Fünf
»Jesus, Angela. Ist alles OK mit dir?«
»Ja, schlaf weiter«, murmelte ich und schob die vertraute Stimme von mir weg. Ich war so müde, warum konnte er mich nicht schlafen lassen?
»Ah, Mist. Holt mal jemand ein Glas Wasser?« Eine Hand strich mir das Haar aus der Stirn, und als ich mich zur Seite rollen wollte, kam mir in den Sinn, dass das Bett plötzlich doch sehr unbequem war. Und kalt. Und eher wie ein Fußboden.
»Keine Sorge, das gehört fast schon zu ihren Gewohnheiten«, sagte Alex und half mir erst auf die Füße, dann auf einen Stuhl und gab mir dann ein großes Glas Wasser. »Wenigstens hat sie sich diesmal nicht übergeben.«
»Ich bin nicht betrunken«, murmelte ich ins Glas und trank gierig das Wasser. »Ich habe einen Jetlag. Und bin gestresst.«
»Hi übrigens.« Alex sah mich mit einem verhaltenen Lächeln an und strich mir ein krauses Haarbüschel hinters Ohr. »Bienvenue à Paris.«
Ich schaute mich um, aber die geheimnisvolle Blondine, die meiner verschwommenen Erinnerung nach auf dem Schoß meines Liebsten gesessen hatte, war verschwunden. Hatte ich sie mir nur eingebildet?
»Äh?«
»Willkommen in Paris.« Sein Lächeln wurde zu einem Stirnrunzeln, und seine grünen Augen sahen mich forschend an. »Angela, ist alles in Ordnung mit dir? Brauchst du einen Arzt?«
»Nein.« Ich atmete tief durch. Keine Blondine weit und breit. »Mir geht es gut, ich habe nur eine ganz üble Reise hinter mir.«
»Schlimme Turbulenzen?«, erkundigte sich eine amerikanische Stimme über den Tisch hinweg. Weil ich mich zu rasch umdrehte, schoss mir ein heftiger Schmerz in die Schläfe, doch ich sah Graham und Craig, Alex’ Kumpels von der Band, mir über den Tisch hinweg zuwinken.
»Toller Auftritt.« Graham lächelte mir aufmunternd zu und schob seine Brille zurück auf den Nasensattel. »Du hättest auch anrufen können, wenn du uns lieber nicht sehen willst.«
»Mir hat es gefallen«, ergänzte Craig. »Aber, äh, nichts für ungut, Angie, umziehen hättest du dich schon können. Wir sind hier in Paris, weißt du, nicht in Brooklyn.«
»Danke, Craig.«
Er war nicht annähernd so höflich wie Graham, aber er war auch nicht so schwul wie dieser. Eine Sekunde lang hatte ich fast vergessen, dass ich nun seit fast zwanzig Stunden dieselben Klamotten anhatte. Und mehr oder weniger genauso lang nicht mehr in einen Spiegel geschaut hatte. Dies jedoch freiwillig und nicht, weil alle meine Habseligkeiten »gezielt gesprengt« worden waren.
»Du siehst super aus.« Alex strafte Craig mit einem finsteren Blick ab. »Aber hattest du keine Zeit zum Umziehen? Nicht, dass du das nötig hättest. Du siehst toll aus.« Den Kopf auf meine Hände gestützt, erzählte ich die ganze traurige Geschichte, wobei ich nur innehielt, damit Craig sich an den passenden Stellen schlapplachen und mich schließlich fragen konnte, ob ich etwa keine Unterwäsche mehr hatte.
Graham meinte kopfschüttelnd: »Das ist ja fürchterlich, Angela. Aber jetzt hast du wenigstens die Chance, deine Garderobe in Paris zu ersetzen, oder? Was für ein Ort, um bis zur Besinnungslosigkeit zu shoppen.«
»Nur dass mein Kreditkartenlimit seit L. A. leider noch immer ausgereizt ist.« Ich versuchte zu lächeln.
