Sechs
»Ich möchte ja nicht zickig sein, Alex.« Ich gähnte, als wir durchs Hotel Marais rauschten, wo Alex im Vorbeigehen dem Mann an der Rezeption zuwinkte. »Ich glaube einfach, du verstehst das nicht. Ich bin außer mir vor Freude hier zu sein und überglücklich, eine Woche mit dir in Paris zu verbringen. Aber ich habe nichts. Ich befinde mich in einem anderen Land und habe nichts mehr. Keine Unterhosen, kein Ladegerät, keine sorgfältig zusammengestellten Retro-Ensembles. Nichts.«
»Du meinst wohl diese verrückten Kleider aus den Achtzigern, die du dir aus dem Altkleiderladen geholt hast?«, hakte Alex nach, während ich darauf wartete, dass er die Zimmertür aufsperrte.
»Es sind trotzdem eine Art Retro-Ensembles«, wiederholte ich. »Also ehrlich, als hättest du noch keine Ausgabe von Belle gelesen.«
»Könnte das ein Problem für dich sein? Denn ich habe noch keine gelesen«, sagte Alex und kickte seinen abgewetzten Koffer in den Schrank. »Und du auch nicht bis vor drei Tagen.«
»Du bist nicht sehr hilfreich«, schmollte ich und wendete jedes Quäntchen an Energie auf, um mich theatralisch auf das Bett zu werfen, das in meinen Augen wie ein normales Doppelbett aussah, bei dem Aufprall allerdings in der Mitte auseinanderglitt und mich kurzerhand mitsamt einem Bündel Laken hart zu Boden fallen ließ.
»Angela?«
Wie eine verwirrte Meerkatze streckte ich meinen Kopf zwischen den Betten in die Höhe. »Kann ich jetzt wieder nach Hause?«
»Es wird alles gut werden.« Alex unterdrückte mühsam sein Lachen und zog mich zwischen den Betten heraus, bevor er sie wieder zusammenschob. »Du hattest einen schlechten Tag. Ich weiß doch, was du für ein Pech hattest.«
»Dass ich zwischen die Betten gefallen bin, war Pech«, gab ich zu, als ich mich zurück auf die Kissen fallen ließ. »Dass mein Koffer gesprengt wurde, war lächerlich.«
»Ja, aber dir passieren eben lächerliche Dinge, oder?«, sagte Alex und warf sich neben mir aufs Bett. Was sich bei ihm natürlich nicht teilte. »Vielleicht erweist es sich ja letztendlich doch noch als Segen.«
»Auf einen solchen Umweg könnte ich verzichten«, sagte ich und rollte mich vor an die Bettkante.
»Wo willst du hin?«, fragte Alex und packte mich am Arm, um mich zurück ins Bett zu ziehen. »Komm sofort wieder zurück ins Bett, Clark.«
»Ich muss unter die Dusche«, winselte ich. Seine Hand war warm und hielt kraftvoll mein Handgelenk umklammert, und so ließ ich ohne großen Widerstand zu, dass er sich auf mich rollte und mein Gesicht mit seinen Händen umfing.
»Du brauchst keine Dusche.«
»Aber ich bin unappetitlich.«
»Du bist nicht unappetitlich.«
Ein warmer, sanfter Kuss, der die Schmetterlinge in meinem Bauch tanzen ließ, und die Idee, duschen zu gehen, hatte sich verflüchtigt.
»Hat dir dein Song gefallen?«, hauchte Alex mir ins Ohr, sodass es kitzelte.
»Ich war begeistert von meinem Song«, flüsterte ich zurück. Es war ein aufreibender Tag gewesen, und war Sex nicht gut gegen den Jetlag? Hm, vermutlich entsprang dies derselben Quelle wie die Flusspferdgeschichte, aber zutreffen könnte es.
Offensichtlich aber doch nicht. Ich döste in Alex’ Armen zusammengerollt eine Weile vor mich hin und glaubte tagelang schlafen zu können, aber um halb fünf, nachdem ich zum fünften Mal einen Blick auf die Uhr neben dem Bett geworfen hatte, musste ich akzeptieren, dass ich hellwach war und der Jetlag mir noch immer in den Knochen saß. Alex hatte stundenlang stetig vor sich hin geschnarcht, und obwohl es bestimmt lustig wäre, ihn aufzuwecken, wäre es doch nicht fair. Also ließ ich mich so leise wie möglich aus dem Bett gleiten und kuschelte mich mit meinem Laptop in den Sessel am Fenster.
Es war ein hübsches Zimmer. Klein im Vergleich zu den Zimmern in The Union und The Hollywood, aber sauber und bezaubernd. Ich war die schlichte weiße Ausstattung der Kettenhotels so sehr gewohnt, dass ich den geblümten Bettüberwurf und die gemusterten Kissen auf der Couch als sehr gemütlich empfand. Es erinnerte ein bisschen an zu Hause bei meiner Mutter, wenn sie Geschmack gehabt hätte. Was sie aber bei Gott nicht hatte. Sie konnte einen unglaublich guten Braten auftischen, aber um nichts in der Welt passende Kissen aussuchen. Und mit diesem Gedanken im Kopf loggte ich mich bei TheLook.com ein und fing an zu tippen.
