiefen meiner Tasche gekramt hatte.
»Hallo?« Endlich ging ich dran.
»Spricht dort Angela Clark? Hier ist Esme von der Zeitschrift Belle. Sie haben morgen um neun Uhr ein Treffen mit Donna Gregory. Bitte finden Sie sich um acht Uhr fünfundvierzig an der Rezeption von Belle ein.« Esme von Belle war die Sachlichkeit in Person.
»Äh, o.k? Wird Emilia an dem Treffen teilnehmen?«
»Wie bitte?« Esme von Belle klang verwirrt.
»Emilia. Bob, Mr. Spencer meinte, sie wolle mich unbedingt kennenlernen«, erklärte ich und kam mir dabei ein wenig idiotisch vor.
»Oh. Nein.« Esme von Belle bestätigte mir, dass ich tatsächlich eine Idiotin war. »Benötigen Sie eine Beschreibung für den Weg zu den Büroräumen?«
»Nein, ich arbeite ja für The Look, also …«
»Na wunderbar. Dann sehen wir uns also um acht Uhr fünfundvierzig«, bestätigte Esme von Belle. Und legte auf.
Ich legte mich ins Gras zurück und blickte hinauf in den Sonnenschein. Darüber musste ich mal gründlich nachdenken. Meinen Blog zu schreiben war etwas Großartiges, aber für Belle schreiben? Es könnte was Tolles werden … Alle lasen Belle, es war eine globale Zeitschrift mit großer Auflage. Und Mary hatte bestimmt nur deshalb getobt, weil sie sauer war, dass Bob sie übergangen hatte. Das ergab Sinn, sie sah es nicht gern, wenn ihre Autorinnen von größeren Publikationen abgeworben wurden. Sie war die Onlineredakteurin von TheLook.com. Bei Belle ging es um gedruckte Seiten in einem der größten monatlich erscheinenden Modemagazine der Welt. Doch hier stand viel zu viel auf dem Spiel, als dass ich mir Sorgen um Marys angekratztes Ego machen konnte, denn das führte mich nirgendwo hin. Sie hatte mir damals das Blaue vom Himmel versprochen, wenn ich das James-Jacobs-Interview gut hinkriegte, aber bis jetzt hatte ich nicht viel davon zu sehen bekommen. Wo war meine monatliche Kolumne in The Look? Man »diskutierte« noch darüber. Aber das hier war eine Chance, die ich nicht vermasseln würde.
Mein Telefon lag von meinem kurzen Gespräch mit Esme noch immer heiß in meiner Hand, als es vibrierend wieder zum Leben erweckt wurde.
Hast du dir die Haare schneiden lassen? Sah letzte Woche scheiße aus xox
Das war natürlich Jenny. Ich warf einen Blick auf meine Uhr wegen der Zeitdifferenz zwischen L. A. und New York: fünf Uhr nachmittags hier, zwei Uhr dort. Wie ich sie kannte, war sie sicher gerade erst aufgewacht. Meine beste Freundin und erste Mitbewohnerin in New York, Jenny Lopez, lebte seit fünf Monaten in L. A., und den vielen Fotos nach zu schließen, mit denen sie mich bombardierte, schien es ihr richtig gut zu gehen. Wenn man darunter Partys mit Popstars, Herumhängen mit Promianwärterinnen und rund um die Uhr Shoppen auf fremde Kreditkarte verstand, das dann als »Arbeit« bezeichnet wurde. Und ich war mir ziemlich sicher, dass sie es genoss. Und obwohl ich meine Arbeit in der Wohnung ohne Hurricane Jenny weitaus besser hinkriegte, vermisste ich sie doch fürchterlich. Und New York kam mir trotz der ständigen Textnachrichten, E-Mails, Anrufe und jetzt auch Videoanrufe, seit sie sich vor ein paar Monaten ihren neuen Laptop gekauft hat, ohne sie manchmal leer vor. Und die America’s-Next-Top-Model-Marathons waren ohne sie und ihr Gekreische »Nun lach doch mal richtig, Schlampe!« nicht dasselbe. Doch es war gut zu wissen, dass ich mich immer auf sie verlassen konnte, wenn es um die großen Fragen ging. Ich rollte mich auf den Bauch und tippte rasch eine Antwort.
JA. Weißt du was? Ich fliege nächste Woche mit Alex nach Paris!
Während ich wartete, überprüfte ich, ob mein Rock auch tatsächlich meinen Slip bedeckte. Den Anstand zu wahren ist nicht leicht, wenn dein Rock schon vorher kaum über dein Höschen reicht.
SUPER. Und Paris? In echt? Euer ›Wir-ziehen-zusammen-Trip‹?
Ich machte eine Pause, um mein frisch geschnittenes Haar zusammenzubinden. Keine kaputten Spitzen mehr zu haben war großartig, aber es war viel zu heiß, um meinen langen Bob in den Nacken hängen zu lassen.
Nur ein Trip. Reden später x
Nachdem es mir gelungen war, eine relativ unbequeme Lage im Schatten einzunehmen, bei der mein Höschen nicht blitzte, jedenfalls im Moment nicht, ging ich mein Telefonbuch durch, um jemanden zu suchen, mit dem ich reden konnte, ohne mich vom Fleck rühren zu müssen.