»Wir werden schon eine Lösung finden, es tut mir unheimlich leid, dass du dich mit all diesem Mist herumschlagen musstest.« Alex legte seinen Arm um meine Schultern und zog meinen Kopf an sich heran. Er roch so gut. Was mich daran erinnerte, dass ich es vermutlich nicht tat. »Entspann dich jetzt. Du bist hier. In Paris. Es wird fantastisch werden.«
»Ja.« Ich schloss die Augen und seufzte. »Du hast wohl recht. Ein paar Kleider werde ich aber trotzdem brauchen. Ich habe wirklich keine. Aber offen gestanden weiß ich auch nicht, wann ich dazu Zeit haben werde. Morgen soll ich diese Assistentin der französischen Belle treffen, aber ich habe auch meine sämtlichen Notizen verloren.«
Alle Notizen, meine Kamera, mein Ladegerät für den Laptop. Alles, was ich mir an Recherchematerial gründlich und sorgfältig aus anderen Zeitschriften und Reiseführern zusammengeklaut hatte, einfach weg. Alles, was in meinem Koffer war – einfach weg. Ich spürte eine weitere Trauerwelle auf mich zurollen, und nichts vermochte sie aufzuhalten. Während Alex meinen Arm streichelte und Craig zuhörte, der die Speisekarte vorlas, brannten schon die ersten Tränen. Was sollte ich nur ohne meine Kleider eine Woche lang in Paris anstellen? Ohne meine Schuhe? Ohne meinen Haarglätter? Mein Magen sackte durch den Stuhl und klatschte auf den Boden. Und, o mein Gott, Jennys Kleider! Wie sollte ich Jenny klarmachen, dass ich alles verloren habe, was sie mir geliehen hat? Ich wollte sie nicht in Schwierigkeiten bringen, aber ich konnte doch unmöglich bei Balmain vorbeischauen und mir ein mit Pailletten besetztes Minikleid für dreitausend Dollar kaufen, um das zu ersetzen, das ich gar nicht hätte mitnehmen dürfen, wie ich eigentlich von Anfang an gewusst hatte.
»Du wirst auf jeden Fall einen hübschen Fummel fürs Festival brauchen, Angie«, sagte Craig. »Du solltest die Mädchen der anderen Bands sehen, o Mann, sind die heiß.«
»Wirklich?«, fragte ich und schaute zur Bestätigung Graham an.
Er zuckte mit den Achseln und nickte. »Wird wohl stimmen, aber wie soll ich das beurteilen?«
Wunderbar. Wieder etwas, weswegen ich mir Sorgen machen musste.
»Mach dir nichts draus, Ange. Du bist vermutlich genauso heiß«, meinte Craig versöhnlich. Er kaute nicht weiter und schielte mich an. »In deinen normalen Klamotten. Und vermutlich willst du dir auch etwas Make-up oder so besorgen.«
»Wer ist gestorben und hat dich zur neuen Tyra Banks gemacht?«, warf Graham rasch ein. »Achte nicht auf ihn. Du siehst großartig aus.«
»Ja, das tust du. Wirklich wunderschön.« Mein reizender Freund küsste mich auf den Kopf und stand auf. »Ich muss nur mal schnell auf die Toilette. Möchtest du bleiben und was essen oder lieber ins Hotel gehen?«
»Hotel«, sagte ich nickend. »Ich würde am liebsten einen Monat lang schlafen.«
Alex nickte und tauchte ab in die Menge. Selbst von hinten sah er umwerfend aus. Mag sein, dass ich ein wenig voreingenommen oder/und ein bisschen verrückt bin, aber er sah wirklich aus jedem Blickwinkel heiß aus. Seine leicht latschige Gestalt in einem dunklen Raum aus sieben Metern Entfernung auszumachen gehörte zu meinen hervorragendsten Fähigkeiten.
