Elf

Taschen_1c.tif»Und wie war dein Tag?«, fragte ich und fiel über den Brotkorb her. Erst das Brot, Alkohol später. Ich hatte meine Lektion gelernt. »Sind die Meetings gut gelaufen?«

Alex nickte und trank einen Schluck Rotwein. Ich hatte Champagner vorgeschlagen, aber er meinte hartnäckig, er habe nichts zu feiern. Jungs sind ja so empfindlich.

»Hast du alle Leute von der Plattenfirma gesehen?« Ich konnte ruhig weiterhin Fragen stellen, obwohl ich wusste, dass er nicht antworten würde. Sobald wir das Hotel verlassen hatten, war es, als hätte jemand bei ihm einen Schalter umgelegt. Ich musste ihm jedes Wort aus der Nase ziehen. Nicht dass er sonst eine Plaudertasche gewesen wäre, aber seltsam war es.

»Ja, alles erledigt«, sagte er, nahm ein Stück Brot und riss gedankenverloren die Kruste ab. »Erzähl mir von deinem Tag.«

»Bin aufgestanden, habe mir ein Netzkabel für meinen Mac geholt, bin nach Hause gekommen, habe gebloggt und dann auf dich gewartet«, berichtete ich ihm. »Nun komm schon, raus damit. Welche Interviews hast du heute gegeben? Hast du ganz Frankreich gesagt, wie sehr du mich liebst?«

»Ach, lass das, Angela!« Alex machte ein langes Gesicht. »Ich habe den ganzen Tag nur geredet. Können wir mal eine Stunde ohne Fragen auskommen?«

»O.k.«, sagte ich und gab mir Mühe, mit seinen Stimmungsschwankungen mitzuhalten. »Äh, was machen wir nach dem Essen?«

»Das ist die Frage.«

»O ja.« Ich biss mir auf die Lippe und überlegte kurz. »Ich habe heute Nachmittag im Marais so einen hübschen kleinen Garten entdeckt.«

»Ach ja?« Alex nickte, als der Kellner zwei Teller mit steak frites vor uns stellte. »Erzähl mir davon.«

»Dort war es wunderschön.« Ich wollte mich nicht von dem riesigen Stück Fleisch ablenken lassen, das vor mir auf dem Teller lag. Gütiger Gott, ich liebte gutes Essen. »Es gibt dort einen ganz fantastischen Innenhof, umgeben von äußerst eleganten Bogengängen, hinter denen ein Garten mit niedrigen, beschnittenen Hecken liegt, die in schwungvollen Wirbelmustern angelegt sind. Es war so friedlich dort und schön. So anders als New York.«

»War das etwa das Musée Carnavalet?«, fragte er zwischen zwei Bissen.

»Ja! Ich fand es toll.« Dabei nickte ich enthusiastisch. »Dort sollten wir hingehen, wenn wir Gelegenheit dazu haben. Ich vergesse immer wieder, dass du dich hier auskennst.«

»Ja, ich weiß nicht.« Er hielt seinen Blick auf den Teller gerichtet. »Ich meine, du triffst dich morgen zum Lunch mit Louisa, oder? Und am Sonntag ist das Festival und, nun ja, am Montag fahren wir schon wieder nach Hause.«

»Es ist wirklich schade«, sagte ich. Mein Messer schnitt in das Fleisch, als wäre es Butter. Oh, das würde lecker schmecken. »Ich wünschte, wir hätten uns mehr Dinge ansehen können.«

»Und ich weiß nur, dass ich es nicht erwarten kann, wieder nach Hause zu kommen.« Alex schenkte uns beiden Wein nach. »Das war doch keine so gute Idee, wie ich anfangs gedacht hatte.«

»Oh.« In diesem Moment hätte ich genauso gut Rindfleisch aus der Dose essen können. »Gefällt es dir denn nicht?«

»Hey, natürlich freue ich mich, dass du hier bist«, ruderte er zurück. »Ich hatte nur nicht gedacht, dass wir so viel arbeiten müssen.«

»Ja, bekannt zu sein, ist schon schlimm, nicht wahr?« Ich versuchte dabei eine Braue hochzuziehen, aber aua aua.