Hey Lou, bist du schon auf? A x
Bevor ich noch eine weitere Nachricht senden konnte, summte mein Telefon erneut, und Louisas Name tauchte auf dem Display auf.
»Hey!«, begrüßte ich sie freudig. »Wie geht es dir? Was machst du gerade?«
»Hallo du«, erwiderte Louisa bei knackender Verbindung. »Ich war gerade online. Ich suche einen Catering Service für unseren Hochzeitstag.«
Louisa war schon immer meine beste Freundin gewesen, aber ich hatte sie nicht mehr gesehen, seit ich versehentlich ihren Hochzeitsempfang ruiniert hatte. Natürlich hatte ich nicht vorgehabt, ihrem frisch Angetrauten die Hand zu brechen, war aber ein wenig durch den Wind, weil ich gerade erst meinen Verlobten mit irgendeinem Flittchen in flagranti auf dem Rücksitz unseres Range Rovers ertappt hatte. Also nahm ich Reißaus und ging gleich am nächsten Tag nach New York. Wer würde das nicht tun?
»O mein Gott, ist das schon wieder ein Jahr her?« Ich konnte es kaum glauben. Es war so viel passiert. »Das ist aber schnell rumgegangen.«
»Es ist ein Jahr her«, sagte Louisa. »Was meinst du, bist du bereit für eine Wiederholungsvorstellung?«
»Womöglich noch nicht. Macht ihr eine Party?«
»Äh ja. Tim fand«, sie schien ihre Worte mit Bedacht zu wählen, »es wäre ganz nett, ein richtiges Fest zu feiern, nachdem letztes Jahr … die Fetzen geflogen sind.«
»Genau.« Ich presste meine Lippen ganz fest zusammen. »Nun, dann sag ihm, er braucht sich meinetwegen keine Sorgen zu machen. Ich werde nämlich in Paris sein.«
»Du gehst nach Paris?«, kreischte Lou. »Aber das ist doch gleich um die Ecke! Du musst zur Party kommen.«
Ich hielt mir das Telefon weg vom Ohr. »Ach, das würde ich ja gern«, heute war offenbar Lügen angesagt, »aber Alex spielt auf einem Festival, und ich werde darüber in Belle berichten, also werde ich keine Chance haben wegzukommen.«
»Wirklich? Belle? Wow! Aber wenn du schon mal in der Nähe bist, dann musst du uns doch auch besuchen kommen. Was hat deine Mum dazu gesagt?«
»Meine Mum hat gar nichts dazu gesagt, weil ich es ihr noch nicht erzählt habe«, erwiderte ich rasch. »Und ich weiß auch noch nicht, ob ich das tun werde, also sag ihr bitte nichts, wenn du sie siehst.«
»Ach, Angela.« Gleich würde ich eine Lektion zu hören bekommen. »Ich weiß ja, dass deine Mum schwierig ist, aber sie vermisst dich.«
»Wenn du jetzt meine Mum ins Spiel bringst, dann ist das der falsche Weg, mich über Gewissensbisse zu einem Besuch in der Heimat zu ködern. Das solltest ausgerechnet du am besten wissen«, warnte ich sie. »Außerdem sitzen sie und Dad mir ohnehin dauernd auf der Pelle, seit sie diesen Internetkurs belegt haben. Wusstest du, dass sie Skype haben?«
»Hab ich gehört. Sie erzählt meiner Mum ständig davon, wenn sie sich im Supermarkt treffen. Dann spielt Alex also auf einem Festival? Ich kann es immer noch nicht fassen, dass du mit einem Rockstar liiert bist. Das muss doch umwerfend sein! Hat er irgendwelche Songs über dich geschrieben?«
»Er ist kein Rockstar«, lautete meine offizielle Antwort. »Er ist nur Alex.«
Und dabei wurde ich von Kopf bis Fuß rot. Ganz stimmte das nicht. Ich fand es fantastisch, dass Alex in einer Band spielte. Ich fand es toll, ihn auf der Bühne schwitzen zu sehen und Songs singen zu hören, die er für mich geschrieben hat. Ich liebte es, wenn ein ganzer Raum voller Hipster, die sich übers Kinn strichen, und rehäugiger Mädchen mit ironischen Tattoos in Secondhand-Klamotten nur Augen für ihn hatten, während er genau das tat, was ihm wichtig war und worin er gut war. Aber ganz ehrlich, er war nicht Tag ein, Tag aus der Rockgott. Sondern vielmehr der, der, ohne mich zu fragen, Teebeutel für seine Wohnung kaufte, obwohl er Tee hasste, der immer Gossip Girl für mich auf Video hatte, selbst die Wiederholungen, und der sich, wann immer er an einem neuen Song schrieb, mit einer Diet Dr Pepper im Schneidersitz mit seiner Akustikgitarre auf den Wohnzimmerboden setzte, die Stirnfransen über den Augen und seine Zunge im Mundwinkel. Das Alltagsleben war nicht Rock’n’Roll, aber es war irgendwie wunderbar.