»Tut mir leid, dass ich mich so blöd verhalten habe.« Dabei sah ich Craig und Graham gequält an und trank noch einen Schluck Wasser. »Ich möchte nicht die Yoko spielen und euch den Abend versauen, aber ich muss wirklich ins Bett.«
»Dafür haben wir vollstes Verständnis, sieh zu, dass du deinen Schönheitsschlaf bekommst.« Graham wischte alle meine Bedenken beiseite. Und ich versagte mir einen Kommentar zu seiner Bemerkung über den Schönheitsschlaf. »Ich bin mir sicher, dass Alex froh ist, nicht mit uns abhängen zu müssen. Craig hat uns beide während des Flugs total genervt.«
»Ja, er wird sicher nicht mit seinen besten Freunden abhängen wollen, wenn sein bestes Mädchen hier ist.« Craig trank sein Bier und lächelte. Ich wollte verlegen sein, musste aber kichern. Schäm dich, Angela. »Und weißt du, er steht wieder mal völlig unter dem Pantoffel.«
»Wieder mal?«, hakte ich nach.
»Wie damals, als er mit dieser französischen Tussi ging«, meinte Craig nickend, ohne auf Grahams warnendes Hüsteln zu reagieren. Was ironischerweise mir allerdings nicht entging.
»Französische Tussi?« Das war eine neue Information für mich. Warum wusste ich nichts von einer französischen Tussi? »Alex hat nie was von einer französischen Tu – ich meine einem französischen Mädchen erwähnt.«
»So?« Craig reagierte noch immer nicht auf Graham. »Ja, sie war …«
»Vor langer Zeit. Ist schon eine Ewigkeit her«, unterbrach er ihn. »Er ist absolut darüber hinweg. Absolut.«
»War er in New York mit ihr zusammen?«, fragte ich und ließ meinen Blick zwischen den beiden verdächtig dreinblickenden Jungs hin- und herwandern.
»Ja gut …«, setzte Craig an.
»Ja. Und es war vor langer Zeit«, sagte Graham eindringlich. »Weshalb er sie auch nie erwähnt hat. Da bin ich mir ganz sicher.«
Mir schwammen noch tausend Fragen durch den Kopf, aber ehe ich einen zusammenhängenden Satz formulieren konnte, kam Alex mit zwei großen Gläsern Rotwein wieder.
»Ich weiß, dass du gern gehen möchtest, aber Sam an der Bar hat mir die gerade gegeben, und da konnte ich doch nicht nein sagen – möchtest du?«, fragte Alex und rutschte auf den Stuhl neben mir. »Ich dachte mir, ein Drink könnte dir vielleicht guttun.«
Einerseits war dies eindeutig eine schlechte Idee. Ich war erschöpft, war bereits einmal ohnmächtig geworden und brauchte am nächsten Morgen einen klaren Kopf. Andererseits konnte ich wirklich, wirklich gut einen Drink vertragen. Aber wiederum andererseits war es keine gute Idee.
»Sam von der Bar?«, fragte ich nickend und streckte meine Hand dem Glas entgegen. Ein Schlückchen konnte doch nicht schaden.
»Ist ein alter Freund von mir«, erklärte er und schob mir das Glas zu. »Nur dieses eine Glas, dann brechen wir auf.«
Ich nickte und lehnte mich an Alex und betrachtete die Spiegelwände, die hohen Decken und unzähligen Flaschenregale hinter der Theke. Es erinnerte mich an das Balthazar in New York, nur dass dieser Laden hier nicht auf französisches Bistro getrimmt, sondern tatsächlich eins war. Sämtliche Tische waren belegt, und ich verstand nur zu gut, warum die Jungs dieses Café ausgesucht hatten. Es gab hier keinen einzigen hässlichen Menschen, und ich war mir ziemlich sicher, dass unter den Gästen auch keine Bankmanager oder Erdkundelehrer waren. So was Gewöhnliches traf man hier nicht an. Hierher also kamen die Schönen von Paris. Merken. Auch fürs Belle-Magazin.