»Es nervt«, bestätigte er mit einem kleinen Lächeln, bevor sein Gesicht wieder zusammenfiel. »Und weißt du, ich hätte wissen müssen, dass Paris streng genommen für mich kein glücklicher Ort ist. Ich fühle mich hier einfach nicht wie ich selbst.«

Es brauchte kein Genie, um zu ahnen, worauf er anspielte, aber ich war mit mir übereingekommen, dass mir an diesem Abend der Name Solène nicht über die Lippen käme.

»Ich bin wirklich froh, dass du im Moment hier bist«, ergänzte er und legte Messer und Gabel ab. »Und es tut mir leid, dass wir nicht mehr Zeit miteinander verbracht haben.«

»Wir sind jetzt zusammen«, sagte ich und zwang mich zu lächeln. »Aber jetzt wirst du eine Weile das Gespräch führen müssen, damit ich dieses fantastische Steak essen kann.«

»Wie wär’s, wenn wir beide äßen und dann redeten?«, feilschte Alex mit mir und rieb dabei seinen Fuß über die Innenseite meines Beins. »Lass uns eine Weile den anderen zuhören.«

»Du kannst dir das vornehmen«, sagte ich, den Mund voll blutigen Fleisches. Ich hielt mir eine Hand vor den Mund, aber darüber waren wir schon lange hinweg. Gott sei Dank. »Du verstehst nämlich, was die anderen alle sagen.«

»Und es ärgert dich, dass du das nicht kannst«, sagte er mit dem ersten richtigen Lächeln, das ich seit einer Stunde gesehen hatte.

»Ich bin Autorin, also wissbegierig«, protestierte ich.

»Du bist neugierig«, konterte er.

»Und ich dachte, wir reden nicht beim Essen?«

Alex spießte ein Stück Steak auf seine Gabel und grinste.

»Fühlt es sich jetzt anders an?«, fragte ich ihn später, als wir Eis essend durch die Straßen flanierten. Es war noch immer warm, und Alex blieb stehen, um ein verirrtes Rinnsal von meinem Handrücken zu lecken.

»Was soll sich anders anfühlen?«, fragte er und kehrte zu seiner eigenen Kugel zurück und schwenkte dabei fröhlich meinen Arm. Die zweite Flasche Rotwein und der Champagner, den ich bestellt hatte, während er auf der Toilette war, schienen ihn etwas lockerer gemacht zu haben.

»Dreißig zu sein«, erklärte ich. »Fühlst du dich anders?«

»Nein«, erwiderte er rasch. »Wie findest du das Eis?«

»Du bist kein so guter Lügner und kannst mich nicht so leicht ablenken«, erwiderte ich genauso schnell. »Aber ein bisschen anders musst du dich doch fühlen, oder?

»Ich glaube nicht«, sagte er und zog mich in eine kleine Gasse mit Kopfsteinpflaster, beiderseits gesäumt von kleinen Läden, die bunte Stoffe verkauften. »Sehe ich etwa anders aus?«

Ich leckte kräftig an meinem Eis und betrachtete ihn dann. Dieselben glänzenden schwarzen Haare, hinten kurz und zerzaust, eine Strähne, die immer ein wenig abstand, weil er den ganzen Tag mit seiner Hand durchstrich. Vorn lang und glänzend und leicht nach links abgeteilt, sodass eine Seite ihm immer über die Augenbraue fiel und vor seinen Augen hing, die leuchtend grün waren. Jetzt wirkten sie ein wenig müde, aber es war spät, und die halbe im Sessel verbrachte Nacht dürfte klaren Augen nicht förderlich gewesen sein. Ein paar Lachfältchen erinnerten mich daran, dass er, abgesehen von den letzten paar Tagen, viel mehr Zeit mit Lächeln als mit Grübeln und Schmollen verbrachte. Die andere Seite seiner Haare war länger und fiel über seinen ausgeprägten Wangenknochen und betonte den Kontrast seiner schwarzen Haare auf der blassen Haut. Seine Lippen waren so voll und rot wie immer. Als sie sich zu einem kleinen Lächeln in die Breite zogen, konnte ich sehen, dass sie vom Rotwein gefärbt waren.