»Ja, richtig«, sagte Louisa völlig verständnislos. »Dir gefällt es.«
»Ja, schon.« Ich wollte Lou nichts vormachen. »Er hat mich sogar gefragt, ob ich bei ihm einziehen möchte.«
»Wow, tatsächlich? So schnell?«
»Das ist nicht übereilt. Ich kenne ihn schon seit einem Jahr«, sagte ich, überrascht, mal auf jemanden zu treffen, der nicht begeisterte Luftsprünge machte und gleichzeitig die Koffer für mich packte.
»Aber so ganz glatt lief es doch auch nicht, oder, Liebes?«, warf Louisa diplomatisch ein. »Ich möchte nur nicht, dass du was überstürzt. Du bist doch nicht etwa einsam da drüben? Du weißt, du kannst immer zurückkommen. Jederzeit. Nur ein Wort, und ich richte dein Zimmer für dich her.«
»Nun beruhige dich doch Louisa, alles ist bestens.« Die Gute. »Mir geht es gut, und ich überstürze nichts. Ganz ehrlich. Ich habe mich noch nicht einmal entschieden, ob ich bei ihm einziehen werde.«
»Ich mache mir doch nur Sorgen um dich, das ist alles«, erwiderte Lou. »Also wenn du schon nicht zu mir kommen kannst, was hältst du davon, wenn ich zu dir komme? Wirst du einen freien Nachmittag haben, damit wir essen gehen können oder so? Bist du am Samstag dort?«
»Das ist eine ganz fantastische Idee«, sagte ich und war plötzlich ganz aus dem Häuschen, Louisa zu treffen, und zwar nicht anlässlich von Hochzeit/Hochzeitsempfang/Hochzeitstag, was auch immer, jedenfalls ohne das Hochzeitsumfeld. »Das wäre wunderbar.«
»Hervorragend!«, kreischte Louisa. »Lass uns ganz kitschig unter dem Eiffelturm oder so treffen.«
»Ja, o.k.« Ich lächelte. Das war etwas, was auch von Jenny hätte kommen können. Gott verhüte, dass die beiden jemals zur selben Zeit am selben Ort sind. Dann würde womöglich das Universum implodieren. »Ich kann nicht glauben, dass das schon ein Jahr her ist.«
»Ich weiß«, sagte Louisa. »Ich glaube, bevor du mich verlassen hast, waren vier Tage die längste Phase, ohne dich zu sehen.«
»Bestimmt nicht mehr als drei.« Es überraschte mich, wie aufgewühlt ich plötzlich war. Noch nie hatte ich solches Heimweh verspürt, seit ich hier in New York war. Aber wann hätte ich dazu auch Zeit gehabt? »Ich texte dir, sobald ich in Paris bin. Ich hab dich lieb, Lou.«
»Ich dich auch, Liebes. Ich kann’s gar nicht erwarten, dich zu sehen, und vielleicht zeigst du mir ja deinen Nichtrockstar, damit ich meine Zustimmung geben kann?«
Ich zog eine Schnute. »Ja, wenn er nicht probt oder so, dann ja, auf jeden Fall.« War das nicht komisch, dass mir ein wenig mulmig bei der Vorstellung war, meine zwei Leben miteinander zu vermischen? »Wir reden später.«
Ich legte auf und lächelte. Louisa zu sehen war wunderbar. Nach Paris zu fahren war wunderbar. Für Belle zu schreiben war wunderbar. Die Reise mit Alex zu machen war wunderbar. Wie sich herausstellte, war dies doch nicht der schlimmste aller Mittwoche.
Nachdem ich noch eine Stunde im Park gefaulenzt hatte, arbeitete sich die Sonne schließlich doch zu meinem sicheren kleinen Fleck vor und zwang mich, den Heimweg anzutreten. Meine vorübergehende Mitbewohnerin Vanessa war bei der Arbeit in The Union, und so war es in der Wohnung unheimlich still und unglaublich heiß. Ich schaltete das ins Wohnzimmerfenster eingebaute Klimagerät an und holte ein Eis am Stiel aus dem Gefrierschrank, bevor ich mich an meinen Laptop setzte. Welche Offenbarung würden Angelas Abenteuer heute bringen? Ich loggte mich bei TheLook.com ein und klickte mich über diverse Links durch zu meinem Blog.
Als ich vor fast einem Jahr zu schreiben begann, fand ich es sehr schwer, meine Gedanken richtig zu formulieren. Damit meine ich nicht so sehr das Schreiben selbst, sondern die kniffelige Aufgabe, über das zu schreiben, was in meinem Leben passierte, um es dann online für alle Welt sichtbar zu machen. Jetzt aber fand ich es richtig kathartisch. Das Schreiben meines Blogs half mir dabei, einen klaren Kopf zu bekommen und Erkenntnisse zu gewinnen. Inzwischen hatte ich auch gelernt, was man sicher ins Netz stellen konnte und was nicht, wie man Ereignisse kommunizierte, ohne jemandes Geheimnisse zu verraten, und so bekam ich meistens freundliche Kommentare und E-Mails, jedenfalls hatte noch keiner draußen die Verfolgung mit Fackeln und Mistgabeln aufgenommen. Und offensichtlich war meiner Mutter die Lektüre seit einiger Zeit langweilig geworden. Gott sei Dank. Ich begann das leere weiße Rechteck zu füllen.
