Kapitel 4
In dem ein Klingelzug außer Betrieb ist
Das schreckliche Schicksal von Miss Belvadine Forrest (der Name des Opfers, wie sich später herausstellte) hatte auch einige angenehme Nebenwirkungen für Victoria. Denn aufgrund dieser traumatischen Entdeckung war es ihr natürlich unmöglich, am Abend zur Dinnerparty von Mrs. Burlington-Frigate zu gehen.
Lady Melly standen fast die Tränen in den Augen, und sie brachte nur ein etwas zittriges Lächeln zustande … trotzdem akzeptierte sie die Entschuldigung. Bewaffnet mit den neuesten Informationen aus erster Hand und königlich herausgeputzt machte sie sich allein auf den Weg zur Dinnerparty.
Währenddessen begab Victoria sich erleichtert nach St. Heath’s Row.
Als die Kutsche durch die eiserne Pforte auf das Anwesen Rockley House fuhr, schaute sie an den Stallungen vorbei zur kleinen Familienkapelle, die von mehreren Ahornbäumen eingerahmt wurde. Es war fast zwei Jahre her, dass sie das Buch des Antwartha dort versteckt hatte, damit es Lilith nicht in die Hände fiel, und jetzt ruhte Briyani im selben Gebäude, bis er beerdigt wurde.
Vampire waren nicht in der Lage, die Steinmauern, die das Gebäude umgaben, zu erklimmen, denn die einzelnen Steine waren im Gedenken an St. Heath, der hier offensichtlich gestorben war, mit Kreuzen versehen. Allerdings war diese Geschichte ziemlich in Vergessenheit geraten, und nur die Familie ihres Mannes, die de Lacys, hatten je von St. Heath gehört, sodass keine Möglichkeit bestand, sie auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen. Ein größeres Kreuz war oben an der schmiedeeisernen Pforte angebracht. Es teilte sich, wenn das Tor geöffnet wurde. Und dann war natürlich auch die Kapelle selbst viel zu heilig, als dass irgendein Untoter sie hätte betreten können.
Ein Stallbursche half ihr beim Aussteigen aus der Kutsche, und Victoria eilte die Stufen zur hohen zweiflügeligen Tür hinauf. Als Erstes würde sie eine Brieftaube mit einer Nachricht zu Wayren schicken, damit diese hoffentlich eine Möglichkeit fand, Max über Briyanis Tod in Kenntnis zu setzen. Außerdem wollte sie ihr von dem Vorfall im Park berichten. Bei der Vorstellung, dass ein Vampir einen Menschen am helllichten Tage angegriffen hatte, drehte sich Victoria fast der Magen um. Vampire konnten Sonnenlicht doch gar nicht ertragen. Wurden sie der Sonne ausgesetzt, verbrannten sie sofort. Nicht einmal ein so mächtiger Vampir wie Lilith konnte Sonnenlicht ertragen.
Und das erinnerte sie wieder an den Kupferring, den Sebastian gefunden hatte. Weder hatte er ihn ihr angeboten, noch hatte er einen Hinweis darauf gegeben, was er damit machen wollte. Doch wie auch immer er sich entscheiden mochte, sie hätte ein viel besseres Gefühl, wenn er irgendwo im Konsilium verwahrt wurde. Immerhin hatte er sie damit geneckt, dass sie ihm für seinen Fund ihre Dankbarkeit zeigen müsste …
»Mylady«, psalmodierte ihr überaus korrekter Butler Lettender, als sie über die Türschwelle in die riesige Eingangshalle trat, »der Herr erwartet Sie im Salon.«
Seine Worte ließen sie überrascht stehen bleiben. »Wie bitte?«
»Der Herr ist eingetroffen. Er erwartet Sie im Salon«, erwiderte Lettender mit qualvoll gleichmütiger Stimme, als würde er regelmäßig solche Ankündigungen von sich geben.
Victoria hatte plötzlich einen ganz trockenen Mund, und ihre Handflächen waren schweißnass, als sie sich langsam zur doppelflügeligen Tür des Salons umdrehte. Es war eigentlich absurd, aber sie hatte nie bemerkt, dass jede einzelne Kassette mit Intarsien versehen war, welche eine Lotusblüte darstellten. Der Schmuck war eine angenehme Unterbrechung der ansonsten nüchternen weißen Flächen.