Angelas Abenteuer: Kann kein Französisch
Hm. Ich bin mit dem Aberglauben und den Gebräuchen der Franzosen nicht sehr vertraut, aber ich könnte mir vorstellen, dass ich recht gehe in der Annahme, dass es einem kein Glück bringt, wenn die Flughafensicherung dir deinen Koffer in die Luft sprengt. Es sei denn, es fällt in dieselbe verrückte Kategorie wie Vogelscheiße, die angeblich Glück bringen soll, wenn sie dich trifft. Trifft hier nicht zu? Ja, das sehe ich auch so.
In dem Fall würde ich diesen Moment gern nutzen und den Verlust meiner wunderschönen Dinge betrauern – die Louboutins, die Marc-Jacobs-Tasche, schluchz, das GHD-Glätteisen. Alles weg. Im Ernst. In die Luft gejagt. Aber egal, ich habe beschlossen, nicht mehr darauf herumzureiten (nachdem ich während der letzten vierundzwanzig Stunden nichts als geheult und gejammert habe) und nach vorne zu schauen. Ich bin in Paris, es ist wunderschön, und ich habe jede Menge vor. Habe ich bereits erwähnt, dass ich für das Belle-Magazin schreibe? Hab ich? Oh. Und habe ich bereits erwähnt, dass mein Freund bei einem Festival hier spielt, nein, dass seine Band die Headlining Band ist? Auch ja? Ach du liebe Zeit. Ich bin schamlos, nicht wahr? Das war keine Frage, aber danke.
Da ich jetzt hier in Paris bin, hätte ich gern Vorschläge wohin ich gehen/was ich tun kann. Man denkt, jeder andere kenne Paris wie seine Westentasche, deshalb sind Vorschläge aller Art willkommen. Hätte vielleicht auch jemand einen Tipp für mich, wie man den Effekt von Haarglättern erzielt, ohne tatsächlich welche zu benutzen? Wer das kann, wandert ganz oben auf meine Liste für die Weihnachtskarten.
Nachdem ich den Blog gepostet hatte, öffnete ich meine E-Mails und schaute die weiße Seite an. Das musste erledigt werden, und eigentlich hätte ich es schon längst tun sollen. Ich wusste nur nicht wie. Ich tippte Jennys E-Mail-Adresse in die Adresszeile und starrte weiter darauf. Doch ehe ich loslegen konnte, blinkte ein kleines Feld in der rechten Ecke des Bildschirms. Dieser blöde G Chat.
Hey! Wie ist Paris? Was hast du heute an? Hast du schon Fotos gemacht? Ich bin so neidisch. J xoxo
Mist. Eine Sekunde lang schwebte meine Hand über der Tastatur, versucht, mich auszuloggen. Aber das musste erledigt werden. Und zwar über Instant Messaging.
Hi Jenny. Mir geht’s gut, Paris ist schön, aber es gab ein Riesenproblem mit meinem Koffer.
Er ist nicht mitgekommen?
Ihre Antwort kam schnell. Ich hatte vergessen, dass Jenny eine Meisterin jeder Art von Kommunikation war.
Doch nicht etwa verloren gegangen? Ist alles o.k. mit dir A?
Meine Finger ruhten so lange auf der warmen Tastatur, dass der Bildschirm ein wenig dunkler wurde. Es führte kein Weg daran vorbei – ich musste es ihr beichten.
Nein, nicht o.k. Die Sicherheit hat eine kontrollierte Sprengung vorgenommen – weiß auch nicht warum. Es tut mir SO leid, ich werde das wiedergutmachen. Ich werde alles ersetzen.
Selbst beim Instant Messaging fand ich es beängstigend, dass Jenny stumm blieb. Schweigen war für sie kein natürlicher Zustand, und das war nicht gut. Wieder wurde der Bildschirm dunkler und spielte eine Diashow meiner Fotos ab: ich und Jenny beim Karaoke, ich und Jenny beim Lunch am Rodeo Drive, ich, wie ich Jennys Haare aus dem Gesicht halte, während sie auf der Straße kotzt. Selbst mein Laptop wollte mir eins auswischen. Und mir Angst machen.
Doch bevor ich mich noch mehr hineinsteigern konnte, kam wieder Leben in den Bildschirm und Jennys Antwort.
Das soll ein Scherz sein oder?
Nein, ich schüttelte den Kopf, während ich tippte.
Sie haben ihn gesprengt. Alles ist explodiert.
Wieder folgte eine Pause, aber sie war kürzer als die vorangegangene.
WAS VERDAMMT NOCH MAL MEINST DU MIT SIE HABEN IHN GESPRENGT?