Angelas Abenteuer: O la la
Heute war einer jener Tage, an denen alles auf einmal passiert. Mein Freund bat mich, nächste Woche mit ihm nach Paris zu fliegen, ich hatte ein überaus wichtiges Arbeitstreffen, das zu einem absolut aufregenden neuen Projekt geführt hat, ich vereinbarte ein Treffen mit meiner besten Freundin aus London, oh, und dann war ich auch noch Haareschneiden. Ein erfüllter Tag also.
Aber abgesehen von dem höchst dramatischen Ereignis, das mich anderthalb Zentimeter meines Bobs kostete, was gibt es Aufregenderes als Paris? Natürlich fragt man sich, wie ich so blöd sein konnte, mir das bisher entgehen zu lassen, zumal in den fünf Jahren, in denen ich in London lebte, aber Juhu, ich komme jetzt hin! Und – seufz – mit meinem Jungen. Und das ist doch wohl die einzig richtige Art, Paris zu erleben, oder? Romantische Spaziergänge am linken Seineufer, Händchenhalten vor Notre Dame, zum Sonnenuntergang auf den Eiffelturm. Die Garderobe bereitet mir ein wenig Kopfzerbrechen – meine Erfahrung mit Paris beschränkt sich mehr oder weniger auf Ein süßer Fratz, Blondinen bevorzugt und das letzte Drittel von Der Teufel trägt Prada. Also entweder schwarze Rollkragen und Dreiviertelhose oder Haute Couture. Hm. Und Scheiße.
Während ich nun versuche, meine Modekrise zu lösen, lasst es mich bitte wissen, falls ihr mit Paris-Ratschlägen dienen könnt – ich brauche eure Tipps, wo ich meine chocolat chaud schlürfen und die besten baguettes bekommen kann. Und Shoppingvorschläge jeder Art sind natürlich willkommen. Mein Herz sagt Chanel, aber mein Kopf und mein Kreditkartenlimit sagen Flohmarkt. Schickt mir doch einfach zu beidem was, dann werde ich es schon herausfinden, wenn ich erst mal dort bin …
Ehe ich mir wirklich Gedanken wegen meiner Reise nach Paris machen konnte, musste ich erst noch mein Meeting bei Belle überstehen. Da wäre es vielleicht eine gute Idee, für diesen Insider-Führer einen Entwurf zu verfassen. Vielleicht wäre es auch eine gute Idee, Pariser Insider zu finden. Und vielleicht wäre es auch eine gute Idee, drei Stunden über meinen Laptop gebeugt zu verbringen und das Internet zu durchforsten. Nachdem ich mich an den gängigen Stellen wie Time Out Paris, Gridskipper und Citysearch kundig gemacht hatte, begann ich mit meiner Zusammenfassung. Und mehrere Stunden später hatte ich dann auch, na ja, ich hatte was. Weiterer Inspiration wegen tauschte ich mein zerknautschtes Sommerkleid gegen eine gestreifte Weste von Splendid und Hello-Kitty-Schlüpfer. Es war einfach zu heiß für was anderes. Mit einer Cola light aus dem Kühlschrank fläzte ich mich aufs Sofa und suchte nach der Fernbedienung. Fünf Minuten E! konnten doch wohl nicht schaden. Danach würde ich recherchieren. Oder eine halbe Stunde. Danach noch eine Episode von America’s Next Top Model. Zwei Stunden später warf ich einen schuldbewussten Blick auf den schlafenden Bildschirm meines Laptops und versuchte mich davon zu überzeugen, dass man sich auch zu viel vorbereiten konnte. Und wandte mich wieder dem Fernseher zu. Schon erstaunlich, was ich mir alles einreden kann.
Am nächsten Morgen fiel es mir nicht ganz so leicht zu glauben, dass zu gut vorbereitet zu sein ein Fehler war. Da ich entschlossen war, nicht in meine übliche Falle zu tappen, nämlich so spät aufzuwachen, dass ich mein Gesicht gerade noch mit einem Kajalstift verschönern konnte, stand ich zeitig und fröhlich auf, wusch mir das Haar, sorgte für ein Make-up, das sich sehen lassen konnte, und wählte mein für Belle passendstes Ensemble aus: ein schlichtes blaues Etuikleid, zu dem Jenny mich in einem Secondhand-Laden in Williamsburg überredet hatte. Ich sagte mir, dass selbst die schlimmsten Modezicken Mühe hätten, daran was auszusetzen. Es konnte nicht der falsche Designer sein, weil es gar keinen Designer gab. Außerdem machte ich mir gar keine Gedanken darüber, was diese Mädchen von meinem Kleidungsstil hielten. Darauf kam es nicht an. Ich schrieb schließlich keinen Artikel über die heißesten Modetrends von den Laufstegen Mailands, oder? Außerdem überlegte ich, während ich meine Zusammenfassung in meine absolut protzige hellblaue Marc-Jacobs-Handtasche steckte (also gut, ich war ein wenig besorgt), hatte ich Alles Betty! gesehen, Der Teufel trägt Prada gelesen und gesehen, und war mir sicher, dass die Mädchen dort unmöglich so sein konnten. Gut, Marys schnippischer Kommentar sagte was anderes, aber da ich sie nur in Jeans und Converse kannte, ging ich davon aus, dass sie einfach keine Modetypen mochte. Es würde bestimmt gut gehen. Außerdem stand Bob hinter mir. Mein guter Freund Bob. Bobbity bob bob. O Mist, ich bin verrückt geworden.