»Nun, was ist, sehe ich für dich alt aus?«, fragte er noch mal.

Ich schüttelte den Kopf und stellte mich auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen, ohne auf das Eis zu achten, das mir über die Finger lief. »Du siehst o.k. aus.«

»Gut, danke dafür. Jetzt komm weiter.«

»Wohin gehen wir?«, fragte ich, und mein Herz hüpfte schneller, als mir das in meinen geliehenen Louboutins möglich gewesen wäre. Ich warf meine leere Waffel in einen Abfallkorb, während Alex seine aß.

»Du wolltest Paris sehen.« Er deutete auf eine steile Treppe. »Dann lass uns Paris sehen.«

Ich schaute nach oben und sah dort eine schöne Kirche mit einer prächtigen Kuppel. »Sacré Cœur?«, fragte ich, meinem inneren Rough Guide folgend.

»Sacré Cœur«, bestätigte Alex. »Schaffst du diese Treppen in deinen Schuhen?«

»Ich liebe dich dafür, dass du mich gut genug kennst, um mich das zu fragen«, sagte ich und schaute hinunter auf die kleinen Folterinstrumente, die ich mir an die Füße geschnallt hatte. »Und ich finde es schön, dass ich mich bei dir wohl genug fühle, um darauf antworten zu können: Nein, nein, das kann ich nicht.«

»Dann komm«, lachte Alex und zog mich zu einem kleinen Ding, das wie eine Trambahn aussah. »Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, bis sie schließen.«

Nach einem Spießrutenlauf vorbei an Männern, die uns Eiffeltürme aus Plastik und Sacré Cœur als Schneekugel verkaufen wollten, drehte ich mich, eingezwängt in die Menschenmenge, die schon auf die Auslöser ihrer Kameras drückte, bevor sie vor der Kirche stand, um, und schaute hinaus auf Paris. Es war ein atemberaubender Anblick, ein pechschwarzer, von Sternen gesprenkelter Himmel fand sein Ebenbild in der Stadt darunter. Nachdem ich wieder Luft holen konnte, drehte ich mich zur Kirche um, für die es, wenn man so sagen kann, keine Worte gab. So schön war sie. Hübscher als Notre Dame, einladender und nicht so imposant, aber dennoch pathetisch. Der weiße Stein schien in der Dunkelheit zu leuchten, Scheinwerfer strahlten das Gebäude von unten an, und geschickt platzierte Spots hoben alle schönen Details hervor. Sollten Makel vorhanden sein, konnte ich sie nicht sehen. Jenny würde alles tun, um herauszufinden, wer hier für die Beleuchtung verantwortlich zeichnete, um diejenigen sofort für ihre nächsten Porträts zu engagieren.

»Gefällt es dir?«, fragte Alex und legte von hinten seine Hände auf meine Schultern.

»Ganz fantastisch«, sagte ich und schaute dabei abwechselnd auf die Kirche und auf das Panorama. »Danke, dass du mich hierhergebracht hast.«

»Ich wusste, dass dir die Aussicht gefällt«, flüsterte er. »Und ich bin mir ziemlich sicher, dass dies das Einzige an Paris ist, das älter ist als ich.«

»Ja, du siehst in etwa gleich alt aus.« Dabei knuffte ich ihn leicht.

»Ich bin es leid, dir ständig sagen zu müssen, dass du den Mund halten sollst«, sagte er und zog sich behände hoch auf das Mäuerchen vor uns. »Es ist doch wunderbar, oder? Ich bin immer gern hierhergekommen, weil einem hier Paris zu Füßen liegt.«

»Schöner als vom Eiffelturm?«, fragte ich und suchte nach dieser Landmarke.