So blöd und sinnlos das auch war, ich machte mich daran, meine Erklärung zu schreiben, doch bevor ich loslegte, tauchte ein kleines Kästchen auf meinem Bildschirm auf. Mein Computer lief auf Reservebatterie. Mist. Instinktiv hielt ich Ausschau nach meinem Ladegerät, doch dann fiel mir ein, dass ich a) nicht zu Hause war und b) mein Ladegerät sich natürlich im Koffer befunden hatte. Ich hatte nicht mal Zeit zu einer Erklärung, da wurde der Bildschirm schon dunkel, und der Laptop schaltete sich selbst ab. Vorsichtig stellte ich ihn auf den Beistelltisch, als könnte Jenny mich irgendwie hören, und schlich mich zurück ins Bett, ohne mir öfter als einmal das Knie am Rahmen anzuschlagen. Während ich unter das seidige Baumwolllaken glitt, vibrierte mein BlackBerry laut auf dem Nachttisch. Ich griff sofort danach, damit Alex nicht aufwachte, ging aber nicht dran. Es war natürlich Jenny. Nach einer Ewigkeit endete der versuchte Anruf, unmittelbar gefolgt von einer SMS.
GEH AN DEIN VERDAMMTES TELEFON
Aber seltsamerweise war mir nach dieser reizenden Nachricht überhaupt nicht danach zumute, an mein verdammtes Telefon zu gehen, also schaltete ich das BlackBerry aus und schloss es in der Schublade neben mir ein. Ich würde am Morgen mit ihr reden. Oder wenn ich wieder Mut gefasst hatte. Oder auch nie. Ich rollte mich zur Seite und kuschelte mich an Alex, dessen warme Arme mich instinktiv im Schlaf umschlangen. Wenn ich bei ihm einzöge, sobald wir zurückkamen, dann bräuchte ich vielleicht gar nicht mehr zurück in die Wohnung. Indem ich mich auf diese Weise von der Jenny-Situation ablenkte, lehnte ich mich zurück, bis ich Alex’ ganzen Körper an meinem spürte. Wir würden zusammenziehen. Bei geschlossenen Augen machte sich ein Grinsen auf meinem Gesicht breit, wogegen das der Grinse-Katze aus Alice im Wunderland armselig ausgesehen hätte, und ich wartete geduldig, bis der Schlaf kam.
»Worüber freust du dich denn so?«, fragte Alex am nächsten Morgen. »Ich glaube, ich habe dich beim Aufstehen noch nie so freudig erlebt.«
Ich drehte ihm den Rücken zu, um eine ernstere Miene aufzusetzen, und zog ein langes graues T-Shirt aus dem Chaos seines Koffers. Vermutlich würde man mich wegen unzüchtiger Zurschaustellung einsperren, aber wir waren hier doch in Europa? Da sollte es doch wohl problemlos möglich sein, in einem zum Kleid erklärten T-Shirt herumzustöckeln. Zur Überprüfung drehte ich mich zum Spiegel um. Ein Blick reichte, um mir das Lächeln aus dem Gesicht zu wischen. Mist. Ohne meine komplette Schminkausrüstung (die ohnehin nicht übertrieben war) sah ich wirklich beschissen aus. Hotelshampoo und Spülung, Handseife anstatt Reinigungsmilch und ansonsten nur noch eine halb leere Tube Beauty Flash Balm, um meinen ganzen Körper einzucremen. Gott sei Dank hatte ich Wimperntusche und Kompaktpuder im Handgepäck behalten, sonst hätte ich mich wie ein verschämter Kobold im Zimmer einsperren müssen.
»Hey, glückliches Mädchen. Was gibt es?«
»Ich bin so aufgeregt, Paris kennenzulernen«, log ich. Die Worte »ich ziehe bei dir ein« wären mir seit dem Weckerklingeln vor einer halben Stunde schon beinahe tausendmal herausgeplatzt, aber ich war entschlossen, es noch für mich zu behalten. »Gibt es was Besonderes, was ich dir und mir vorbehalten sollte?«
»Äh, ich weiß nicht.« Er streckte sich und rollte gefangen in den Laken herum. »Was man üblicherweise so macht, ist alles ein wenig kitschig. Aber mach du nur alles, was du für deinen Artikel brauchst.«
»Ich wüsste nicht, was an Paris kitschig sein könnte«, sagte ich und warf mit einem Kissen nach ihm. Ich ließ ihn nur ungern im Bett zurück. Das war eine der schlimmsten Strafen, wenn man mit einem Jungen zusammen war, der in einer Band spielte – seine Arbeitszeit war fast immer nachts. »Es ist alles so schön.«
»Ja, mag sein.« Er warf das Kissen zurück. »Aber du findest ja auch Les Misérables schön.«
»Versuch jetzt bloß nicht, mir meine Begeisterung für Musicals vorzuhalten«, warnte ich ihn. »Oder ich muss mich fragen, warum die Folgen von America’s Next Top Model, die ich bei dir aufgenommen habe, mir alle sagen, dass sie schon jemand angeschaut hat.«
»Dann treffen wir uns also heute Abend?«, fragte er und wechselte prompt das Thema. »Wir spielen erst gegen zehn, also könnten wir vorher noch was trinken oder auch Abendessen gehen, vielleicht im Le Dix?«
»Schön, dass meine Meinung gefragt ist«, sagte ich, beugte mich übers Bett und küsste ihn auf die Stirn. Dann zog ich die Schublade neben dem Bett auf und holte mein BlackBerry und die Brieftasche heraus und steckte sie in meine Handtasche. »Aber ich war noch nie hier, schon vergessen? Wieso kennst du dich überhaupt so gut aus in Paris? Hast du mal ein Jahr hier zugebracht oder was?«
»Gewissermaßen.« Alex Stimme sank bereits wieder zurück in den Schlaf. Fast als wollte er, dass ich ihn hasste. Oder es wenigstens versuchte.
