Neun
»O mein Gott.« Ich stand vor Virginies großem Spiegel und traute meinen Augen kaum. »Bin das wirklich ich?«
»Aber ja!« Virginie klatschte in die Hände, bevor sie mit einem Pinsel und Rouge auf mich zukam. »Gefällt es Ihnen?«
Ich wusste, dass es mir nicht guttat, mit offenem Mund mein Spiegelbild anzustarren, aber so hübsch hatte ich mich schon eine Ewigkeit nicht mehr gefühlt. Nachdem Virginie sich zwei Tage lang mein Gejammer darüber angehört hatte, wie sehr ich meine Haarglätter vermisste, war mir, als hätte sie meine Gebete erhört, als sie ein Glätteisen von GHD hervorzauberte. Aber waren meine Haare jetzt glatt? Nein. Sie fielen in weichen Ringellöckchen auf meine Schultern herab, und mein Make-up war besser, als es je gewesen war. Virginie mochte zwar modisch keine Instanz sein, aber sie hatte ein göttliches Händchen für den Umgang mit Eyeliner und mehr Make-up als Bloomingdales.
»Und das Kleid ist ebenfalls perfekt.« Sie trat zurück und war endlich mit ihrer Arbeit zufrieden. »Und die blauen Schuhe, sie passen zur Katze. Das sollte so sein.«
»Ich komme mir wirklich komisch vor, sie mir auszuleihen«, sagte ich und drehte mich vor dem Spiegel, um die lippenstiftroten Schuhsohlen zu sehen. Sie vertraute mir ihre Louboutins an? Die Person, die das zuletzt gemacht hatte, musste es bereuen. »Also wirklich, die sind so teuer.«
»Ich habe sie geschenkt bekommen und trage sie nie.« Virginie wischte alle Bedenken beiseite, indem sie auf ihre Converse zeigte. »Es wäre mir eine Freude, wenn Sie die tragen. Sie sind perfekt.«
»Aber ich werde sie kaputtmachen, das weiß ich.« Ich war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, diese wunderschönen Schuhe zu tragen, und der Vorstellung, dass ich mit einem dieser hinreißenden lederbezogenen Absätze kaum, nachdem ich Virginies Wohnung verlassen hatte, in einer Pflasterritze stecken blieb.
»Ich bestehe darauf.« Virginie wandte sich vom Spiegel ab und wollte sich auf keine Diskussion einlassen. »Sie sind so viel hübscher als Solène.« Ich zog ein Gesicht, das nicht annähernd hübsch genug für mein Outfit war. »Nicht ganz, aber ich habe das Gefühl, es wenigstens mit ihr aufnehmen zu können.«
»Sie wollen mit ihr kämpfen?«, fragte Virginie und runzelte besorgt die Stirn. Das sollte sie lieber bleiben lassen, bevor sie noch Botox brauchte.
»Ich glaube nicht, dass es dazu kommen wird«, sagte ich und griff nach meiner Tasche. Obwohl ich insgeheim zugeben musste, dass sich der Gedanke, sie, wenn es hart auf hart käme, zu schlagen (fest und ins Gesicht), bei mir eingeschlichen hatte. Mochte Solène auch eine viel schärfere Frau sein als ich und cooler dazu und außerdem eine vielfältige französische Geschichte mit meinem Ex haben, so ging ich doch davon aus, ihr im Kampf überlegen zu sein. Sie war nur ein Zweiglein, während ich ein kräftiger Ast war. Wenn nicht sogar ein ganzer Stamm.
»So, ich bin fertig.« Ich gab mir Mühe, meine Finger von meiner Frisur fernzuhalten, aus Angst, die Locken könnten mir ausfallen, bevor ich Virginies winzige Wohnung verlassen hatte. »Wollen Sie wirklich nicht mitkommen?«
»Nein, ich kann nicht.« Mit krauser Stirn wickelte sie die lange Schnur um ihr ausgekühltes Glätteisen. »Ich habe versprochen ein paar Freunde zu treffen. Aber Sie und Alex werden sich sicherlich gut amüsieren.«
»Drücken Sie die Daumen.« Zum fünfzehnten Mal an diesem Abend kontrollierte ich mein Telefon. Nichts. »Ich habe ihm gesagt, dass wir uns gleich im Hotel treffen können, bin mir aber nicht sicher, ob mein Telefon richtig funktioniert.«
Das wäre durchaus möglich. Doch die Chance, dass einfach keiner mit mir sprechen wollte, war deutlich größer. Nicht nur Alex bestrafte mich mit Schweigen, auch Jenny hatte meine E-Mail noch nicht beantwortet. O.k., vielleicht war mit meinem Telefon doch alles in Ordnung, nur meine Freunde zeigten mir die kalte Schulter.
»Er wird sich melden und Ihnen sagen, dass Sie wunderschön aussehen«, prophezeite Virginie mir. »Möchten Sie ihn von meinem Telefon aus anrufen?«, bot sie mir an und hielt mir einen abgegriffenen alten Hörer hin.
»Ist schon in Ordnung. Ich werde dort nur kurz vorbeischauen, Hallo sagen und dann wieder gehen.« Zur Vergewisserung warf ich noch einen letzten Blick in den Spiegel, drehte mich dann um und ließ mich von Virginie mit ihrem Parfüm besprühen. »OK, ich bin fertig.«
»Das Taxi wartet unten«, sagte sie, »für die Métro sehen Sie viel zu gut aus.«
»Sie sind ein Engel.« Ich nahm meine Tasche und ging zur Tür. »Ich bin Ihnen so dankbar.«
»Nicht doch«, sagte sie und scheuchte mich durch die Tür. »Ich bin so glücklich, mit Ihnen zu arbeiten, Angela. Das ist eine Ehre für mich.«
O Gott. Und das, obwohl ich dachte, ich hätte ihr das gerade abgewöhnt.