Eigentlich hätte es kein so großer Schock für sie sein dürfen. Schließlich hatte sie gewusst, dass der Erbe ihres Ehemannes irgendwann in naher Zukunft eintreffen würde. Sie war einfach nur … es war ein sehr langer und anstrengender Tag gewesen.
Und sie war noch nicht so weit, dem Mann gegenüberzutreten, der Phillips Platz einnehmen würde.
Victoria holte tief Luft und streckte die Hand nach dem gläsernen Türknauf aus. Er war kühl, sogar durch ihren Handschuh hindurch, als sie ihn drehte.
Sie trat in den Raum und drehte sich um, als wolle sie sich überzeugen, ob ihre Röcke auch vollständig mit durch die Tür gekommen waren, ehe sie sie wieder schloss. Sie wollte keine Zeugen dieser Begegnung.
Ihr Blick schweifte durch den Raum.
Er musste bemerkt haben, dass sie eben mit der Kutsche nach Hause gekommen war, denn er stand an einem der hohen, schmalen Fenster, von denen aus man auf die Auffahrt blicken konnte. Er kehrte ihr den Rücken zu. Vielleicht hatte er nicht gehört, dass die Tür geöffnet und wieder geschlossen worden war … oder vielleicht bereitete er sie beide auch nur auf das Unausweichliche vor.
Aber diesen Gedanken tat Victoria ab. Worauf musste er sich schon vorbereiten? Er, der arme amerikanische Verwandte, hatte gerade einen Titel und Ländereien geerbt, die ihn auf einen Schlag reich machten und ihm eine hohe gesellschaftliche Stellung sowie einen Sitz im House of Lords verschafften. Es gab nichts, worauf er sich hätte vorbereiten müssen, wenn er der Frau gegenübertrat, die jetzt die Dowager Marquise von Rockley war.
Er drehte sich zu ihr um, aber weil er von hinten von der Sonne angestrahlt wurde, lag sein Gesicht im Schatten. Der erste Eindruck, den sie bekam, war der von einem vollen Schopf und breiten Schultern, doch dann trat er vom Fenster weg und kam näher heran.
»Mrs. Rockley«, begrüßte er sie mit schleppender Stimme. »Ich freue mich, Sie kennen zu lernen. Ich bin James Lacy, und es ist mir eine Ehre, mit Ihnen unter diesem Dach zu wohnen.«
Sein gesamtes Auftreten – die gedehnte Sprache, die Freude, die seine Miene ausstrahlte, der Schnitt seiner schlecht sitzenden Kleidung – unterschied sich so sehr von Phillip, dass Victoria eine Mischung aus Erleichterung und Bedauern verspürte. Und dann erst wurde ihr klar, was er gesagt hatte.
Offensichtlich war ihm die Bedeutung seiner Worte auch erst jetzt ins Bewusstsein gedrungen, denn seine gebräunten Wangen wurden einen Tick dunkler und seine Augen größer. »Oh, Verzeihung, Mrs. Rockley. Ich habe das nicht so gemeint. Ich wollte sagen« – er hatte angefangen zu lächeln und sie erwiderte es – »dass Sie jederzeit willkommen sind und so lange hierbleiben können, wie Sie wollen. Sie müssen nicht überstürzt ausziehen«, fügte er eilig hinzu. »Ich habe meine Sachen ins Gästezimmer bringen lassen.«
In dem Moment spürte Victoria, wie ihre Ängste sich in Luft auflösten. Nicht weil er ihr angeboten hatte zu bleiben, sondern weil dieser Mann so ganz anders war als Phillip … so weit entfernt von dem vornehmen, korrekten Mann, den sie geliebt hatte, dass es ihr plötzlich gar nicht mehr so schwierig und schmerzhaft schien, wenn er den Titel übernahm.