»Dann schicke ich dir später eine SMS?«, rief ich ihm von der Tür aus zu und überprüfte noch mal, ob ich meinen Zimmerschlüssel dabeihatte.
»Jaja«, murmelte er mir zu und hob die Hand und winkte.
Mistkerl.
Als ich auf dem Weg zum Empfang durch den Hotelgarten schlenderte, machte sich wegen meines Treffens mit Virginie langsam Unruhe bemerkbar. Wenn sie nun auch so wahnsinnig gut aussah und so unglaublich cool war wie die Mädchen gestern Abend in der Bar? Sie arbeitete für das französische Belle-Magazin, also konnte ich nicht erwarten, dass sie irgendwie normal sein würde. Sobald ich die Hotellobby betrat, konnte man sie einfach nicht übersehen. In einem Philippe-Starck-Ghost-Stuhl aus Plexiglas lümmelte ein unglaublich winziges Wesen in schwarzen Jeans, die wie eine zweite Haut saßen, schwarzen Ballerinas und einer langen dünnen Baumwollbluse, die es offen über einer engen schwarzen Weste trug. Das wellige braune Haar fiel wie eine Mähne über seinen Rücken, aber das Auffälligste war der unendlich gelangweilte Ausdruck seines hübschen Gesichts. Es war fast beruhigend zu sehen, dass die Einstellungskriterien bei Belle offenbar international einheitlich waren. Umwerfend. Stimmt. Zu cool für den Rest der Welt. Stimmt.
»Hi, Virginie?«, sprach ich sie an und streckte dabei meine Hand halb zu einem Winken, halb in einer ›Bitte-schüttel-mir-die-Hand-und-starr-mich-nicht-an-als-wäre-ich-verrückt‹-Geste aus. Eine Sekunde lang starrte sie mich jedoch an, als wäre ich verrückt, sprang dann aber kerzengerade auf und ergriff mit beiden Händen die meine.
»Oh, Angela Clark? Natürlich, ich kenne ja Ihr Foto, Sie sind es!«, sprudelte es aus ihr heraus, und das Händeschütteln wurde abgelöst von Luftküssen und raffinierten Umarmungen. »Ich bin Virginie Aucoin, und ich freue mich sehr, Ihnen helfen zu können.«
Ich trat ein klein wenig zurück und wusste nicht recht, was ich erwidern sollte. Das so trübselig aussehende Belle-Mädchen hatte sich plötzlich in ein begeisterungsfähiges Hündchen mit Strahleaugen verwandelt, das keine Minute stillstehen konnte. Sie hüpfte leicht von einem Fuß auf den anderen und grinste mich dabei wie eine Irre an.
»Äh, ja, hallo«, sagte ich, ohne sie verunsichern zu wollen. »Haben Sie schon gefrühstückt? Möchten Sie was?«
»Ich habe noch nicht gefrühstückt. Was hätten Sie denn gern?«, fragte Virginie und wurde ernsthaft. »Frühstück ist sehr wichtig. Wir haben heute viel vor, nicht wahr?«
»Ja?«, sagte ich und ließ mich von ihr aus der Lobby ziehen. »Und ich hätte gern Kaffee.«
Sie blieb vor der Tür stehen. »Nur Kaffee? O Angela, Sie sind schon ganz Amerikanerin. Aber Sie müssen auch was essen. Folgen Sie mir.«
Und während wir die schmale Gasse entlangliefen, redete Virginie wie ein Wasserfall. Zum Glück für jemand so unkultivierten wie mich war ihr Englisch ganz hervorragend, hauptsächlich dank des Jahres, das sie als Praktikantin bei US Belle gearbeitet hatte, wo sie zum ersten Mal auf meinen Blog gestoßen war.