Ich blieb volle acht Minuten vor Solènes Wohnung stehen, bevor ich hineinging. Trotz aller Überzeugungsversuche Virginies, dass ich großartig aussah (und während der zehn Minuten im Taxi hatte ich auch wirklich daran geglaubt), wollte ich nicht hineingehen. Wie dumm von mir, warum stand ich überhaupt hier vor der Wohnung der Exfreundin meines Freundes, wenn ich stattdessen mit ihm zum Abendessen gehen könnte? Und warum trug ich ein Kleid mit einer riesigen Katze vorne drauf? Ich hielt mein Telefon in der Hand mit einer neuen Textnachricht für Alex, die nur noch abgeschickt werden musste, da hörte ich plötzlich jemand meinen Namen über die Straße rufen.
»Hey, Angela!« Craig und Graham kamen auf mich zu.
Mist. Vorbei war’s mit meinen Plänen, mich davonzustehlen.
»Hi.« Ich winkte halbherzig und steckte mein Telefon zurück in meine Tasche. Die ramponierte braune Marc-Jacobs-Tasche passte nicht so recht zu meinem neuen grauen Seidenminikleid oder den babyblauen Louboutins, die ich mir von Virginie ausgeliehen hatte, aber mit Marc an meiner Seite fühlte ich mich immer gleich besser.
»Triffst du dich mit Alex?«, fragte Craig und warf sich ein Pfefferminzbonbon in den Mund, bevor er auch uns anderen eins anbot. »Ich glaube nämlich nicht, dass er hier aufkreuzt.«
»Äh, nein.« Ich nahm ein Bonbon und überlegte mir eine für Jungs verständliche Erklärung, warum ich auf die Party der Ex meines Freundes ging, die ich erst zweimal in meinem Leben gesehen hatte. Und das ohne besagten Freund. »Er schafft es nicht, aber ich habe Solène zugesagt, dass ich komme, und deshalb dachte ich, ich sage mal Hallo.«
Craig sah mich verdutzt an.
»Und dann gehe ich wieder.«
Graham sah mich ungläubig an.
»Und treffe mich mit Alex.«
»Solène hat dich eingeladen?«, hakte Graham nach und zeigte dabei auf die Eingangstür. »Zur Party?«
»Ja.« Ich nickte und sprang in den Lift. Craig drückte auf den Knopf für das Penthouse. Was auch sonst? »Wir haben uns gestern Abend unterhalten, und sie hat gemeint, ich und Alex sollten kommen und ihren Freund kennenlernen, aber ihr kennt ja Alex, er hatte keine Lust.«
»Was mich nicht überrascht«, spottete Craig. »Dem geht es nämlich nicht …«
»Mensch, Craig, ich glaube nicht, dass Angela das jetzt hören will«, fiel Graham ihm ins Wort, als der Lift sich summend ankündigte und die Türen aufglitten. »Du siehst übrigens großartig aus. Cooles Kleid«, ergänzte er, griff nach meiner Hand und drückte sie.
Der reizende Graham.
»Ja, ist das da, ist das da vorne eine Katze?«, fragte Craig und musterte mich von Kopf bis Fuß. »Und ich bin mir ziemlich sicher, das schon mal gesagt zu haben, aber tolle Beine, Angie. Mörderbeine.«
Der nicht ganz so reizende Craig.
»Bist du dir sicher, dass du nicht doch abhauen willst? Um mit Alex abzuhängen?«, fragte Graham. »Ich meine, ein bisschen komisch ist die Situation ja schon.«
»Ich weiß, dass sie und Alex mal was miteinander hatten.« Ich gab mir Mühe, nicht an diesen Worten zu ersticken. »Aber sie war gestern Abend wirklich nett, und weißt du, sie hat einen neuen Freund und so. Und irgendwie hatte ich auch Lust auf Party.«
»Sie hat dir gesagt, dass sie was miteinander hatten?«, fragte Craig. »Wow.«
»Sie hatten nichts miteinander?« Ich sah Graham an, dessen Gesichtsausdruck keine Deutung zuließ. »Was war es denn dann?«
Ehe einer von ihnen antworten konnte, öffneten sich die Lifttüren direkt in Solènes Wohnung. Und die war umwerfend. Ich blieb Graham auf den Fersen, als ich den Lift verließ. Beim Anblick des wandhohen Fensters vor mir klappte mir die Kinnlade herunter. Es war genau wie bei Alex, nur dass ich statt der schartigen Silhouette von Manhattan ganz Paris vor mir liegen sah. Ich hatte keine Ahnung, wie viele Stockwerke wir hochgefahren waren, aber die Aussicht war unglaublich. Hinter den weißen und grauen Häusern entlang den Ufern der Seine zog schon die Dämmerung herauf, aber noch leuchtete der Himmel blau über den breiten Boulevards und grünen Plätzen. Die Seine lag direkt unter uns, der Louvre fast gegenüber, und wenn ich flussabwärts schaute, konnte ich Notre Dame sehen. Die Wohnungseinrichtung war fast genauso beeindruckend. An den kühlen weißen Wänden hingen Schwarz-Weiß-Fotos, einige von Solène und der Band, einige von anderen Bands, die ich aber nicht alle kannte. Keins von Alex.
Eine Wendeltreppe in der Mitte des Raumes führte hoch zu einer Galerie, auf der zwei große cremefarbene Polstersofas beiderseits eines niedrigen Couchtisches standen. Der Hauptteil des Wohnzimmers wurde von drei dazu passenden Sofas beherrscht, auf denen bereits einige schöne Menschen saßen. Die ich schon viel zu lang angestarrt hatte.