Nach einem letzten Blick in den Spiegel strich ich mein Haar glatt und wischte auch noch die winzigsten verirrten Mascarateilchen ab. Ich schaffte das. Immerhin schrieb ich seit einem Jahr für The Look. Ich hatte meine eigene Kolumne in der UK-Ausgabe der Zeitschrift. Ich hatte in Gottes Namen einen Filmstar interviewt. Sie wollten von mir doch nur einen Touristenführer für Paris. Eine Stadt, die kaum jemand, der diese Zeitschrift las, je besuchen würde. Das würde hervorragend laufen. Und leicht dazu.
»Wenn Sie glauben, das auf die leichte Schulter nehmen zu können, irren Sie sich«, blaffte Donna Gregory mich an und zerknüllte meinen Entwurf in ihrer Hand. »Belle-Leserinnen interessieren sich nicht für derart offensichtlich touristischen Schnickschnack wie einen Besuch des Eiffelturms oder eine Bootsfahrt auf der Seine. Unsere Leser möchten die exklusivsten, modischsten, geheimsten Seiten von Paris kennenlernen. Und nicht, wo es nach Gridskipper die besten crêpes gibt oder was Time Out für die schönsten zehn Parks hält.«
Ich wurde immer kleiner auf meinem Stuhl. Soweit ich das beurteilen konnte, hatte Donna während der zehn Minuten, die ich mich bereits in ihrem Büro aufhielt, noch keinen einzigen Blick auf meine Zusammenfassung geworfen und schaffte es doch recht angemessen, sie Wort für Wort zu zerpflücken.
»Warum glauben Sie, für Belle schreiben zu sollen, Angela?«, fragte sie.
»Nun, ich …«
»Ich meine ganz ernsthaft, was veranlasst Sie zu glauben, dass Sie …«, sie hielt inne und streckte ihre Hand nach mir aus, wedelte dann damit auf und ab, um zu verdeutlichen, dass ihre Kritik bis hinunter zum kleinen Zeh alles an mir einschloss, »… dass es Ihnen erlaubt sein sollte, für Belle zu schreiben?«
Schweigen. Erlaubt? Warum sollte es mir erlaubt sein?
»Ich warte auf eine Antwort«, sagte Donna.
Ich war mit meiner Weisheit am Ende.
Donna war nicht sehr nett.
»Na ja, ich habe zwar bisher noch kein Reisefeature verfasst, aber ich schreibe in meinem Blog über alles Mögliche und habe Anfang des Jahres James Jacobs für Icon interviewt. Deshalb meine ich, dass ich dafür geeignet bin«, sagte ich. Sehr hastig. Mein ganzes Selbstvertrauen hatte sich in Luft aufgelöst, und ich wollte nur noch raus aus diesem Büro und mein Gesicht in einem Topf voller Schokobrownies vergraben und heulen wie das fette, talentlose Wesen, das vorgab, ein Mensch zu sein, für das Donna mich eindeutig hielt.
Der Gerechtigkeit halber muss gesagt werden, dass Donna Gregory nicht die umwerfend glamouröse Drachenlady war, die man hinter dem Kulturredakteur-Schreibtisch einer monatlichen Modezeitschrift erwarten würde. Sie war erstens schon mal nicht groß, ihr glänzendes (o.k., stark glänzendes) braunes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und sie trug tatsächlich Jeans. Sehr enge und vermutlich auch sehr teure Jeans, aber dennoch Jeans. Doch obwohl sie nicht Prada trug, bewies sie dennoch, dass sie der Teufel war. Von dem Moment an, als ich durch ihre Tür trat, hatte sie mich mehr oder weniger nur beschimpft.
Erstens wurde mir kein Kaffee zugebilligt, weil ich angeblich aussah, als hätte ich meinen Nachtschlaf nötig, dann wurde mir auch noch Wasser verweigert, für den Fall, dass ich sonst die Toilette aufsuchen müsste, die aber dem Personal vorbehalten war. Dahinter stand die Andeutung, dass ich weder jetzt und auch nicht in Zukunft jemals zum Personal gehören würde. Aber sie empfahl mir, außerhalb ihres Büros doch mindestens zwei Liter zu trinken, weil ich wirklich sehr viel älter aussähe als dreißig. Als ich daraufhin erwähnte, erst siebenundzwanzig zu sein, hielt sie tatsächlich kurz die Luft an und die Hand an den Mund.