»Der erschien zum ersten Mal kurz vor meiner Rückkehr nach Paris«, erklärte sie, während sie um die nächste scharfe Kurve bog und wir einen prächtigen offenen Platz erreichten, gesäumt von eindrucksvollen Wohnhäusern. »Das ist der Place des Vosges, sehr alt, sehr schön. Hier haben vor langer Zeit viele berühmte Leute gewohnt. Kennen Sie den Schriftsteller Victor Hugo? Und Kardinal Richelieu? Hier möchte ich eines Tages selbst gern wohnen. Das ist mein Traum.«
»Victor Hugo, der Les Mis schrieb?«, hakte ich nach und warf einen begeisterten Blick auf einen der Brunnen und die hübschen Bäume auf dem Platz. »Das kann nicht sein.«
»Les Misérables? Sie mögen seine Bücher?«, fragte Virginie. »Victor Hugo?«
»Ich würde sagen ja«, erwiderte ich und hoffte, jetzt in keine ernsthafte Diskussion über französische Literatur einsteigen zu müssen. Da wäre ich auf der Stelle als Musicalfan entlarvt. »Ich finde es gut, Träume zu haben. Wenn Sie eines Tages hier wohnen möchten, dann werden Sie das auch sicherlich schaffen. Die meisten Mädchen bei Belle in Amerika scheinen ihre Paläste in der Park Avenue bereits gefunden zu haben. Sollen wir einen Kaffee trinken?«
»Aber Sie«, sagte sie und zog mich weiter und schob mich dann auf einen kleinen Stuhl vor einem Kaffeehaus unter einem hübschen Torbogen. Für ein so winziges Geschöpf hatte sie viel Kraft. Mein Verdacht, dass sie eigentlich Scrappy-Doo war, erhärtete sich zunehmend. »Sie leben Ihren Traum doch bereits. Ich lese jeden Tag Ihren Blog, und alles klingt so aufregend. Sie verlassen London, gehen nach New York, bekommen einen Job, treffen interessante Leute, interviewen Prominente, Sie reisen nach L. A., nach Paris. Ich konnte es kaum fassen, als angefragt wurde, ob Ihnen jemand hier in Paris helfen könnte. Ich war ganz aus dem Häuschen.«
»Nun, bei Ihnen klingt das viel aufregender, als es tatsächlich ist«, sagte ich und kam mir dabei wie eine große Schwindlerin vor. »Die meiste Zeit sitze ich eigentlich nur auf meinem Hosenboden und starre meinen Laptop an. Ehrlich.«
»Aber Sie sind meine Heldin«, ergänzte sie schüchtern und schaute mich aus ihrer Haarmähne heraus von unten an. Ich musste unbedingt herausfinden, welche Pflegeprodukte sie verwendete. »Ich würde gern Ihr Leben führen.«
Was ich darauf sagen sollte, wusste ich nun wirklich nicht. Normalerweise war ich so damit beschäftigt, mich durchzuwursteln, dass ich nie einen Schritt zurücktrat und mein Leben von außen betrachtete. Außerdem war ich mir ziemlich sicher, dass die meisten Menschen dies nur dann tun, wenn irgendwas schlecht läuft, nicht wenn alles gut geht. Ich hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass man mit dem Glücklichsein am besten zurechtkam, wenn man den Kopf senkte und einfach weitermachte, aus Angst, alles könnte in die Hosen gehen.
»Ich bin mir sicher, dass auch Sie ein wunderbares Leben haben, Virginie. Leben in Paris, arbeiten bei Belle.« Dabei dachte ich an Cici, die als Marys Assistentin bei der The Look Website festsaß, und hatte einen kurzen Moment Mitleid mit ihr. »Ich kenne viele Leute, die nur zu gern das täten, was Sie machen.«
»Ja, das weiß ich«, sagte sie, winkte einen Kellner herbei und bestellte für uns beide. »Aber, und damit möchte ich nicht den Eindruck erwecken, dass ich trotz meiner Chancen unglücklich bin, das bin ich nämlich nicht, aber für das Belle-Magazin zu schreiben ist nicht das, was ich eigentlich möchte. Ich habe mich um die Praktikantinnenstelle beworben, um New York kennenzulernen, und war glücklich, dort einen Job zu bekommen, den ich natürlich annehmen musste. Aber die Mädchen dort sind nicht meine Freundinnen. Ich kann ihre Einstellung zur Mode, für die sie sich begeistern, nicht teilen.«
»Wirklich?« Ich war unglaublich erleichtert. Wäre es denkbar, dass sie allem Anschein zum Trotz doch normal war? Abgesehen von dieser Verehrung für mich, an die ich mich offengestanden ganz gut gewöhnen könnte. »Also, das ist völlig o.k., ich bin auch keine Haute-Couture-Besessene, und man hat mich trotzdem gebeten, für Belle zu schreiben. Und Sie werden dort großartige Erfahrungen sammeln, dessen bin ich mir sicher.«
»Das stimmt«, gab sie mir recht und holte ein Baguette aus dem Brotkorb, der zwischen uns stand, strich Butter darauf und tunkte es dann in ihren Kaffee, auf dem danach Butter und Brot schwammen. »Und es hat mir dazu verholfen, Sie kennenzulernen. Ich freue mich so sehr, dass wir Freundinnen werden.«
»Wir werden keine Freundinnen, wenn Sie das noch mal tun«, würgte ich. »Das ist ekelhaft.«
»Wirklich?« Sofort ließ Virginie ihr Brot auf ihren Teller fallen. »Es tut mir sehr leid. Ich werde es nicht wieder tun.«
»O Gott, nein, sorry, machen Sie weiter«, entschuldigte ich mich umgehend. »Ich bin nur nicht daran gewöhnt, dass Leute … das tun.«
Sie lächelte mich verlegen an, nahm ihr Brot, knabberte vorsichtig daran, aber tunkte es nicht mehr in ihren Kaffee. Ich musste lächeln, griff nach meiner Tasse und wandte meinen Blick ab. Meine Güte, das war wirklich zu viel Macht, die ich hier über einen Menschen hatte.
Nachdem das Brot und die Croissants aufgegessen waren, stürzten wir uns auf die wichtigen Dinge. Die pains au chocolat. Und den Artikel.