»Möchtest du was trinken, Angela?«, fragte Graham, der mich weiterhin an der Hand hielt. »Komm mit.«
Er zog mich in den von Menschen wimmelnden Raum und bahnte sich mit mir seinen Weg. Jede verfügbare Oberfläche war mit halbleeren Drinks, Plastikbechern, Cocktailgläsern und Snackschalen bedeckt, die allerdings nur Showzwecken dienten. Das war mit Sicherheit nicht ihre erste Party. Sofort überlegte ich, welcher dieser ausgesucht heißen Männer hier ihr Freund war. Es gab mehr als genug, die vom Typ her Alex entsprachen, aber allesamt nur blasse Imitationen waren.
»Weißt du, ich denke, ich gehe doch einfach gleich zurück zum Hotel«, sagte ich und ließ Grahams Hand los. »Ich fühle mich nicht wohl, und Alex und ich haben morgen einen großen Tag vor uns. Die große Drei mit der Null und so.«
»Das ist cool.« Graham nickte mir verständnisvoll zu. »Ich begleite dich raus.«
»Darf ich dich was fragen, Graham?« Ich drückte auf den Liftknopf und spürte, als dieser aufleuchtete, eine Last von mir abfallen.
»Aber ja«, sagte er, schien aber nicht davon überzeugt zu sein. »Was gibt es?«
»Wieso seid ihr heute Abend hier?« Ich lehnte mich an die Wand und entlastete somit meine Zehenballen. Auch wenn es die besten der Welt waren – ich war keine geborene High-Heel-Trägerin. »Ich hatte nicht den Eindruck, dass du zu Solènes größten Fans gehörst.«
»Und das stimmt auch«, gab Graham zu. »Aber ich habe mit diesem Arschloch einen Deal geschlossen.« Er zeigte auf Craig, der bereits Marie gegen das Fenster drückte und ihr mit seinem Arm den Fluchtweg abschnitt. Sie lachten beide, aber für mich sah es ganz danach aus, als würde Marie Craig auslachen. »Ich komme mit ihm hierher, damit er versuchen kann, Marie an die Wäsche zu gehen, aber dafür muss er mich morgen in die Museen und Galerien begleiten.«
»Hört sich für mich aber nicht so an, als käme für dich da viel bei rum.« Ich konnte gar nicht hinsehen. Es war wie in einer dieser Natursendungen, wo ein fürchterliches Raubtier mit seinem Abendessen spielt, bevor es zuschlägt. Wie konnte Craig sich nur einbilden, dass er hier das Sagen hatte? »Du willst doch gar nicht hier sein und wirst mir doch nicht allen Ernstes erzählen, dass du Craig den ganzen Tag mit dir herumschleppen willst? Er scheint so gar nicht der Museumstyp zu sein.«
»Das ist nicht fair, du hast meinen bösen Plan durchschaut.« Graham zog eine Braue hoch und näherte sich mir dann theatralisch flüsternd. »Er wird es hassen. Das ist seine Bestrafung dafür, dass er während des ganzen Fluges geschnarcht hat.«
Ich lachte und holte tief Luft. Die Chance, dass ich die Antwort auf meine nächste Frage gar nicht hören wollte, war sehr groß. »Und wie kommt es, dass du Solène nicht leiden kannst?« Grahams Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. »Hör zu Angie, ich habe Alex versprochen, nicht darüber zu reden, aber wie es aussieht, ist auch er nicht bereit, mit dir darüber zu sprechen, und wenn ich ehrlich sein soll, finde ich, dass du hier ziemlich fehl am Platz bist, also …«
»Also was?«
»Also gut, du weißt, dass Alex und Solène miteinander gegangen sind, ja?«
Ich nickte. »Soweit kann ich folgen.«
»Ich denke, dass er das, was zwischen ihnen war, vor dir etwas heruntergespielt hat.« Er drehte sich um und drückte noch mal auf den Knopf für den Lift, der ihm offenbar nicht schnell genug kam. »Ich vermute, dass er ziemlich ausgeflippt ist, als er sie hier gesehen hat. Wir wussten wirklich nicht, dass ihre Band ebenfalls für das Festival gebucht ist. Ich glaube nicht, dass wir alle hier wären, wenn Alex es gewusst hätte.«
»Dann hat es also kein gutes Ende genommen? Mit den beiden?«, hakte ich nach. Gab es eine gute Antwort auf diese Frage? Außer der, dass es ein Ende fand, weil Alex eines Morgens aufgewacht ist und von einem überirdisch schönen englischen Mädchen geträumt hatte, das nicht wusste, wann man besser keine Fragen mehr stellte.
»Ich finde wirklich nicht, dass es mir zusteht, dich darüber zu informieren.« Graham legte seine große Bassistenhand auf meine Schulter. »Aber mach dir nichts draus, Ange, zwischen dir und Alex läuft alles bestens. Das ist nur ein unerwarteter, äh, ich weiß nicht, Schluckauf? Einer, mit dem er sich nie mehr herumschlagen muss, wenn wir erst mal wieder zurück in New York sind.«
Ich nickte. Wären wir nicht nach Paris gekommen, wäre das alles nicht passiert, und wenn wir zurück nach New York kamen und ich und Alex zusammenzogen, dann wäre es so, als sei nichts gewesen. Denn ich war bekannt dafür, Dinge auf sich beruhen zu lassen. Unsinn. Warum war ich denn hier? Warum hatte ich auf die Stimme in meinem Kopf und nicht auf jemanden mit Vernunft gehört? Das passierte nur, weil Jenny Lopez nicht hier war, um mir Ratschläge zu erteilen. Das war eindeutig ihr Fehler.
Wenigstens deutete jetzt ein leises Zischen auf die Ankunft des Liftes hin, und ich war so erleichtert, von hier wegzukommen, dass ich zum ersten Mal lächelte, seit ich aus meinem Taxi gestiegen war. Und ich sah sie absolut nicht kommen.
»Graham!« Solène stellte sich uns mit zwei Gläsern Bier in den Weg und drückte ihm ihre flüchtigen Küsse auf die Wangen.
»Und, Angela, du bist auch da. Dein Kleid gefällt mir.«
Mir rutschte das Lächeln aus dem Gesicht, denn ich konnte mir nicht sicher sein, ob dieses Kompliment ernst gemeint war.