Dieses Biest.
»Hm, ich habe von Ihrem Artikel bei Icon gehört«, sagte sie, während sie ein paar ausgedruckte E-Mails durchblätterte. »Dann sind Sie also das Mädchen, das James Jacobs schwul gemacht hat, oder?«
»Verflu – ich meine nein, nicht wirklich.« Eigentlich wusste ich inzwischen nicht mehr, warum ich in diesem Büro saß. Auf gar keinen Fall würde ich diesen Job kriegen. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass er schon schwul war, bevor ich ihn und seinen Freund dabei erwischte, wie sie auf einer öffentlichen Toilette loslegten. Aber wissen wird man das wohl nie. Gut möglich, dass meine extreme Dehydration ihn umgepolt hat.«
Donna hielt einen ganz kurzen Moment inne und nahm mich erneut in Augenschein.
»Dieses Kleid, ich kann es keinem Designer zuordnen. Woher ist das?«, fragte sie.
»Ich habe es vom Beacon’s Closet, es ist secondhand«, sagte ich ein klein wenig stolz. Secondhand war doch cool, oder?
»Genau.« Seufzend lehnte sie sich in ihrem Sessel zurück und streckte sich, bis ihr winziges, bauchfreies Alexander-Wang-T-Shirt ein paar Zentimeter ihres festen, durchtrainierten Bauches freigab. Dass es von Alexander Wang war, wusste ich, weil sie sich alle Mühe gab, es mir gleich nach meinem Eintritt unter die Nase zu reiben. »Natürlich ist es secondhand. Und Ihr Freund spielt in einer Band?«
»Alex? Ja?« Ich war verwirrt. Was nicht schwer war, wie ich der Gerechtigkeit halber zugeben muss. Ich wollte jedoch nicht, dass sie daran Gefallen fand. »Aber ich verstehe nicht recht, was das mit dem Reisebericht zu tun hat?«
»Das hat alles damit zu tun, Angela«, sagte Donna und näherte sich mir über den Schreibtisch hinweg. »Ich werde mir Mühe geben, so freundlich wie möglich zu sein, wenn ich Ihnen das erkläre, aber wie man es auch dreht und wendet, es schönzureden bringt uns nicht weiter. Sie sind wirklich nicht die Person, die ich als Autorin für Belle haben möchte.«
»Im Ernst?«
Das war jetzt nur noch peinlich. Wie sehr wollte ich das eigentlich? O ja, wirklich sehr.
»Im Ernst.« Donna nickte, weil ihr mein Sarkasmus entging. »Aber Mr. Spencer ist ganz versessen darauf, dass wir Sie für irgendwas einsetzen. Verstehen Sie mich nicht falsch, es ist nicht so, dass Menschen, die Secondhand-Mode tragen, keinen Platz bei Belle finden, es ist nur … für gewöhnlich würden sie nicht für mich schreiben. Ein Mädchen aus der Kunstredaktion trug einmal dieses umwerfende Diane-von-Fürstenberg-Original. Auf einer Verkleidungsparty. Das ist übrigens eine schöne Tasche.«
»Danke, war ein Geschenk.« Instinktiv streichelte ich liebevoll das weiche blaue Leder und vergaß für einen Moment die Flutwelle der Beleidigungen, die auf mich zu rauschte.
»Was auch sonst.« Donna schien fast erleichtert zu sein. Als wäre die Vorstellung, ich könnte mir selbst eine Marc-Jacobs Tasche kaufen, das Ende der Welt. »Im Grunde genommen sehe ich nur eine Möglichkeit, wie das funktionieren könnte. Wir müssen den Auftrag splitten. Ich werde jemand anderen für den High-End-Aspekt von Paris dransetzen, ein Feature über die Haute Couture, die salons, die Fünf-Sterne-Hotels, und Sie, das spleenige ›Vintage‹-Mädchen mit dem Freund in einer Band, können dann die andere Seite liefern. Die, oh, ich weiß auch nicht, coole und hippe Seite von Paris?«
»Ach Gott, ich bin gar nicht cool«, erwiderte ich viel zu schnell. »Ich habe keine Tattoos. Ich lebe nicht mal in Brooklyn. Ich bin nur sehr, sehr britisch.«
»Oh. Also, das könnte ein Problem werden.« Donna lehnte sich wieder zurück. »Denn entweder Sie liefern mir die besten Flohmärkte, Secondhand-Läden, Nachtcafés und Tanzklubs von Paris, oder Sie liefern mir gar nichts.«
Aua.
Nachdem ich Donnas Anweisungen, wie genau sie sich meine Arbeit vorstellte – spleenig, aber nicht zu spleenig, trendig, aber nicht zu trendig, underground, aber nicht zu schmutzig, einfach sehr, sehr Belle – noch eine weitere Stunde über mich hatte ergehen lassen, wurde ich schließlich um keinen Deut klüger, aber um einiges angeschlagener aus dem Büro entlassen. Komplimente habe ich zwar keine bekommen, dafür aber den Job. Das war doch wohl gut?