Die Jungs unterhielten sich über die Band, und ich hielt mein Weinglas ganz ruhig in der Hand und konzentrierte mich darauf, nichts über mein T-Shirt zu schütten. Die Aussichten, dass ich es noch mal würde tragen müssen, standen gut. Oh, es war schon lange her, seit ich das letzte Mal was in einem Hotelwaschbecken hatte waschen müssen – wo war meine Mutter, wenn ich sie brauchte? Obwohl zu ihrem Erfahrungsbereich nur Unterhosen in einem mallorcinischen Bidet und nicht American Apparel mit V-Ausschnitt in einem Pariser Boutiquehotel gehörten. Kommt aber aufs Gleiche hinaus, oder? Vielleicht lag es mir im Blut.
Mit dem Glas in der Hand beobachtete ich die Leute, weil ich mich nicht aufraffen konnte, den ersten Schluck zu trinken. Ganz automatisch fiel mein Blick auf die vier Mädchen, die von einem der hinteren Tische aufstanden und anfingen, um eine erhöht angebrachte DJ-Nische zu tanzen. Sie lachten fröhlich und schoben sich gegenseitig auf die Tanzfläche, und wie alle anderen im Café bestanden auch sie nur aus hautengen Jeans und langen wirren Haaren, die sie über eine Schulter hängen ließen, und so viel Eyeliner im Gesicht, dass er für vierzehn Tage gereicht hätte. Mein Gott, sahen die umwerfend aus. In meinem ganzen Leben hatte ich mich noch nie vom gleichen Geschlecht angezogen gefühlt, aber selbst ich wäre gern hinübergegangen, um an ihren wunderschönen Gesichtern zu lecken.
Die größte der vier, eine schlanke Blondine mit einer Debbie-Harry-Mähne weißblonder Haare, die ihr in die hellblauen Augen hingen, schaute zu unserem Tisch herüber und verschwand dann durch eine Tür in der rückwärtigen Wand. War sie das? War dies das Mädchen, das ich glaubte, mit Alex gesehen zu haben, als ich eintrat? Ich betrachtete die Jungs an meinem Tisch. Sie sprachen über ihr Set für das sonntägliche Festival und ignorierten mich bis auf ein gelegentliches Armstreicheln von Alex oder einem lüsternen Grinsen von Craig völlig. Wenn Alex in seine Arbeit eintauchte, ließ er sich durch nichts mehr ablenken. Ich hätte mich nackt ausziehen und eine Pussycat Dolls Show abziehen können – er hätte nicht mit der Wimper gezuckt. Womöglich wäre es so weit in sein Unterbewusstsein vorgedrungen, dass er eine ironische Coverversion mit auf die Setliste gesetzt hätte, aber damit hätte es sich dann auch.
Da ich seit, verdammt, ich wusste nicht mehr seit wie viel Stunden nichts gegessen hatte, breitete der Wein sich sehr schnell in meinem Körper aus. Ich stahl mich davon und folgte dem blonden Mädchen durch die Tür im hinteren Teil des Raumes in der Hoffnung, dass sie zu den Toiletten führte. Nicht dass ich es auf falsche Gedanken bringen wollte, so betrunken war ich nun auch wieder nicht. Obwohl Alex’ Aufmerksamkeit durch ein Rumgemache zwischen Mädchen sicherlich wieder geweckt würde. Mann, manchmal fragte ich mich schon, ob ich nicht zu viel Zeit mit Jenny verbracht hatte. Das blonde Mädchen wusch sich die Hände, als ich durch die Tür kam.
»Oh, Entschuldigung«, sagte ich, als ich sie anrempelte. Von Angesicht zu Angesicht sah sie wirklich umwerfend aus. Ihr herzförmiges Gesicht schien außer den Eyelinerstrichen bar jedes Make-ups zu sein, und ihr platinfarbenes Haar war nicht mal gefärbt. Und ich war überhaupt nicht eifersüchtig. »Ich suche nur das Klo.«
»Pardon?«, erwiderte sie.