»Und diese prächtigen Schuhe.« Sie reichte uns die Gläser. »Ich bin völlig underdressed.«
Solène war barfuß. Und trug schwarze Jeans und ein langes schwarzes T-Shirt. Genau das, was ich den ganzen Tag über angehabt hatte, und keinesfalls ein sechshundert Euro teures Seidenkleid mit einer Katze darauf und geborgte Schuhe mit fünfzehn Zentimeter hohen Absätzen. Ich kam mir wie ein Idiot vor.
»Du hast eine sehr schöne Wohnung«, sagte ich und ging langsam rückwärts, als Solène uns vom Lift weg ins Wohnzimmer dirigierte. »Wirklich toll.«
»O danke.« Sie deutete mit dem Arm auf eins der riesigen Sofas und schubste mich rückwärts, bis ich saß. Ob ich wohl jemals in der Lage wäre, auf Absätzen für große Mädchen die Balance zu halten? »Könntest du mir bitte was zu trinken holen, Graham? Rotwein?«
Graham schaute von mir zu Solène und dann wieder zu mir.
»Ich wollte eigentlich Angela gerade rausbegleiten und in ein Taxi setzen.« Graham zog mich wieder auf die Füße. »Alex hat ein romantisches Abendessen für sie geplant, und sie muss jetzt gleich los.«
»Tatsächlich?«, fragte Solène und schubste mich zurück aufs Sofa.
»Hat er?«, fragte ich.
»Äh ja, es sollte eine Überraschung sein«, sagte Graham, nahm mir das Bier aus der Hand und stellte es auf den Beistelltisch hinter ihm.
»Dann werde ich für Angela ein Taxi rufen«, sagte Solène, drückte meine Hand und sah mich mit einem breiten Lächeln an. »Da draußen fahren nicht viele herum. Wir sind hier in Paris, nicht in New York.«
Graham schob seine eckige schwarze Brille hoch auf die Nase und drückte mich auf die Sofalehne, wo er neben mir Platz nahm. »Das wäre großartig. Bitte so bald wie möglich.«
»Das Telefon ist oben beim Rotwein«, erwiderte Solène und strahlte ihn an. »Du kannst es mir bringen.«
Zögernd ließ Graham meine Hand los und sprintete mehr oder weniger zur Treppe. Solène sah ihm nach und lachte in sich hinein.
»Graham ist so lustig«, sagte sie und ließ sich federleicht neben mich auf das Sofa fallen. »Ich vermisse ihn.«
»Hast du mit Graham viel Zeit auf Tour verbracht?«, fragte ich, um nicht als aufgedonnerte Idiotin dazustehen.
»Auf Tour ja, aber schließlich haben wir auch alle zusammengelebt«, sagte sie lässig. »Er scheint sich verändert zu haben. Ist vielleicht ein wenig unglücklich.«
»Wann habt ihr zusammengelebt?« Ich hatte bereits zwei und zwei zusammengezählt, und was dabei herauskam, gefiel mir gar nicht. »Du hast mit Graham zusammengewohnt?«
»Eine Weile«, sagte sie und zwirbelte eine lange eisblonde Haarsträhne um ihren Finger. »Er hat seinen Freund verlassen und ist bei Alex und mir eingezogen. Das war für etwa zwei oder drei Monate.«
Genau. Natürlich. Er hatte für zwei oder drei Monate bei Alex und ihr gewohnt.
Als sie mit Alex zusammenlebte.
Als sie mit meinem Freund zusammenlebte.
»Brooklyn fehlt mir so, sag mal, wie lange wohnst du schon dort?«
»Ich, äh, ich wohne in Manhattan«, würgte ich heraus und beugte mich vor, um an mein Bier zu kommen.
»Alex ist nach Manhattan gezogen? Er hat seine Wohnung verkauft? Mit der wunderbaren Aussicht?«, fragte Solène und flocht eine Haarsträhne, die sie sorgfältig aus ihrer elegant zerzausten Hochsteckfrisur gezogen hatte. »Ich hätte nie gedacht, dass er dort weggeht.«
»Nein, er wohnt noch immer in Brooklyn, in Williamsburg.« Ich musste mir meine Worte genau überlegen. Reden sollte eigentlich nicht so mühsam sein. Atmen sollte nicht so mühsam sein. »Wir wohnen nicht zusammen.«
»Oh, dann ist es also nichts Ernstes?«, fragte sie ein wenig zu schnell für meinen Geschmack. »Mit dir und Alex?«
»Es ist ernst«, erwiderte ich genauso schnell. »Es ist absolut ernst. Ich ziehe zu ihm, sobald wir wieder in New York sind.«
»Das ist gut.« Solène beobachtete mich, während ich mein Bier trank. »Er war lange Zeit so verletzt. Ich weiß natürlich, dass das mein Fehler war. Ich bin so froh, dass er dich gefunden hat.«
»Er war verletzt«, wiederholte ich, unsicher, ob es eine Frage war oder nicht. Wo zum Teufel blieb Graham?
»Ich weiß, du musst mich für eine ganz schreckliche Person halten, Angela.« Sie ließ ihr Haar los und nahm mir das (jetzt leere) Glas aus der Hand, bevor sie meine beiden Hände in ihre nahm. Dabei fiel mir zwangsläufig auf, dass ihre Hände zwar weich und winzig waren, aber an denselben Stellen Schwielen hatten wie die von Alex. »Ich war einfach noch nicht bereit dazu, häuslich zu werden. Alex wünschte sich so sehnsüchtig, dass wir heiraten und Babys bekommen. Ich war so jung und so weit weg von zu Hause. Ich war so durcheinander. Aber heute weiß ich, dass es ein Fehler war. Niemals hatte ich die Absicht, ihm das Herz zu brechen.«
Und ich hatte nie jemandem das Genick brechen wollen.