Es gab nur eine Person, mit der ich darüber sprechen konnte. Und diese Person ging nie ihre entgangenen Anrufe durch.
»Jetzt geh schon dran, Jenny«, sagte ich leise, während ich mich in den Schatten des nächsten Wolkenkratzers flüchtete und diesem bis zur 42nd Street folgte.
»Angiebaby, es ist erst halb acht«, kam es knisternd aus L. A. »Geht’s mit dir zu Ende?«
»Nein, hör zu, ich hatte gerade dieses Meeting bei Belle …«, begann ich.
»Du lebst noch, ich bin erst vor zwei Stunden heimgekommen, ich rufe dich später an«, fiel Jenny mir ins Wort.
»Nein! Jenny hör zu, ich habe ganz umwerfende Neuigkeiten. Hast du gehört, was ich gesagt habe? Ich habe einen Job, ich schreibe für das Belle-Magazin.« Ich hoffte, dass die Nennung einer ihrer Stilbibeln sie fünf Minuten länger in der Leitung verweilen ließ. »Belle. Deine Lieblingszeitschrift. B-E-L-L-E.«
»Nichts für ungut, Angie«, Jenny gähnte sich wach, »aber was willst du denn für Belle schreiben?«
»Schon gut.« Ich zog einen Schmollmund. Was war nur an mir so absolut un-Belle-mäßig? Ich hatte mich im letzten Jahr doch richtig gut gemacht. Nun, Jenny hatte einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, aber ich konnte jetzt selbst Eyeliner auftragen und so. Ich schaffte es, einen ganzen Abend lang auf richtigen Absätzen durchzuhalten, wenn ich meine zusammengerollten Ballettpumps in meiner Tasche dabeihatte. »Sie wollen, dass ich einen Insider-Führer für Paris schreibe. Man wird ein anderes Mädchen dransetzen, das sich um die protzige Spitzenmode kümmert, es wird, wie hat Donna gemeint, äh Balmain? Stimmt das? Und du weißt schon, Chanel und so abdecken, und ich soll über das coole Undergroundzeug berichten. Aber dazu könnte ich deine Hilfe gut gebrauchen, ich möchte, dass das gut wird. Kennst du irgendwelche Stilisten in Paris? Jemanden, der ein paar coole Secondhand-Läden und Flohmärkte kennt?«
»Balmain? Oh …«, hauchte sie.
»Pass auf, Jenny«, sagte ich langsam. Ich hätte es besser wissen müssen und nicht über Designer mit ihr reden dürfen. »Kennst du jemanden, der mir in Paris helfen könnte?«
»Ach, Schätzchen, du weißt, ich finde, dass du es wirklich weit gebracht hast«, blaffte Jenny zurück, »aber du bist so was von noch nicht reif, um einen Modeartikel zu schreiben, einen Modeartikel über Paris fürs Belle-Magazin.«
Wenigstens konnte ich mir jetzt ihrer Aufmerksamkeit sicher sein.
»Erstens, danke für dein Vertrauen in mich, und zweitens ist es kein Modebericht, sondern ein Reisebericht«, sagte ich. »Ich muss einfach über ein paar Secondhand-Läden und ein paar Cafés schreiben und dann über Alex’ Gig berichten. Das wird schon werden. Ich dachte, du freust dich für mich?«
»Aber es ist Belle, Angie. Und ich möchte nicht, dass du blöd dastehst«, beteuerte Jenny. »Weil, du weißt doch, Liebes, einige Leute wissen, dass du mich kennst.«
»Dein Glaube an mich ist wirklich unglaublich aufbauend, aber ich verspreche dir, dich in keiner Weise bloßzustellen. Vor allem dann nicht, wenn du mir meine blöden Frage beantwortest und mir sagst, ob du irgendwelche Stilisten in Paris kennst.«
»Wird Belle dich ausstaffieren? Haben sie dir eine Liste der Adressen mitgegeben, wo du hingehen sollst?« Sie ging einfach nicht auf mich ein. »Wird es in diesem Feature auch irgendwelche Fotos von dir geben?«
»Nein, sie stylen mich nicht, und sie haben mir auch keine Adressen mitgegeben – die zu finden ist mein Job –, und natürlich werden sie mich nicht auf diesen verdammten Fotos haben wollen.«
»Nun, das ist ja wenigstens ein Gutes.« Jenny seufzte hörbar erleichtert. Diese Kuh. »O.k., ich glaube, ich weiß da was. Ich werde für dich ein paar Klamotten zusammenstellen, o.k.? Wann fliegst du?«
Endlich waren wir bei dem Teil des Gesprächs angelangt, der mir nicht verhasst war. Es war wirklich beschissen, dass Jenny tausende von Kilometern weit weg in L. A. war. Aber dass Jenny eine Stilistin war, die Zugang zu Unmengen wunderschöner kostenloser Klamotten hatte, war nicht im Geringsten beschissen. »Am Montag, aber mach dir wirklich nicht allzu viele Umstände, du musst das nicht tun.« Doch verdammt, das musste sie schon.