Er musste wohl ein sehr weit entfernter Verwandter der de Lacys sein, denn zumindest auf den ersten Blick konnte sie, was die äußere Erscheinung betraf, keinerlei Ähnlichkeit mit ihrem Ehemann erkennen. Phillip hatte walnussbraune Haare gehabt, während das störrische Haar dieses Mannes eher rehbraun war. In den Winkeln seiner braunen Augen waren tiefe Falten, was entweder darauf hinwies, dass er häufig lächelte oder häufig in die Sonne blinzelte. Da er tief gebräunt war, ging sie eher von Letzterem aus. James Lacy, der ab jetzt für alle und jeden in England nur noch Rockley sein würde, war vielleicht fünf Jahre jünger als Phillip, wenn dieser noch gelebt hätte. Victoria schätzte ihn auf ungefähr dreiundzwanzig.
Lady Melly wäre entsetzt gewesen, wenn sie hier gewesen wäre und seine Kleidung gesehen hätte. Er trug zwar Pantalons, ein Hemd und ein Jackett wie jeder andere englische Gentleman … doch man sah seiner Kleidung deutlich an, dass noch nie ein Schneider bei ihm Maß genommen hatte. Die Pantalons waren in den Knien und sogar darüber ausgebeult, und das Jackett war zu kurz für seine langen Arme.
Ihre Musterung war innerhalb eines Augenblicks abgeschlossen, dann machte Victoria einen höflichen Knicks vor ihm. »Lord Rockley, es ist mir eine Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen, und ich möchte Sie in St. Heath’s Row willkommen heißen.«
»Danke, Mrs. Rockley.« Dann wirkte er plötzlich beschämt und lächelte etwas verlegen. »Oder heißt es Mrs. Lacy? Ich hoffe doch, dass Sie mir bei all diesen Dingen helfen, die ich für den gesellschaftlichen Umgang brauche – die korrekte Benutzung von Titeln, gutes Benehmen und was es sonst noch alles gibt, was so überaus wichtig für dieses schwere Ding zu sein scheint. Ich bin erst vor drei Stunden von Bord gegangen.«
»Das schwere Ding?«, wiederholte Victoria, während sie einen Anflug von Panik zu unterdrücken versuchte. Das Letzte, was sie brauchen konnte, war eine weitere Aufgabe auf ihrer ohnehin schon langen Liste. Trotz des Charmes, mit dem er seine Selbstkritik äußerte, und seiner ungezwungenen Freundlichkeit verspürte sie kein Verlangen danach, ihm dabei zu helfen, seinen Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Das konnte er doch nicht wirklich von ihr erwarten. »Verzeihung, aber ich weiß nicht so recht, worauf Sie hinauswollen. Und die korrekte Anrede mir gegenüber wäre Lady Rockley oder Mylady. Sie wird man einfach Rockley nennen, da Sie jetzt den Titel Marquis von Rockley tragen.«
»In den Augen der Londoner Gesellschaft bin ich jetzt also nicht mehr James Lacy, der Mann aus Kentucky?« Seine Miene war leicht verwirrt, als könne er nicht ganz begreifen, dass er seine alte Identität verloren hatte. »Ich bin jetzt nur noch ein Titel?«
»Nur enge Freunde würden Sie James nennen«, erklärte Victoria. »Ihr Name wird sich ändern, sodass man Ihnen Ihren Titel und die Ländereien zuordnen kann, aber Sie werden immer noch Sie selbst sein – James Lacy, der Mann aus Kentucky … wer immer das auch sein mag.« Genau wie sie immer noch Victoria Gardella Grantworth de Lacy war – und trotzdem auch ein Venator, von Geburt an.