Solène hatte nicht nur was mit Alex gehabt, sie waren auch nicht nur einfach so zusammen gewesen.
Sie war es.
Die Ex, die ihn mit seinem besten Freund betrogen hatte.
»Angela, bitte, dass Alex heute Abend nicht kommt, kann ich verstehen, aber ich hoffe, du sagst ihm, dass es mir noch immer sehr leidtut.« Zwei dicke Tränen kullerten über ihre Wangen und gruben schwarze Linien in ihre Porzellanhaut. »Er will noch immer nicht mit mir reden, obwohl es schon Jahre her ist. Wir waren einmal so glücklich, und es macht mich traurig, dass wir nie wieder Freunde sein können.«
Ich baute nicht mehr auf Graham, sondern löste meine Hände und stand auf. »Tut mir leid, Solène, aber ich sollte besser nicht mit dir darüber reden.«
Sie nickte unter Tränen und ließ ihren Kopf auf ihre Knie sinken.
Dass ich ihr nicht mit meinem Schuh den Schädel einschlug, war das Zivilisierteste, was ich je zuwege gebracht habe. Was jedoch nicht heißen soll, dass ich nicht gegen das äußerst starke Bedürfnis ankämpfte, meine Louboutins auszuziehen und auf meine Stärken zu setzen, aber ich war entschlossen, diesmal diejenige zu sein, die Größe zeigte. Wenigstens einmal. Das war jedenfalls der Plan.
Ich ließ sie auf dem Sofa sitzen und ging, so schnell mich meine Absätze trugen, zum Lift. Meine Augen brannten etwas weniger als meine Fußballen, und ich drückte den Liftknopf immer und immer wieder, bis der Lift angerauscht kam und die Türen aufgingen.
»Angela«, überschrie Graham die Menschenmenge, die jetzt die Wohnung füllte. »Tut mir leid, ich wurde von Craig aufgehalten und konnte dann weder das Telefon noch den Wein finden und, ach herrje, ist alles o.k. mit dir?«
Ich nickte und hielt die Lifttür auf. »Wahrscheinlich ginge es mir besser, wenn ich nicht gerade von Solène und Alex erfahren hätte, dass, nun alles eben. Von ihr.«
»Wahrscheinlich.« Graham zuckte zusammen. »Das tut mir wirklich leid, Angie. Aber das ist Geschichte. Vergangen, weißt du? Es zählt nicht mehr.«
»Hm.« Ich betrat den Lift. »Ja.«
Meine Eloquenz erstaunte mich immer wieder aufs Neue.
»Ich habe ein Taxi gerufen, es sollte inzwischen unten sein«, sagte er und hielt mir die Tür auf. »Kann ich mit dir mitkommen?«
»Hm, ich denke, ich brauche fünf Minuten für mich«, sagte ich. Es war die diplomatischste Version von »Verpiss dich, ich will meine Ruhe haben«, die mir einfiel.
Natürlich war weit und breit kein Taxi zu sehen, als ich nach unten kam. Ich lief zur Vorderseite des Gebäudes und starrte über eine Mauer gebeugt auf den Fluss. Auf der gegenüberliegenden Uferseite lag Notre Dame. Die riesigen Türme waren prächtig, aber auch einschüchternd und ein wenig gruselig. Ich fragte mich, ob Solène dort oben wohl im Schutz der Dunkelheit herumkletterte und sprang. Oder vielleicht klammerte sie sich auch nur wie einer der Wasserspeier von außen dran. Allerdings ein wirklich schöner Wasserspeier, dem es gelungen war, meinem Freund das Herz zu brechen, und der dann von mir erwartete, mit ihm allerbeste Freundinnen zu spielen. Miststück.
Es gab nur einen Menschen, der im Moment meine Wut nachvollziehen konnte. Ich wühlte in meiner Tasche nach meinem Telefon, dessen Akku fast leer war, und drückte die Schnellwahltaste.
»Jenny Lopez«, antwortete sie beim ersten Klingeln. Gott sei Dank überprüfte sie nie die Nummer des Anrufers, bevor sie dranging.
»Jenny, ich bin’s«, sagte ich rasch, überrascht, meine Stimme so weinerlich zu hören. »Können wir reden? Bitte?«
»Es tut mir leid, Angie, im Moment geht es nicht.« Sie klang angespannt, aber nicht verärgert. »Ich habe einen Haufen Probleme am Hals, du wirst warten müssen.«
»Aber ich habe eine kleine Krise«, begann ich. Wenn es mir gelang, möglichst schnell mit dem Meckern anzufangen, konnte sie bestimmt nicht widerstehen.
»Lass mich raten«, fiel sie mir ins Wort. »Äh, Alex ist ein Arsch, oder du hast den Job bei Belle vermasselt. Was von beidem ist es?«
Wow. Darauf hatte ich wirklich keine Antwort. Mir kam jedenfalls nicht in den Sinn, dass sie bestimmt beeindruckt wäre zu hören, dass es ein bisschen was von beidem war.
»Ich kann jetzt wirklich nicht, tut mir leid«, fuhr Jenny fort. »Ich werde dich später zurückrufen.«
»Aber, Jenny.« Ich versuchte sie aufzuhalten, aber das war offenbar keine gute Idee.
»Ach, du hattest doch auch keine Zeit, mit mir zu reden, als du gestern meine Anrufe umgeleitet hast, und jetzt habe ich keine, um mit dir zu reden. Kümmere dich um deine Krise. Ich habe zu arbeiten.« Und dann legte sie auf. Legte tatsächlich auf.
Ich starrte wieder auf Notre Dame. Keine Chance einer göttlichen Intervention? Offensichtlich nicht. Vielleicht weil ich in meinem ganzen Leben noch keinen Fuß in eine Kirche gesetzt hatte, sofern danach nicht Kuchen, ein Drei-Gänge-Menü und freie Drinks an der Bar auf mich warteten.