Genau. Ich war in Frankreich. Hatte ich völlig vergessen.
»Äh, la toilette?«, fragte ich und deutete auf das, was ganz eindeutig die Toilette war.
»Oui?« Sie betrachtete mich nicht mit derselben Anerkennung, die ich ihr zollte. Im Gegenteil, ihr Blick verriet, dass sie mich womöglich für ein wenig beschränkt hielt. Was ich ihr nicht verdenken konnte.
Ich stieß einen Lacher aus, ein von einer Handbewegung begleitetes ›Oh-ich-bin-so-doof‹-Schnauben, und schloss mich in der Toilette ein. Also gut, ich scheiterte also schon daran, mich verständlich zu machen, wenn ich auch nur aufs Klo wollte, aber das sollte kein Problem darstellen, oder? Alex sprach praktisch fließend Französisch, und wenn ich nicht mit ihm zusammen war, hatte ich meine französische Belle-Assistentin. Sie konnte sich sicherlich nichts Schöneres vorstellen, als mir ihre Zeit zu widmen und für mich zu dolmetschen. Und mich den ganzen Tag durch die Stadt zu führen. Diese supertrendige, junge, scharf aussehende französische Modetussi hatte sicher ihre Freude daran. O Mist.
Als ich aus der Toilette kam, war das umwerfende Mädchen verschwunden. Zögernd näherte ich mich dem Spiegel, jeglichen Vergleich und Kontrast vermeidend. Mein hellbrauner Bob sah dank des Haarschnitts von letzter Woche besser aus, erinnerte aber ohne Haarglätter, einer halbwegs anständigen Spülung oder einer Packung an ein flauschiges Vogelnest. Plattgedrückt an den Haarwurzeln, bauschig an den Spitzen. Meine Haut war trocken und leicht grau vom Flug, aber meine Nase und meine Stirn glänzten so stark, dass ich eine Spiegelung meiner Spiegelung darin sehen konnte. Wieso war meine Haut trocken und gleichzeitig glänzend? Weil mir nichts Besseres einfiel, zog ich den V-Ausschnitt meines T-Shirts so weit herunter, bis ich fast den Rand meines BHs sehen konnte. Zugegeben, ich hatte schon bessere Einfälle, aber ein Mädchen musste mit den Waffen kämpfen, die es hatte, und bis ich in einer Drogerie oder sonst wo gewesen war und mir was für meine Haare gekauft hatte, waren meine 75C alles, was ich hatte.
Aber sie würden nicht ausreichen.
Als ich mir meinen Weg durch das Gewimmel in der Bar bahnte, kämpfte ich gegen den Mief in meinem Kopf an und versuchte unseren Tisch wiederzufinden, konnte ihn aber nicht entdecken. Was daran lag, dass der von den drei sehr amerikanischen Jungs belegte Tisch, die ich suchte, nun von vier sehr französischen Mädchen verdeckt war. Besonders auffallend das schöne Mädchen von der Toilette, das sich in Ermangelung von genügend Stühlen auf den Boden gekniet hatte. Zu Alex’ Füßen. Ich blieb einen Augenblick lang stehen und ließ das Ganze auf mich wirken. Sie griff nach seiner Hand, hielt ihren Kopf schief und lächelte ihn an. Alex lächelte nicht. Er entzog ihr stattdessen seine Hand, holte sein Telefon aus seiner Jeanstasche, stand auf und ging zur Tür. Und die Straße hinunter. Das Mädchen lachte, sagte was Lustiges zu den anderen, sprang auf und belegte Alex’ Platz. Ich schaute nach unten und atmete tief durch. Was sollte das alles? War sie das Mädchen, das ich beim Hereinkommen gesehen hatte? Und warum war neben dem Telefon eine Nummer des Centre Anti-Poison angebracht? Nun, sie würde eine Nummer für den Rettungsdienst benötigen, wenn sie meinen Freund noch einmal anfasste. Nicht, dass sie das könnte, da er sich völlig in Luft aufgelöst hatte.