Er sah sie einen Moment lang an, so lange, dass sie das Gefühl hatte, rot werden zu müssen. »Dann wird mich ja vielleicht meine Frau mit meinem Vornamen ansprechen.«
»Ja, das ist in der Tat üblich … vor allem, wenn man unter sich ist.« Irgendwie hatte Victoria das Gefühl, dass ihr die Kontrolle über das Gespräch entglitten war, und so machte sie wieder einen Knicks, um sich zu verabschieden. »Ich werde mich jetzt zurückziehen, Mylord, und die notwendigen Vorbereitungen treffen, um Ihnen die Räumlichkeiten zu überlassen, die Ihnen zustehen. Bitte verzeihen Sie, dass ich mich nicht schon längst darum gekümmert und gleich alles nach meiner Rückkehr aus Italien in die Wege geleitet habe.«
»Nein«, sagte er und streckte die Hand nach ihr aus – um dann jedoch gleich innezuhalten, als habe er gemerkt, dass er zu weit ging. »Nein, Mrs. … Mylady. Bitte, machen Sie sich meinetwegen keine Umstände. Ich bin an viel kleinere, weniger komfortable Behausungen als dies hier gewöhnt. Es käme mir sehr unfreundlich vor, Sie zu vertreiben. Das alles hat Zeit. Es muss doch noch andere Räume geben, in denen ich meine Sachen unterbringen kann.« Jedes Mal, wenn er ich sagte, klang es so, als würde er plötzlich etwas begreifen.
»Das ist sehr zuvorkommend von Ihnen«, erwiderte Victoria, die nicht sicher war, was sie von seinen Einwänden halten sollte. Einerseits hatte sie nach einer Entschuldigung gesucht, um aus den Räumen auszuziehen, die der Herrin des Hauses zustanden und neben den Zimmern des Hausherrn lagen. Andererseits war sie eigentlich noch nicht bereit, sie wegen der bittersüßen Erinnerungen, die sie mit ihnen verband, aufzugeben. »Es gibt viele sehr bequeme Zimmer, unter denen Sie auswählen können. Ich werde das Personal über Ihre Wünsche in Kenntnis setzen, wenn Sie möchten.«
»Das käme mir sehr entgegen. Ich muss gestehen, dass es mir schwerfällt, die Sprache, die hier gesprochen wird, zu verstehen. Es hat ewig gedauert, bis ich wusste, was der Butler eigentlich sagt – er ist doch der Butler, oder? Der Mann, dessen Augenbrauen weiter nach vorn ragen als seine Nase?«
Als Victoria überrascht lächelte und nickte, fuhr er mit dem ihm eigenen, seltsam gedehnten Tonfall fort: »Ich habe erst beim dritten Anlauf verstanden, dass ich mein Pferd dem Stallburschen überlassen sollte und ich erst um drei Uhr Tee bekommen könnte – allerdings hat er mir irgendetwas anderes zum Essen angeboten, irgendetwas, das er ›Mahl‹ nannte. In Kentucky trinken wir nicht häufig Tee, aber wenn, dann in Momenten, wenn wir Appetit darauf haben … und nicht um drei.«
Victoria konnte das leichte Lächeln nicht unterdrücken, das um ihre Lippen zuckte und sofort kniff sie den Mund zusammen. Sie wollte ihn auf gar keinen Fall kränken. Er besaß einen erfrischenden Charme und Humor, der sie einen Moment lang vergessen ließ, wie düster ihr Leben sonst war. Die feinen Damen des ton würden ihm in kürzester Zeit aus der Hand fressen. Und da begriff sie erst, wovon er vorhin gesprochen hatte. »Als Sie von dem schweren Ding sprachen, da meinten Sie den ton?«
»Ja, Madam, genau. Wo finden wir den ton? Und was machen wir damit?«
Wieder musste Victoria ein Lächeln unterdrücken, ehe sie erklärte, dass haute ton der Spitzname der crème de la crème der Londoner Gesellschaft war – und dass er jetzt auch ein Mitglied von diesem schweren Ding war. Am Ende, als sie alles erklärt hatte, waren beide am kichern. Die Unterhaltung mit James – er hatte darauf bestanden, dass sie ihn so nannte (»denn wenn Sie es nicht tun, weiß ich ja gar nicht, mit wem Sie reden!«) – endete damit, dass er ihr das Versprechen abrang, ihm beim Dinner im Speisesaal Gesellschaft zu leisten.
Doch erst würde sie Kritanu, der bei Briyanis Leichnam in der Kapelle war, einen Besuch abstatten; ihr blieb dann noch genug Zeit, um sich fürs Abendessen umzuziehen.
Trotz der Zeit, die es sie kosten und die ihr an anderer Stelle fehlen würde, hatte Victoria den Verdacht, dass die Mahlzeit wahrscheinlich der erfreulichste Teil ihres Tages sein würde.