»Dann wissen Sie demnach, worum es in dem Artikel geht«, fragte ich sie. Sie nickte und hatte bereits Block und Bleistift in ihren eifrigen Händen. »Gut, uns bleiben zwei Tage, um das geheime Paris zu entdecken, alle coolen Klamottenläden, Bars, Restaurants und so. Sind Sie dem gewachsen?«
»Das bin ich«, jubelte sie und sprang von ihrem Stuhl auf. »Lassen Sie uns loslegen!«
»Gut, aber beruhigen Sie sich und bleiben Sie noch einen Moment lang sitzen.« Ich merkte, dass ich meine Hände in der Luft hatte und mit geballten Fäusten rasche kleine Boxbewegungen machte, und zog sie schnell auf den Tisch zurück. »Das ist noch nicht alles, ich hatte mir Notizen gemacht und so, aber es gab ein Problem mit meinem Koffer, weshalb ich sie jetzt nicht mehr habe. Ebenso wenig meine Kamera. Oder irgendwelche anderen Kleider. Oder ein Netzkabel für mein MacBook. Oder sonst etwas …«
Ich wollte die Geschichte nicht noch mal erzählen.
»O.k.« Virginie nickte ernsthaft. »Ich habe ein paar Ideen, wo wir hingehen können, und ich bin mir sicher, dass wir dort auch für Sie was zum Anziehen finden werden, Notizblöcke lassen sich leicht kaufen, und ich habe eine Kamera dabei, weil ich gehofft habe, wir könnten ein Foto von uns beiden machen. Was das Netzkabel für den Mac betrifft, kann ich Ihnen nicht weiterhelfen, ich kenne in Paris keinen Laden dafür.«
»Gut.« Es war wirklich eine große Erleichterung, ein so freundliches und hilfsbereites Gesicht an meiner Seite zu haben. »Ich sollte im Büro anrufen und dort nachfragen. Vielleicht kann man mir dort weiterhelfen.«
Ich zog mein BlackBerry heraus und ging die Kontakte durch, bis ich zu Donna kam. Oh, das würde ihr bestimmt gefallen. Doch kurz bevor ich auf die Taste für Anrufen drückte, hielt ich inne. Sie hatte mir bereits mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass sie nicht zu meinen größten Fans gehörte. Ich scrollte weiter zu Esme und verweilte wieder. Gleiche Situation. Wen sollte ich also anrufen? So sehr ich mich instinktiv dagegen wehrte, gab es wirklich nur eine Person, die infrage kam. Cici.
Doch anstatt anzurufen – selbst Cicis neu entdeckter Kameradschaftsgeist dürfte seine Grenzen haben, und halb sieben Uhr morgens könnte eine davon sein – öffnete ich meine E-Mails, übersprang die vier, die ich bereits von Jenny bekommen hatte (jedes Problem zu seiner Zeit) und tippte eine kurze Nachricht. Ich skizzierte meine hauptsächlichen Probleme, umschrieb allerdings die kontrollierte Sprengung und entschied mich dafür, dass mein Gepäck verloren gegangen war. Nachdem die E-Mail abgeschickt war, steckte ich das BlackBerry in meine jetzt unglaublich kostbare und einzige Marc-Jacobs-Tasche und lächelte Virginie an. Und sie strahlte um tausend Watt heller zurück.
»Können wir los?«, fragte sie und hüpfte dabei tatsächlich in ihrem Stuhl auf und ab.
»Wir können«, bestätigte ich. Und ich werde hoffentlich stark genug sein, dich nicht in der Seine zu ertränken, fügte ich im Stillen hinzu, als sie meinen Arm packte und mich die Straße hinunterzog.
»D’accord, ich denke da an einen Laden, den ich kenne, nicht weit von hier, wo man aus alten Lederjacken Handtaschen macht«, sagte Virginie und führte mich durch die nächste der eleganten, schmalen Straßen. »Das wäre doch was für Ihren Artikel, oui?«
»Perfekt.« Ich nickte, viel zu beschäftigt damit, alles um mich herum aufzunehmen, als mich ernsthaft zu konzentrieren. Paris war wirklich wunderschön. Hätte ich doch nur meine Kamera dabei. Die Sonne schien auf die Straßen mit ihrem Kopfsteinpflaster, wärmte meine nackten Gliedmaßen und half mir, mich in meinem improvisierten Kleid weniger auffällig zu fühlen. Es war fast so warm wie in New York, aber nicht annähernd so feucht. Sämtliche Auslagen der Geschäfte bestanden aus großen Schaufenstern in Holzrahmen, und die Wohnungen darüber zierten fast allesamt puppenhausähnliche Blumenkästen voll üppigem Blumenflor. Während ich das staunend auf mich wirken ließ, spürte ich das Vibrieren meines BlackBerrys an meiner Hüfte. Ich versuchte mit Virginie Schritt zu halten, während ich gleichzeitig die Textnachricht las.
Hi Angela,
das mit Ihrem Koffer ist ja beschissen. Sie müssen völlig traumatisiert sein. Ich wüsste auch nicht, was ich in so einer Situation tun würde. Aber keine Panik, es wird alles gut werden. Ich habe mit meinem Großvater gesprochen, und er sagt, Sie sollen die Kamera und das Zeug für den Laptop mit der Kreditkarte ersetzen, die ich Ihnen geschickt habe, das Gleiche gilt für Ihre Kleider. Da Sie sich auf einer Geschäftsreise befinden, sind Sie versichert, und Spencer Media haftet für Ihren Verlust. Ich möchte nur sagen, übertreiben Sie’s nicht – auch Belle hat ein Budget, wie ich annehme. LOL.