»Schätzchen, ich kümmere mich um dich. Hautenge Jeans, verwischter Eyeliner, Baskenmütze, das habe ich hinter mir. Ich werde einfach ein bisschen an der Schraube drehen. Du wirst eine Belle-Hipster sein. Eine Bipster.« Ihr Lachen kippte um in Gähnen. »Ganz im Ernst, ich kann nicht mehr. Schreib mir die Details per E-Mail, was du machst, wenn du dort bist, dann schick ich dir was rüber. Und ich bin mir sicher, dass ich jemanden in Paris kenne. Ich bleib am Ball.«
»Wirklich?«
»Also wirklich, Angie, das ist doch absolut das, was ich mache. Und jetzt lass mich wieder schlafen.«
»Dann musst du absolut schlafen.« Ich lachte. »Du hast mich absolut L. A.isiert, Lopez.«
»Genau. Geh zum Teufel, Clark.« Sie gähnte wieder. »Geh und kauf dir eine Belle, damit sich die Einschüchterung noch ein bisschen aufbauen kann. Ich hab dich lieb.«
»Ich dich auch.«
Jedenfalls dachte ich, dass ich Jenny liebte, bis am nächsten Morgen drei riesige DHL-Pakete eintrafen. Es sollte sich herausstellen, dass ich wirklich nicht wusste, was Liebe war. Liebe war ein Paket, das mit »Abend«, eins, das mit »Tag« und eins, das mit »Ich weiß nicht, wann zum Teufel du die anziehen kannst, aber sie sind umwerfend« beschriftet war. Ich stürzte mich darauf unter Einsatz meiner Schlüssel, um das Verpackungsband aufzuschlitzen, und zog dann ein schöneres Outfit nach dem anderen heraus. In jedem Paket lag ein großer Umschlag mit handgeschriebenen (nun gekritzelten) Notizen sowie hervorragenden Skizzen, wie jedes Ensemble zusammenpasste. Die Joe-Jeans mit den flachen Schuhen von Tory Burch, dazu den Elizabeth-and-James-Blazer. Der DVF-Spielanzug aus königsblauer Seide zu den YSL-Keilabsatzschuhen. Das mit Perlen besetzte Balenciaga-Flapperkleid mit den Giuseppe-Zanotti-Plateauschuhen. Die Miu-Miu-Tasche zu allem. Nachdem ich mich anderthalb Stunden lang verkleidet hatte, hockte ich in einem blassblauen Seidenkleid von Lanvin wuschig, rot im Gesicht und wie eine Irre grinsend auf der Sofalehne. Ganz unten in dem Paket mit der »Ich-weiß-nicht«-Aufschrift lag unter den Kenneth-Jay-Lane-Anhängern und Armreifen eine Notiz von Jenny.
Ich weiß, du hast gesagt, ich solle mir nicht allzu große Umstände machen, aber du fährst nach Paris. Für Belle. Und die Leute wissen, dass du mich kennst, also werde ich dich nicht Hals über Kopf in die Modehauptstadt der Welt von Kopf bis Fuß in American Apparel gekleidet ziehen lassen – erzähl mir nicht, du hast es nicht angehabt, als du das Paket aufgemacht hast, selbst wenn du inzwischen den Narciso-Rodriguez-Overall anhast …
Ich hielt inne und ließ meinen Blick über sämtliche Klamotten auf dem Sofa schweifen, da sollte ein Overall dabei sein? Hatte ich den übersehen?
– weil der nämlich fantastisch ist. Du wirst das ganz hervorragend machen, Angie, ich bin so stolz auf dich. Nimm die Klamotten, trag sie, führ sie aus, mach Fotos und BRING SIE ZURÜCK, vorzugsweise ganz und ohne mit Ketchup bekleckert.
Alles Liebe, JLo xxx
Es war erst acht Uhr in L. A., vier Stunden, bevor es mir offiziell erlaubt war, Jenny anzurufen, ohne auf ihrer ›Du-bist-für-mich-gestorben‹-Liste zu landen. Drei Kreuzchen, und du warst weg vom Fenster, und ich hatte bereits eins, weil sie mich früher mal dabei erwischt hatte, wie ich den Kragen einer von ihr geliehenen Thomas-Pink-Bluse mit dem Haarglätter bügelte. Offenbar hatte sie das noch nie getan. Was ich ihr aber nicht glaubte. Allerdings glaube ich schon, dass die gesammelten Kleidungsstücke, die im Moment als sehr teurer Überwurf meines Sofas dienten, a) umwerfend, b) mehr wert als meine Wohnung waren und mich c) zur bestgekleideten Schnäppchenjägerin von ganz Paris machten.
Ich tippte eine SMS, um zu bestätigen, dass die Pakete angekommen waren und ich die Kleider so lieben und wertschätzen würde, als wären sie mein erstgeborenes Kind. Das ich nur zu gern für dieses Zeug hier eintauschen würde. Ich hielt mir eine blassblaue Stella-McCartney-Hose mit weitem Bein an meine Brust und starrte auf die Beute. Es war wahrhaftig einer der schönsten Anblicke, der mir je vergönnt gewesen war. Wie sollte Paris da noch mithalten können?