Vorsichtig schlenderte ich zurück an den Tisch und stellte mich linkisch neben Graham und wartete darauf, dass er mich bemerkte. Doch er und Craig kicherten und plauderten mit den anderen Französinnen. Sprachen außer mir denn alle Französisch? Die Blonde starrte mich von Alex’ Sitzplatz aus an und griff dann nach seinem Weinglas und nahm einen kräftigen Schluck. Ich konnte nur staunen.
»Marie«, sagte sie zu der Brünetten zu ihrer Linken. Die, wie ich erleichtert feststellte, wenigstens Make-up trug. Obwohl auch sie hassenswert gut aussah. »C’est la fille qui etait dans les toilettes.«
Selbst mir mit meinem schäbigen »je voudrais un croque monsieur, s’il vous plaît?« Mittelstufenfranzösisch gelang es, »fille« als Mädchen und »toilettes« als Toilette zu erkennen (mir entging nämlich nichts). Sie redete tatsächlich von mir. Die anderen drei Mädchen verstummten, stellten ihre Drinks ab, drehten sich um und starrten mich an. Ich fühlte mich wie damals in der neunten Klasse, als ich an der Tür des Gemeinschaftsraums anklopfte und die Primaner bat, ihre schrecklich laute Stereoanlage leiser zu drehen, weil wir im Musikraum unsere Blockflöten nicht hören konnten.
»O Mist, Angie, ich habe völlig vergessen, dass du da bist«, sagte Craig, als er gemerkt hatte, dass alle zu reden aufgehört hatten. »Das sind Marie, Lise, Jacqueline und Solène.«
Die Blondine zog eine Braue hoch und musterte mich von oben bis unten. »Angela?«, fragte sie Craig. Er nickte in sein frisches Bier hinein.
»Solène«, sagte sie lächelnd und streckte eine Hand aus, machte aber keinerlei Anstalten aufzustehen oder den Stuhl meines Freundes zu verlassen. »Wir spielen auf dem Festival. Bitte, ist das dein Wein?«
Ich wollte sie wirklich hassen, aber ihr Lächeln schien echt zu sein, und ihre Stimme mit dem starken Akzent löste in mir den Wunsch aus, mich zusammenzurollen und meinen Kopf in ihren Schoß zu legen. Unbeholfen ließ ich mir mein eigenes Glas Wein anreichen, wobei ich bemüht locker neben Grahams Stuhl stehen blieb und ungeduldig darauf wartete, dass er aufstand und ihn mir anbot. Tat er aber nicht. So ein Gentleman.
»Dann spielst du also in einer Band?«, fragte ich.
»Oui«, erwiderte sie. »Ja, wir nennen uns Stereo. Wir haben schon oft mit Stills zusammen gespielt.« Der Rest der Mädchen lachte wieder, und die Brünette gab Craig unter dem Tisch einen Fußtritt. Nun, es sah ganz danach aus, als hätten sie schon mal zusammen gespielt.
»Aha.« Ich nickte und wusste nicht, was ich sonst hätte sagen sollen.
»Du spielst nicht in einer Band«, sagte Solène. Ich war mir nicht sicher, ob das eine Frage war oder nicht. »Du bist Autorin?«
»Ja«, sagte ich, erleichtert, dass sie zu wissen schien, wer ich war. »Journalistin.«
»Du schreibst über die Band?« Sie lächelte wieder. »Über das Festival?«
Oh. Sie dachte, ich sei Musikjournalistin. War das gut?