Was Ihre Notizen angeht, können wir natürlich nicht viel unternehmen, aber ich kann Ihnen eine Liste einiger der Läden schicken, in denen ich selbst am liebsten einkaufe, wenn ich in Paris bin. Im Moment bin ich im Fitnessstudio und muss dann erst noch ein paar Dinge für Mary erledigen, weshalb ich sie Ihnen erst später zukommen lassen kann, genießen Sie einfach Paris! Ich werde mich darum kümmern, keine Sorge.
Cici xoxo
Als ich die E-Mail zum ersten Mal las, wäre ich fast hintenübergefallen. Beim zweiten Mal war ich fassungslos. Als ich sie mir dann von Virginie hatte laut vorlesen lassen, um sicherzugehen, dass ich nicht verrückt geworden war, war sie endlich bei mir angekommen. LOL? Cici und laut lachen mit mir? Das war völlig widernatürlich und konnte nicht sein.
»Sie scheint sehr hilfsbereit zu sein.« Virginie hielt mir mein BlackBerry hin. Ich nahm ihn vorsichtig entgegen, als wäre er verhext. Was er auch sein musste. »So habe ich sie nicht in Erinnerung.«
»Sie haben Cici kennengelernt?«, fragte ich.
»Ja«, erwiderte Virginie. »Sie möchte unbedingt für Belle arbeiten. Manchmal hatte ich Projekte mit ihr und habe ihr geholfen.«
Ich betrachtete sie aufmerksam. Merkwürdig, sie sah nicht aus, als wäre sie von einem Sadisten gequält worden. »Dann sind Sie Freundinnen?«
Sie lachte kurz auf, hielt sich aber sofort die Hand an den Mund. »Verzeihung, das war unhöflich«, schob sie rasch nach. »Aber nicht doch, Cici Spencer und ich sind keine Freundinnen. Sie kann die Praktikantinnen und Assistentinnen, die für Belle arbeiten, nicht ausstehen. Ich glaube, sie denkt, äh, wenn sie uns überzeugt, dort wegzugehen, dann bekommt sie vielleicht den Job.«
»Genau«, sagte ich. Puh! Noch mal davongekommen.
»Sind Sie denn befreundet?«, tastete Virginie sich vor. »Sie und Cici?«
Ohne zu überlegen stieß ich ein Lachen aus, das ihrem gleichkam. »Nein, auf keinen Fall. Auch wenn die E-Mail etwas anderes vermuten lässt.« Ich hakte mich bei Virginie unter und sagte lächelnd: »Ich traue Cici Spencer kein bisschen über den Weg. Und jetzt gehen wir und sehen uns in diesem Taschenladen um.«
Der Morgen verging wie im Flug, aber ich hatte das Gefühl kilometerweit gelaufen zu sein. Was auch tatsächlich der Fall war, als Virginie mir unsere Route auf dem winzigen Stadtplan zeigte, den ich gekauft hatte. Neben den Adressen jeder Menge cooler Läden war es mir auch gelungen, dies und das für meine winzige Pariser Garderobe zu erstehen. Obwohl ich überhaupt nicht damit klarkam, die Firmenkreditkarte für Dinge meines eigenen Bedarfs einzusetzen, blieb mir nicht viel anderes übrig. Ich hatte gerade erst meine Miete bezahlt, von Vanessa allerdings ihren Anteil noch nicht bekommen, und bis es wieder Geld gab, war noch eine Woche hin. Und ich war wirklich sehr schlecht gekleidet. Jetzt hatte ich wenigstens gut sitzende Jeans (eine Pariser Marke), ein paar T-Shirts (Gott segne die internationale Plage von American Apparel), ein paar süße Secondhand-Kleider (die definitiv unter Recherche fielen) und ein Paar Schuhe als Ersatz für die alten und leicht schmuddeligen flachen von Primark, die ich auf der Reise anhatte (einfach notwendig). Gut möglich, dass ich die beiden Halsketten und die paar Armreifen nicht benötigte, die ich mir noch ausgesucht hatte, aber ich schrieb jetzt immerhin für Belle, und da durfte ich schließlich nicht ohne Accessoires durch Paris schlendern.
Die Hitze war längst nicht so drückend, wie das in New York der Fall gewesen war, aber gegen drei Uhr nachmittags welkte ich dann doch langsam dahin. Glücklicherweise schien dann auch Virginies Power, die an einen jungen Hund erinnerte, langsam nachzulassen.
»Ich denke, wir brauchen ein Eis«, verkündete sie.