»Der ist auf der anderen Seite«, sagte Alex, der wieder mal meine Gedanken las. »Und tatsächlich schöner. Die Pariser hassen den Eiffelturm, wie du weißt.«

»Snobs«, sagte ich und klatschte mit seinen Händen zwischen meinen. »Aber das hier ist umwerfend. Ich bin begeistert, wie Paris wogt.«

»Wogt?«

»Ja, du weißt schon«, sagte ich und gestikulierte in Ermangelung adäquater Worte. »So ein ständiges Auf und Ab. Die Gebäude sind rund, dann wieder eckig, hoch und niedrig. Alles fühlt sich, ich weiß nicht, kurvig an.«

»Und wie fühlt sich New York an?« Er sah mich amüsiert an. Das war fair, als Autorin sollte ich mich schließlich ausdrücken können.

»New York ist dünn«, befand ich. »Alles ist hoch und schmal und hält die Luft an. Wenn es eines gibt, was London zu bieten hat und was ich in New York vermisse, dann sind es die kleinen Grünflächen dazwischen. Es kann furchtbar klaustrophobisch sein. Es gibt nicht genug Plätze, wo man sich einfach mal niederlassen und eine Minute Pause machen kann.«

»Die Leute haben keine Minute Zeit«, erklärte er. »In Manhattan ist immer was los.«

»Das stimmt.« Ich nickte und versuchte mir eine Strategie auszudenken, wie ich das Gespräch auf meinen Einzug bei ihm bringen konnte. »Aber hier habe ich das Gefühl, ich würde nie irgendwas geschafft kriegen. Diese Stadt ist dazu gemacht, herumzuschlendern, Händchen zu halten und Eis zu essen.«

»Und sich zu betrinken. Ist dir aufgefallen, wie viele Bars es hier gibt?« Dabei zog er mich an sich heran.

»Ich bemühe mich, es nicht zu registrieren«, sagte ich und musste dabei an meinen Alkoholkonsum in L. A. denken. Nicht gut. Seit meiner Rückkehr ruhte noch immer ein und dieselbe Flasche Wodka in meiner Wohnung, und ich hatte seit über einer Woche eine Flasche Wein im Kühlschrank. Seit Jennys Auszug hatte sich einiges verändert.

»Dann ist London vielleicht die perfekte Mischung von beidem?«, schlug er vor.

»Aber nicht perfekt«, widersprach ich. »Denn es fehlen ein paar ganz entscheidende New Yorker Zutaten.«

»Ja?«, fragte er, als ich meine Stirn an seine lehnte.

»Ja.« Und presste dann meine Lippen so lange auf seine, wie das ohne Luftholen möglich war. Er schmeckte würzig und warm wie Rotwein, doch dazu kam die Süße der Eiscreme.

»Jetzt aber im Ernst«, sagte ich und kuschelte mich zwischen seine Knie und legte die Hände auf seinen Schultern ab. »Du fühlst dich überhaupt nicht verändert? Weil du jetzt dreißig bist?«

»Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht«, sagte Alex und zog ein paar Haare aus meinem Gesicht, um sie nach hinten zu streichen. »Aber nein.«

»Gut.« Ich schüttelte sie zurück. Mochte er auch mein blaues Auge vergessen haben, ich nicht. Und auch nicht die amerikanischen Touristen neben uns, die flüsternd darauf zeigten. Aber da beide über vierzig waren, Baseballkappen und Bauchtaschen trugen, gab ich auf ihre Meinung nicht allzu viel. »Welche Pläne hattest du, als du noch jünger warst, für die Zeit mit dreißig? Was dachtest du dann zu tun?«

»Ich weiß es nicht.« Er drückte sich von der Mauer ab und blickte dann stehend an mir vorbei hoch zur Kirche. »Ich habe wohl schon vor einer ganzen Weile aufgehört, darüber nachzudenken. Die Dreißig pirscht sich recht schnell an einen heran.«

»Du redest, als wärst du bereits alt«, sagte ich und lehnte mich an ihn, um meine Brust zwischen seine Schultern und sein Kinn zu legen. »Du musst doch ehrgeizige Pläne gehabt und dir ein Ziel gesetzt haben?«

»Ja, hatte ich.« Er nickte und strich mit seinen Lippen über meinen Scheitel. »Ich wollte von der Musik leben können und hatte Glück, denn das konnte ich schon, als ich noch recht jung war.«

»Und du wolltest doch Filmmusik machen?«, fragte ich. Sein Körper strahlte immer so viel Wärme aus, obwohl die Nachtluft um uns herum abkühlte. »Das hast du vor langer Zeit mal gesagt.«