»Angela ist mit Alex hier«, mischte Graham sich ein. »Sie ist mit uns hier.«
»Dann bist du also keine Autorin?« Solène war verwirrt. »Du arbeitest für die Band?«
»Nein, ich bin Autorin, ich schreibe für das Belle-Magazin in Amerika«, erklärte ich, ohne herablassend wirken zu wollen. Ich wollte nicht, dass sie mich für eine Idiotin hielt. »Ich bin Autorin, aber ich schreibe nicht über das Festival.«
»Tut mir leid, ich verstehe nicht«, sagte sie mit leicht gerunzelter Stirn, wobei ihre winzige Stupsnase sich ebenfalls kräuselte. »Du schreibst über Alex für ein Modemagazin?«
»Nein.« Ich versuchte, mir eine einfachere Erklärung einfallen zu lassen. Warum sprach ich kein Französisch, ich kam mir so unbeholfen vor. Warum hatte ich stattdessen Geschichte gewählt? Im Moment interessierte es keinen, dass ich bestens über die industrielle Revolution Bescheid wusste. Sonst auch nicht. Und noch nie im Leben hatte ich mir so sehr die Anerkennung eines anderen Mädchens gewünscht. Solène war schön und spielte in einer Band und war so cool. Ich wollte darauf wetten, dass sie auch Gitarre spielen konnte. Sie war wie eine blonde Carla Bruni, nur ohne den kleinen zwielichtigen Präsidentenehemann. Jenny würde sie hassen.
Bevor ich einen neuen Erklärungsversuch unternehmen konnte, wurden wir alle von einem Klopfen am Fenster unterbrochen. Es war Alex. Er sah mich an und dann den Tisch, bevor er mir bedeutete, nach draußen zu kommen.
»Verzeihung, bin gleich wieder da«, sagte ich, stellte mein Weinglas ab, nahm meine Tasche und stolperte aus dem Café, so schnell mich meine Jetlagbeine trugen.
»Hey, tut mir leid, ich musste einen Anruf entgegennehmen«, sagte er, nahm mich an der Hand und führte mich weg vom Café.
»Gut«, sagte ich, drehte mich um und warf einen Blick auf die Szene im Fenster. Craig sabberte praktisch über Marie, während Graham Lise und Jacqueline was von seinem iPod vorspielte, wobei sie im Takt mit den Köpfen nickten. Solène drehte sich in ihrem Stuhl, in Alex’ Stuhl herum und winkte mir zu. Ich winkte zurück, bevor Alex mich um die Ecke zog. »Wir gehen?«
Er nickte und ging einfach weiter.
»Ist alles o.k. mit dir?«, fragte ich und blieb mitten auf der Straße stehen, um ihn zu zwingen stehenzubleiben. »Was war mit dem Anruf?«
»Sorry, nur Bandsachen. Die Plattenfirma verlangt, dass wir morgen Abend spielen, und ich bin es so leid.« Er schlang seine Arme um meine Schultern und lächelte mich matt an. »Ich hatte gehofft, wir könnten morgen Abend was zusammen unternehmen. Es gibt so vieles, was ich dir zeigen möchte.«
»Das wird schon, wir haben unendlich Zeit.« Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen, zog mich jedoch sofort wieder zurück und starrte Alex an. »Hast du geraucht?«
»Zählt es, wenn ich bei jemand anderem mal gezogen habe?«, fragte er kleinlaut. »Tut mir leid, ich war so gestresst. Am Telefon.«
Ich versuchte keine Grimasse zu schneiden. Für mich war es unglaublich verstörend, dass mir ein Kuss körperliche Übelkeit bereitete.
»Ich wusste nicht, dass du rauchst«, sagte ich und kam mir komisch vor. War es seltsam, dass ich nichts davon wusste?
»Ich rauche nicht«, sagte er und fischte in seiner Tasche nach einem Kaugummi. »Also gibt es auch nichts mitzuteilen.«
»Gut, es ist nämlich widerlich«, sagte ich, nahm seine Hand und drückte sie. »Und du putzt dir vor dem Zubettgehen die Zähne.«
»Was immer dich anmacht«, sagte er und erwiderte den Händedruck.