»Ein guter Plan«, willigte ich ein und schälte mir ein paar klebrige Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Wohin sollen wir gehen?«
»Die Seine ist gleich hier, sehen Sie?« Virginie deutete auf die andere Seite einer viel befahrenen Kreuzung. »Auf der anderen Seite dieser Straße liegt die Île Saint-Louis, und dort bekommen wir das beste Eis. Das beste Eis der Welt.«
»Ich weiß nicht«, sagte ich und folgte ihr glücklich. »Auch in New York gibt es sehr gutes Eis.«
Zum ersten Mal drehte sich Virginie um und sah mich todernst an. »Es ist das beste Eis der Welt.«
»OK.« Ich streckte achselzuckend meine Hände aus. »Wie Sie meinen.«
»Verflucht noch mal, das schmeckt umwerfend«, murmelte ich, den Mund voller Nougateis. »Entschuldigung, ich wollte nicht fluchen.«
Virginie nickte mir mit zufriedener Miene zu. »Es ist das Beste, stimmt’s?«
Zur Antwort kratzte ich mit meinem Löffel über den Boden meines kleinen Metallschälchens. Ben & Jerry bedeuteten mir jetzt nichts mehr. Als ich mich, ohne vom Eis abgelenkt zu werden, umsah, blieb mir der Mund offen stehen. Alles in dieser Stadt war schön. Die Nachmittagssonne knallte herab auf die graue Steinbrücke, welche die Insel mit dem Rest der Stadt verband, und spiegelte sich in der Seine. Auf der anderen Flussseite säumten schöne Wohnhäuser, deren Fenster hinter geschlossenen Fensterläden lagen, die Ufer, und Turmspitzen, Kirchtürme und Glockentürme bestimmten die Silhouette. Der Unterschied zur schlichten, stilisierten Ansicht von Manhattan, wie ich sie von Alex’ Wohnzimmerfenster aus sah, hätte größer nicht sein können. Alles wirkte so alt und elegant, und ich hätte hier für immer sitzen bleiben und die Stadt bestaunen können.
»Es gibt hier in Paris so viele schöne Dinge zu sehen«, unterbrach Virginie meinen Tagtraum. »Möchten Sie eine Führung durch die Stadt machen?«
»Das würde ich nur zu gern«, sagte ich und sah mich schon am linken Seineufer auf einem Fahrrad in einem Brigitte Bardot entlehnten Ensemble entlangradeln. Die Brigitte Bardot der Sechzigerjahre, nicht die verrückte Katzenlady. »Aber ich weiß nicht, haben wir schon genug gearbeitet?«
Ich blätterte mein Notizbuch durch. Meinem Gefühl nach hatten wir schon viel erledigt und viele Geschäfte und Cafés gesehen, aber wenn ich es mir genau ansah, dann blieb nicht viel davon übrig. Keinesfalls genug für 10.000 Wörter.
»Wir haben heute sehr viel gearbeitet«, befand Virginie und klappte das Notizbuch in meiner Hand zu. »Sie haben schon vieles beisammen. Außerdem bleibt uns noch morgen. Und Cici schickt ihre Liste, non? Sie müssen Paris kennenlernen, Angela, ich bestehe darauf.«
»Und das möchte ich auch«, sagte ich ein wenig wehleidig und starrte auf ein großes Boot voller Touristen, das vorbeifuhr. »Aber die Arbeit ist so wichtig. Vielleicht könnten wir heute noch ein paar Nachforschungen anstellen und dafür morgen das Touristenprogramm absolvieren?«
»Morgen soll das Wetter nicht mehr so gut sein.« Virginie verzog ihr hübsches Gesicht. »Aber ja, wenn Sie es so wollen. Ich dachte, wir könnten uns morgen noch mehr Läden und Cafés auf der anderen Seite der Stadt ansehen. Was man auch bei schlechtem Wetter machen kann.«
»Schlechtes Wetter?« Ich biss mir auf die Lippen und versuchte das bohrende Gefühl in meiner Magengrube zu ignorieren. Ich wollte diesen Artikel wirklich, wirklich gut machen. Und hatte noch Unmengen Zeit. Aber wie sollte ich, ohne ein allgemeines Gefühl für die Stadt entwickelt zu haben, dem Artikel die entsprechende Atmosphäre verleihen? Unmöglich. »Vielleicht sehen wir ja noch was Interessantes, während wir uns die Stadt ansehen, oder?«
»Natürlich. Ich habe überlegt, dass wir den offenen Bus nehmen sollten. Auf diese Weise sehen Sie alles gleich auf einmal.« Virginie lachte und meinte: »Das ist zwar, wie Sie sagen würden, ein bisschen kitschig. Aber ich denke, es könnte Ihnen gefallen.«
»Ich mag es kitschig«, gab ich zu. »Werden wir den Eiffelturm sehen?«
»Werden wir«, sagte sie mit spitzem Mund. »Sie wissen doch wohl, dass die Pariser den Turm nicht mögen? Sie finden ihn hässlich.«
»Man hört ja alles Mögliche über die Franzosen«, sagte ich, stand auf und entfernte mich nur zögernd von dem Mann mit der Eiscreme. »Aber ich glaube nicht alles, was ich höre.«
»Aber das können Sie glauben«, sagte Virginie und deutete zur anderen Straßenseite. »Wir müssen die Métro nehmen.«
»Aber Sie rasieren sich doch die Beine, oder?«
»Ich nehme Wachs.«
»Und Sie geben doch den Kindern keinen Wein?«
»Ich kenne keine Kinder.«
»Aber würden Sie es tun?«
Virginie erwiderte seufzend: »Zur Métro geht es hier lang.«
Ausgezeichnet. Endlich hatte ich sie geknackt.