»Das will ich immer noch, ich freue mich darauf«, sagte er. »Tatsächlich hat mir James Jacobs gestern eine entsprechende Mail geschrieben. Ich soll mich bei ihm melden.«

»Das solltest du«, erwiderte ich und sonnte mich ein wenig darin, daran nicht ganz unbeteiligt zu sein. Denn manchmal beunruhigte es mich, dass ich Alex nicht viel zu geben hatte, nichts, was er nicht bereits hatte oder von sich aus erreichen und bekommen konnte. »Und sonst ist da nichts? Nichts, was du dir gewünscht hast?«

»Was wünschst du dir denn?«, fragte er und verstärkte den Druck seiner Umarmung. »Wenn du dreißig bist, wo möchtest du dann sein?«

Hm, er drehte den Spieß einfach um. Das traf mich unerwartet. »Ich weiß es auch nicht genau, ich würde vielleicht gern ein Buch schreiben? Ich würde gern für mehr Zeitschriften schreiben, nicht nur den Blog, sondern mehr Artikel wie diesen, den ich für Belle mache.«

»In New York?«

»Ja. In New York.«

In Williamsburg, bei dir in deiner Wohnung, fügte ich in Gedanken hinzu. Warum konnte ich es nicht einfach laut aussprechen? Jetzt war der perfekte Zeitpunkt dafür.

»Cool. Einen unheimlichen Moment lang dachte ich, du würdest sagen, verheiratet mit Babys«, lachte er. »Puh!«

»Ja, puh!«, wiederholte ich.

Moment mal, was?

»Alex?«

»Ja?«

»Was hättest du gesagt, wenn ich gesagt hätte, verheiratet mit einem Baby?«

Er schwieg einen Moment lang, aber ich spürte, wie sich seine Arme und seine Kinnlade anspannten. »Aber das willst du doch nicht. Oder doch?«

»Nicht notwendigerweise, bis ich Dreißig bin«, erwiderte ich und wählte meine Worte mit viel Bedacht. »Aber ich würde nicht sagen, dass ich nie welche haben möchte.«

»O.k.«, meinte er diplomatisch.

»Du nicht auch?« Ich starrte dabei auf die Knöpfe seines Hemdes. »Wünschst du dir das nicht?«

»Ich habe es mir mal gewünscht«, sagte er zögernd. Mir war klar, dass er seine Worte mit genauso viel Bedacht wählte, wie ich meine. Doch besser fühlte ich mich nicht dabei. »Aber ich habe aufgehört, daran zu denken, und so ist es vor geraumer Zeit einfach von meinem Radar verschwunden. Ich möchte behaupten, dass ich diese Dinge nicht brauche, um glücklich zu sein.«

Meine Hände lösten sich von seiner Taille und fielen auf die Mauer hinter ihm. »Gut«, sagte ich leise und hoffte, meine Tränen im Zaum halten zu können. Dann war ich also nicht das dafür infrage kommende Mädchen. Und so sehr es mich überraschte, ihn das sagen zu hören, war meine eigene Reaktion die viel größere Überraschung. Ich war nicht auf seinem Radar? Er brauchte diese Dinge nicht, um glücklich zu sein? Brauchte er mich dann überhaupt?«

»Du flippst jetzt aber nicht aus, oder?«, hörte ich ihn über meinem Kopf sagen. »Ich meine, da du nicht bei mir einziehen willst und so, bin ich davon ausgegangen, dass dir diese Dinge auch nicht wichtig sind.«

»Ähm«, murmelte ich und hoffte, es klang nicht zustimmend. Was soll’s? Ich bin schließlich ein Mädchen, und natürlich dachte ich an »diese Dinge«! Vielleicht nicht morgens, mittags und abends und vielleicht auch nicht in unmittelbarer Zukunft, aber warum sollten »diese Dinge« mir nicht durch den Kopf gehen? In einem prächtigen Pariser Garten etwa, wo ich mir ausmalte, wie umwerfend ich in meinem Ein-süßer-Fratz-Hochzeitskleid aussähe, während Louisa und Jenny in Kanariengelb eine ganz schlechte Figur machten.