Am liebsten hätte ich den Refrain von »Nur für mich« aus Les Misérables gesungen, beherrschte mich aber und schaute wieder auf mein Telefon. Wen könnte ich sonst noch anrufen? Mit einer panisch reagierenden Louisa konnte ich nichts anfangen, außerdem sah ich sie ohnehin in ein paar Tagen. Erin würde mir sagen, ich hätte meinen Schuhabsatz in Solènes Schädel bohren sollen, und mit den anderen New Yorker Freunden hätte ich nicht darüber reden können. Sie brauchten die Details von Alex’ Sexualleben nicht zu erfahren. Natürlich hatte ich die einzige Person vergessen, die keine Zusammenfassung benötigte. Ich war mir ziemlich sicher, dass Alex mit allen Einzelheiten vertraut war.
Ich drückte also den zweiten Schnellwahlknopf und wartete, bis das Gespräch durchgestellt wurde. Wurde es auch – direkt auf die Mailbox.
»Hey, ich bin’s.« Dabei bewegte ich mich auf die Brücke zu, die zur Kathedrale führte. Dort würde es doch sicherlich Taxis geben? »Ich bin auf dem Weg zurück zum Hotel, tut mir leid, dass ich mich heute so idiotisch verhalten habe. Ich mache Paris dafür verantwortlich, die Stadt ist so schön, dass ich nicht mehr klar denken kann. Außerdem hatte ich seit Montag keinen Hot Dog mehr, und das scheint sich seltsam auf mein Gehirn auszuwirken. Ich komme so schnell es geht. Oder ruf mich an, dann können wir uns irgendwo treffen. Oder was immer du willst. Ich liebe dich.«
Als ich auflegte, redete ich mir ein, dass er sicherlich unter der Dusche stand und sich für mich hübsch machte, und ich setzte meine Suche nach einem Taxi fort. Nur für mich. Im Geiste ist er bei mir.
Schnief.
Eine Stunde und mehrere Blasen später humpelte ich in die Lobby vom Marais. Ich war ein erbärmlicher Anblick. Blassgraue Seide mag in einem Schaufenster oder auf einer wahnsinnig stilvollen Cocktailparty (es gibt kein eleganteres Accessoire als einen guten Caipirinha) wunderschön aussehen, aber nach einstündigem Herumirren in einer fremden Stadt an einem tropischen Augustabend war es nicht das vorteilhafteste Kleidungsstück, das je von einer Dame in Paris getragen wurde. Wobei man allerdings einwenden muss, dass ich dieser Dame wohl auch kaum entsprach. Mal abgesehen davon, dass ich mich zurückgehalten und Solène nicht ins Gesicht geschlagen habe. Sobald ich durch die auseinandergleitenden Glastüren, die zum Empfang führten, gegangen war, ließ ich mich auf den nächsten Sessel fallen, diesmal ein großes plüschiges Exemplar aus rotem Samt, und kämpfte mit den winzigen Schnallen von Virginies Louboutins. Diese fabelhafte handwerkliche Verarbeitung hatte der Teufel ersonnen.
»O verdammt noch mal«, jammerte ich und ließ meinen Kopf auf die Knie sinken. Mit diesen Folterinstrumenten an meinen Füßen konnte ich keinen einzigen Schritt mehr gehen. So schön und handwerklich ausgereift sie auch sein mochten.
»Madame?«, sprach mich eine Stimme an.
»Mademoiselle«, blaffte ich zurück. Wie oft denn noch?
»Kann ich Ihnen helfen, Mademoiselle?«
Ich blickte hoch und sah meinen guten Freund Alain am Empfang. Mit dem schon vertrauten besorgten Blick, doch er hatte einen Mantel an und einen Rucksack umgeschnallt.
»Ich bin nicht betrunken«, sagte ich viel zu schnell. Nicht, dass er mir das abgenommen hätte. »Ich musste nur zu Fuß von dieser Party zurück und wusste gar nicht recht, wohin ich ging, nun, ich hatte einen Stadtplan, aber ich komme mit Plänen nicht gut zurecht und habe immer gauche und droite durcheinandergebracht, dann hat auch noch mein Telefon den Geist aufgegeben, und ich habe kein Ladegerät und …«
»Möchten Sie ein Ladegerät leihen?« Er wirkte unglaublich erleichtert, einen Grund zu haben, mir ins Wort fallen zu können. »Wir haben diverse. Darf ich Ihr Telefon sehen?«
Ich reichte ihm mein BlackBerry und ärgerte mich über mich selbst, dass ich nicht schon früher mal an der Rezeption nachgefragt hatte.