»Vermutlich hat es doch auch was Gutes gehabt, hierherzukommen«, meinte er erleichtert. »Ich habe nämlich erkannt, dass ich dich wegen dieser Einzieherei wahnsinnig bedrängt habe, und du sollst wissen, dass ich gern warte und du dir so lange Zeit lassen kannst, wie du brauchst. Es ist zu früh, da hast du recht. Wenn man das überstürzt, macht das alles kaputt.«

Ich drückte meine Fingerspitzen gegen den kalten Stein der Mauer, bis ich die Spannung bis hinauf in meine Schultern spürte und meine Hände zu zittern anfingen.

»Ist dir kalt?«, erkundigte sich Alex und hob mein Gesicht an.

Ich wandte mich rasch ab und versuchte eine Träne hinter einem Gähnen zu verstecken. Und nickte in die Hände, die mein Gesicht umfasst hielten. »Und ich bin müde.«

»Dann lass uns zurückgehen«, sagte er, griff nach meiner Hand und drückte sie. »Wir nehmen ein Taxi, denn wir sind recht weit weg vom Hotel, und ich weiß, Geburtstag oder nicht, du wirst mir einen Tritt in den Hintern verpassen, wenn diese Schuhe kaputtgehen.«

Sollte er bemerkt haben, dass etwas nicht stimmte, so gab er vor, es nicht zu bemerken. Ich hielt mit ihm Schritt und schaute nur nach vorn. Zwar hatte ich mir versprochen, das Wort nicht auszusprechen, doch es zu denken war erlaubt. Er hatte also einmal an Heirat und Babys gedacht. Und man musste kein Genie sein, um herauszufinden, wann dieses Einmal war. Er hatte Solène heiraten und mit ihr Kinder haben wollen. Aber mit mir wollte er das nicht.

»Alex?«, sagte ich, als wir die Straße überquerten, um zum Taxistand zu gelangen. »Ich habe wirklich viel darüber nachgedacht, wie es wäre, bei dir einzuziehen.«

»Ist schon o.k., Angela. Rue Amelot, s’il vous plaît?«, ergänzte er für den Taxifahrer. »Ich habe es dir doch gesagt, ich weiß, dass ich dich zu sehr bedrängt habe. Das Einziehen ist jetzt vom Tisch, du brauchst dir keine Gedanken mehr um mich zu machen. Ich habe es kapiert.«

»Aber ich habe mir überlegt, dass ich vielleicht doch bereit bin, ja, bei dir einzuziehen«, sagte ich und kroch über den Rücksitz. Doch selbst mich vermochte der Ton meiner Stimme nicht zu überzeugen. Wie auch jetzt?

»Ja?« Er klang noch weniger überzeugt. »Lass uns darüber reden, wenn wir wieder in New York sind. Nicht heute Abend.«

Schweigend fuhren wir zurück zum Hotel. Alex starrte aus dem Fenster, stützte dabei eine Hand an seine Schläfe und presste seine Stirn gegen die Scheibe, und ich versuchte mir mit Blick auf seinen Hinterkopf darüber klarzuwerden, zu welchem Zeitpunkt der Abend gekippt war. Dann wollte er jetzt also nicht mehr mit mir zusammenziehen? Und er wollte nicht heiraten und Kinder kriegen? Ich atmete tief durch. Ich machte die Sache schlimmer, als sie war. Das musste es sein. Ich war beschwipst, ich war müde, ich war gestresst. Ich würde weder heiraten, noch bei Alex einziehen, noch Kinder mit ihm haben.

»Wir sind da«, sagte er schließlich und tippte auf meinen Schenkel. »Bist du wach?«

»Hm, ja.« Ich öffnete die Wagentür und wäre beim Aussteigen beinahe mit einem vorbeifahrenden Roller zusammengestoßen. Der Fahrer hupte und stieß eine französische Beschimpfung aus, und ich, plötzlich hellwach und aufmerksam, machte mich ganz dünn an der Wagentür.