»Ganz herzlichen Dank«, sagte ich, als es mir endlich gelungen war, meine Schuhe von meinen Füßen zu lösen, und trottete ihm dann vorsichtig hinterher. »Das ist wirklich wunderbar. Sie sind wie meine Freundin Jenny, als ich sie kennenlernte, hatte sie alles, was man brauchte, in ihrem kleinen Büro im Hotel.«
»Et voilà!« Alain reichte mir ein ordentlich aufgerolltes BlackBerry-Ladegerät und lächelte dabei beinahe. »Kann ich Ihnen sonst noch behilflich sein?«
»Nur wenn Sie einen supergeheimen Insider-Führer für Paris da drin haben«, sagte ich lächelnd und stopfte das Ladegerät in meine Tasche. »Oder ein Ladegerät für meinen Laptop.«
»Tut mir leid, damit kann ich nicht dienen.« Doch für alle Fälle schaute Alain noch mal in der Schublade nach. »Aber es gibt viele Computerläden in Paris.«
»Oh, ich weiß, aber ich brauche es für meinen Mac, und meine Freundin meinte, das sei nicht so leicht zu bekommen«, erwiderte ich und ignorierte das Brennen meiner Füße, um wenigstens einmal ein vernünftiges Gespräch mit Alain zu Ende zu bringen. Schade, dass er in Paris lebte, Jenny wäre von ihm begeistert gewesen. Groß, blond, hellblaue Augen und mit unerschütterlicher Hingabe im Dienste der Kunst des Hotelportiers. Außerdem sah er wirklich gut aus, aber die Probleme, die ich schon mit heißen Hotelangestellten hatte, reichen für den Rest meines Lebens. Von diesem Süßen hier werde ich mich fernhalten. »Es ist schon eine Erleichterung, wenn mein Telefon wieder funktioniert.«
»Es gibt einen Laden ganz in der Nähe, der auf Apple-Produkte spezialisiert ist, dort wird man Ihnen sicherlich weiterhelfen können«, schlug Alain vor, zog einen Stadtplan von der Empfangstheke und trug eine sehr kurze Route ein. »Der hat auch noch spät geöffnet.«
»Das ist wunderbar, besten Dank«, sagte ich und starrte auf den Plan. »Vielleicht hat er geöffnet, während Virginie in New York war. Es muss ihr wohl entgangen sein.«
»Natürlich«, sagte er und schwang seinen Rucksack wieder über die Schulter. »Für heute ist meine Schicht zu Ende, aber sollten wir Ihnen sonst noch behilflich sein können, wenden Sie sich jetzt bitte an meine Kollegen.«
»Ausgezeichnet, danke noch mal.« Ich trat vorsichtig von einem Fuß auf den anderen. Der Marmorboden war angenehm kühl. »Ich werde Ihnen das Ladegerät morgen zurückbringen.«
»D’accord.« Und mit einem fast schon übertriebenen Lächeln wünschte Alain mir einen schönen Abend.
»Ihnen auch«, sagte ich und kehrte auf Zehenspitzen zur Tür zurück. »Oh, und Alain, es tut mir wirklich leid, dass ich gestern Abend etwas daneben war.«
»Keine Ursache, Mademoiselle.«
»Ah, danke.« Er nannte mich Mademoiselle. Wurde auch höchste Zeit.
»Hey, Alex? Ich bin zurück, tut mir leid, dass es so lang gedauert hat«, schrie ich durch die Tür, während ich am Schloss herumhantierte. »Ich schwöre dir, ich werde diesen Raum nur noch verlassen, wenn ich mit jemandem zusammen bin, der weiß, wo die Taxis abfahren, oder mich in eins setzt.«
Aber das Zimmer war leer. Alex war nicht da.
»Alex?«, rief ich und schaltete sämtliche Lampen an. »Bist du im Bad?«
Er war auch nicht im Bad. Ich zog den Duschvorhang beiseite, als könnte er sich dahinter versteckt haben. Warum machen die Leute das immer? Ich ließ mich aufs Bett fallen, halb erleichtert, meine Füße endlich hochlegen zu können, aber auch kurz davor, wegen Alex’ mysteriöser Abwesenheit auszuflippen. Es war fast zehn, ich hätte schon vor einer Stunde zu Hause sein sollen, aber da war nichts, keine Notiz, keine telefonische Benachrichtigung, einfach nichts. Ich steckte mein geborgtes BlackBerry-Ladegerät in die Steckdose und wartete, dass das Zeichen für die Batterie auf dem Display erschien.
»Nun komm schon«, sagte ich leise und hypnotisierte das Display. Nichts. »Mist.«
Ich drückte die Schnellwahltaste, aber es kam einfach zu keiner Verbindung. Vielleicht noch nicht genug aufgeladen, sagte ich mir und legte das Telefon auf dem Nachttisch ab. Ich schüttelte das Kleid ab und legte mich zurück aufs Bett. Sicherlich käme er bald, Graham und Craig waren bei Solène, und Graham hätte mich sicherlich angerufen und mir eine Nachricht hinterlassen, wenn Alex bei ihnen wäre. Wo sollte er auch sonst sein? Ich schloss für einen Moment die Augen und versuchte mich darauf zu konzentrieren, dass das Pochen in meinen Füßen und das Grummeln in meinem Magen und meine Kopfschmerzen aufhörten. Die Laken waren so kühl, und das Bett war so weich, da konnte ich nicht anders und ließ meine Augenlider zufallen. Mit einem Griff zum Nachttisch schaltete ich den Fernseher ein und fand eine laute Übersetzung von Grey’s Anatomy. Bei manchen Shows war die Sprache egal, man kam immer gut mit.
»O McDreamy«, murmelte ich leise dem Bildschirm zu, »nun entscheide dich doch endlich.«
Ich streckte meine Hand nach meinem BlackBerry aus, doch nur, um es auf den Boden zu werfen. Die Homepage war wieder zu sehen, aber noch immer kein Signal. Ich wedelte mit halb erhobenem Arm herum, aber es passierte nichts.
»Mist mistiger.« Ich ließ es zurück auf den Nachttisch fallen und drehte mich auf den Rücken. Bald käme Alex zurück und hatte hoffentlich die Nummer eines Lieferservices parat, denn aufstehen würde ich heute nicht mehr können. Er konnte von Glück sagen, wenn ich noch wach wäre, wenn er …
Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, als ich die Augen aufriss, weil ich gerade geträumt hatte, dass ich ganz dringend eine Toilette benötigte, die aber alle von Solène-Doppelgängerinnen besetzt waren, nur um festzustellen, dass ich tatsächlich aufs Klo musste und in meiner Unterwäsche im Bett lag. Der Fernseher war ausgeschaltet, die Lampen ebenso, aber Alex war nicht an meiner Seite. Ich setzte mich auf und wartete, bis meine Augen sich an die Dunkelheit und meine mit Mascara verklebten Wimpern gewöhnt hatten. Aus Sorge, ich könnte mich bepinkeln, sprang ich aus dem Bett und ins Badezimmer, wo ich die Tür schloss und im Dunkeln pinkelte. Ich wusch mir die Hände und trat blinzelnd den Rückweg an, kam aber nur drei Schritt weit und stolperte über ein Hindernis auf dem Boden und knallte gegen das Bett.