»Hey.« Alex zog mich mit sich, nachdem der Fahrer weitergefahren war und mich mitten auf der Straße hatte stehenlassen. »Willst du dich überfahren lassen? Komm mit rein.«

Ich ließ zu, dass er seinen Arm um mich legte, und wir durchquerten leise die Rezeption, die wieder Alain-los war. Alex erzählte mir von seinem Warm-up-Gig am Samstagabend und sagte mir, um welche Uhrzeit wir am Sonntag zum Festival aufbrechen mussten und dass er schreckliche Angst vor dem Rückflug hatte. Ich nickte dazu, hatte aber eher das Gefühl, mir selbst zuzusehen, als am Gespräch teilzunehmen.

Als wir auf dem Zimmer waren, ließ ich mir Zeit im Badezimmer und entfernte pingelig auch noch die letzten Spuren meines Make-ups, anstatt heimlich noch etwas Mascara dranzulassen, um es »danach« zu entfernen. Anschließend putzte ich volle drei Minuten lang meine Zähne. Nachdem ich zum zweiten Mal gepinkelt hatte, konnte ich es nicht länger hinauszögern. O mein Gott, zögerte ich tatsächlich das Zubettgehen mit Alex hinaus? Als ich die Badezimmertür öffnete, sah ich, dass er bereits im Bett lag und sämtliche Lampen bis auf die auf dem Nachttisch gelöscht hatte. Ich ging zum Bett, schlüpfte unter die Laken und nahm die gewohnte Position ein: mein rechter Arm über seinem Bauch, mein Kopf auf seinem Schlüsselbein. So lagen wir dann ein paar Minuten lang in verlegenem Schweigen, während seine Hand über meinen Unterarm wanderte und ich abwesend mit dem Ärmel seines T-Shirts spielte. Das war das erste Mal. Nicht dass er sich im T-Shirt ins Bett gelegt hatte, sondern dass ich es ihm nicht vom Leib riss. Und er fiel auch nicht gerade über mich her, wobei ich mir nicht sicher war, ob ich das gewollt hätte. Nachdem ein paar Minuten verstrichen waren, drehte ich mich herum und löschte das Licht. Die Uhr auf dem Nachttisch blinkte 1.30 Uhr. Ich war ohne Nickerchen über zwölf Stunden auf, kein Wunder also, dass ich so müde war.

Bevor ich wieder zurückrollen konnte, drehte Alex sich zu mir um und schob seinen Körper näher an meinen heran und wickelte seinen Arm um meine Taille. Er drückte mir einen warmen Kuss auf meinen Nacken und gähnte dann laut.

»Ich kann nicht glauben, dass wir an meinem Geburtstag in Paris sind und uns einfach nur schlafen legen«, murmelte er mir ins Haar. Hörte sich dabei aber überhaupt nicht ungläubig an. Sondern viel eher so, als wollte er mir verdeutlichen, dass mehr nicht drin war.

Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Er unternahm nicht einmal den Versuch, mich anzumachen, in diesem Fall hätte ich ihn wenigstens abblitzen lassen können. Mir war nicht nach Sex zumute, weil ich sauer und durcheinander war, aber was soll’s? Er wollte keinen Sex mit mir haben? Er sollte aber immer Sex mit mir haben wollen! War er nicht genetisch darauf programmiert, immer Sex haben zu wollen? Dafür war das Y-Chromosom doch wohl da?

»Liegt vielleicht daran, dass ich so alt bin.« Er gähnte wieder und drückte mich.

Wenige Minuten später spürte ich, wie sein Atem ruhiger wurde und sein Arm um meine Taille erschlaffte. Ich schielte auf die Nachttischuhr, bis meine Augen sich an das Licht gewöhnt hatten: 1.47 Uhr. Mir war bewusst, dass nachts immer alles schlimmer war. Am Morgen würde ich mich nicht halb so elend fühlen. Da zöge Ruhe in meinen Magen ein, der sich jetzt anfühlte, als würde eine Hamsterfamilie dort ihre Einweihungsparty feiern. Und mir wäre auch nicht mehr danach zumute, mir die Augen auszuweinen. Wenn ich erst mal eine Nacht darüber geschlafen hatte, ging es mir mit Sicherheit besser.