»Verdammt!«, quiekte ich, als mein Gesicht am Bettpfosten aufschlug. Mein linker Wangenknochen wurde heiß, und ich drückte meine Hand an mein Gesicht, bis der heftige Schmerz sich zu einem dumpfen Pochen abschwächte.
»Mist, Mist, Mist«, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen und trat gegen das, worüber ich gestolpert war. Als mein eines geöffnetes Auge sich an das Zwielicht gewöhnt hatte, stellte ich fest, dass es ein Paar Converse-Schuhe waren. Alex’ Converse.
»Angela?«, meldete sich Alex’ Stimme von der anderen Raumseite.
»Alex?«, murmelte ich vom Boden aus.
Eine Lampe ging an und zeigte die ganze traurige Szene. Alex hatte sich in Jeans und T-Shirt in einem Sessel am anderen Ende des Zimmers zusammengerollt, während ich ausgestreckt in BH und Unterhose auf dem Teppich lag, die Füße in Turnschuhen verheddert und eine kleine Blutlache neben meiner Hand. Zum Glück nicht auf dem Teppich. Unglücklicherweise auf meinem brandneuen, völlig überteuerten grauen Seidenkleid.
»Was machst du denn da drüben?« Meine Stimme klang seltsam näselnd, und nichts ergab einen Sinn. Warum saß Alex in einem Sessel? Und warum lag ich schon wieder auf dem Fußboden? »Was ist passiert?«
»Können wir vielleicht damit anfangen, deine blutige Nase sauberzumachen?« Er faltete seine Beine auseinander und kletterte aus dem Sessel und war neben mir, bevor ich seine Schuhe von meinen Knöcheln lösen konnte. »Mein Gott, Angela, ich werde dir eine Glocke umhängen müssen. Was hast du gemacht?«
»Gepinkelt?« Ich zuckte zusammen, als er mein Kinn anhob und meine Hand von meiner Wange zog. »Warum hast du auf diesem Sessel gelegen? Wo warst du?«
»Lass uns erst mal das in Angriff nehmen.« Er zog mich auf die Füße, schlang einen Arm um mich und strich mir das Haar aus dem Gesicht.
Ich hockte auf dem Badewannenrand und starrte auf meine blutigen Hände, während Alex kaltes Wasser laufen ließ und mein Gesicht sanft mit einem feuchten Waschlappen abtupfte. »Du wirst morgen auf jeden Fall ein blaues Auge haben«, sagte er und hockte sich vor mich. »Aber ich glaube nicht, dass deine Nase gebrochen ist.«
»Bist du dir sicher?«, fragte ich und ließ tapfer alles mit mir geschehen. »Sie fühlt sich gebrochen an.«
»Hast du sie schon mal gebrochen?«
»Nein.«
»Woher willst du das dann wissen? Sie ist verletzt, aber nicht gebrochen.«
»Fühlt sich gebrochen an«, brummte ich und versuchte, nicht an irgendwelche Vorfälle der Vergangenheit zu denken, wo ich möglicherweise jemandes Hand gebrochen hatte.
»Wenn du mit Craig sechs Monate auf Tour warst, dann weißt du, wann eine Nase gebrochen ist.« Alex tauschte den blutigen Waschlappen gegen ein sauberes Taschentuch aus. »Ich habe den Jungen öfter zusammengeflickt, als ich mich erinnern mag. Nun komm, lass dich ins Bett bringen.«
Ich erhob mich auf wackeligen Beinen und ließ mich von Alex zum Bett führen. Er zog ein geknöpftes Hemd heraus und streifte es mir über, knöpfte es zu und holte dann zwei Adviltabletten und legte sie mir in die Hand. »Ich hol dir einen Schluck Wasser.« Dabei drückte er mich sanft aufs Bett und verschwand wieder im Badezimmer.
Mit meiner noch immer leicht verschwommenen Wahrnehmung sah ich die Leuchtziffern der Uhr auf dem Nachttisch. Es war erst kurz nach zwei Uhr morgens.
»Alex?«, rief ich, so laut ich konnte, wobei ein Schmerz einschoss, der sich über meinen Wangenknochen bis hoch in meine Stirn zog. Autsch.
»Ja?«, antwortete er und war schon wieder neben mir mit einem Glas Wasser in der Hand.
Alex hielt das Glas fest, während ich trank und die Advil hinunterschluckte. Er traute mir offenbar nicht zu, es halten zu können. Was auch verständlich war.
»Es ist nach Mitternacht. Alles Gute zum Geburtstag.«
»Danke«, sagte er leise. »Versuch jetzt ein wenig zu schlafen.«
»O.k.«, erwiderte ich flüsternd und kam mir ein wenig komisch vor. Und das nicht nur wegen des Bettpfostenvorfalls. Alex knipste das Licht aus, und ich hörte, wie er seine Jeans auszog.
»Kommst du ins Bett?«, fragte ich blind wie eine Fledermaus.
»Ja«, sagte er, als er mit seinem Gewicht die andere Bettseite hinunterdrückte.
Erleichtert versuchte ich mich herumzudrehen, aber der Schmerz in meiner rechten Gesichtshälfte ließ es nicht zu. Ich wartete darauf, dass Alex sich an mich kuschelte, aber das tat er nicht. Also streckte ich meinen Arm aus und tastete mich über seinen Unterarm vor bis zu seiner Hand, die ich mit meinen Fingern umschloss und drückte. Er schloss seine Finger darum, erwiderte den Druck aber nicht. Stattdessen hörte ich ihn leise seufzen und spürte, wie sein Körper sich zurückzog und sich zum Fenster herumdrehte. Mit meinem guten Auge starrte ich die dunkle Decke an und versuchte gleichmäßig zu atmen. Was für ein toller Geburtstagsauftakt.