* * *
Es war weit nach elf Uhr abends desselben Tages, als Victoria sich bei James Lacy entschuldigte, um sich zurückzuziehen, damit er den französischen Brandy aus Armagnac genießen konnte, der für ihn eine Entdeckung war. Anscheinend war er es gewöhnt, einen in Kentucky weit verbreiteten Fusel zu trinken, der sich genauso scheußlich anhörte, wie er wohl auch schmeckte. Sie selbst hatte zwei Gläser Sherry getrunken – eins mehr als sonst – und sie fühlte sich mehr als nur ein bisschen entspannt.
Doch als sie die Treppe hochstieg, fiel ihr alles wieder ein: Vor weniger als vierundzwanzig Stunden war sie mit Sebastian zusammen durch einen Abwasserkanal gewatet. Und die Ereignisse des restlichen Tages hatten sie noch zusätzlich verwirrt, besorgt und traurig gemacht.
Nachdem sie in ihrem Zimmer angekommen war, zog sie am Klingelzug, um ihre Zofe Verbena zu rufen, damit diese ihr dabei half, sich bettfertig zu machen. Oder vielleicht auch nicht …
Auf ihrem Ankleidetisch stand eine brennende Lampe, doch Victoria unterließ es, sie höher zu drehen. Stattdessen ging sie zum hohen Fenster, von dem aus sie in den vom Mond beschienenen Garten schauen konnte. Da ihr Zimmer so schwach beleuchtet war, konnte sie durch die Scheibe nach draußen blicken. Vom Mond war nur ein Viertel zu sehen, und Wolken verdeckten viele der Sterne, sodass der Boden in tiefe Schatten aus schwarz und dunkelblau getaucht war. Ein hellgrauer Streifen deutete einen Kiesweg an, und ein dunkelvioletter Busch zeichnete sich hinter einer weiß schimmernden Bank ab, die ein paar Mondstrahlen abbekam.
Nachdenklich berührte sie das kühle Glas. Vielleicht sollte sie heute Nacht hinausgehen auf die Straßen, um etwas über einen Vampir herauszufinden, der am helllichten Tage angriff.
Aber vielleicht war es auch besser, sich einmal richtig auszuschlafen, um die Wirkung des Sherrys loszuwerden und auch einmal Abstand von all den Problemen zu bekommen, mit denen sie konfrontiert war; wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
Allein.
Obwohl Sebastian hier bei ihr in London war, kam und ging er, wie es ihm gefiel, und Victoria fühlte sich entsetzlich allein. Keiner ihrer Venatoren-Gefährten war bei ihr, kein Mensch war da, der sie verstand und wusste, wie ihr Leben aussah.
Max war fort, und nur Gott wusste wohin. Wayren war in Rom, zusammen mit den anderen Venatoren, die Victoria kennen gelernt und zu denen sie eine tiefe Zuneigung entwickelt hatte – Brim, Michalas und all die anderen.
Tante Eustacia war tot. Kritanu war zwar da, betrauerte aber seinen Neffen und litt immer noch unter dem Verlust von Tante Eustacia.
Sie vermisste auch den freundlichen, gütigen Zavier, ein Venator, der keinen Zweifel daran gelassen hatte, dass er Victoria den Hof machen wollte. Er war von Beauregard umgebracht worden.
Sie hörte das leise Klicken einer Tür, als Verbena durch das Wohnzimmer, das zwischen den Schlafzimmern des Marquis’ und der Marquise lag, zu ihr kam. Victoria überlegte immer noch, ob sie sich von ihrer Zofe in ein Nachthemd oder eine Hose helfen lassen sollte, während sie weiter aus dem Fenster schaute.
Den Bruchteil einer Sekunde später wurde ihr bewusst, dass Verbena eigentlich nie so leise war – egal wie spät es war oder wie müde sie sein mochte. Victorias Herz machte einen Satz, und die Haare auf ihren Armen richteten sich auf.
Gerade als sie herumwirbeln wollte, trat eine Gestalt hinter sie – ein verschwommener Umriss, der sich in der Fensterscheibe abzeichnete und dann wieder verschwand. Kräftige Hände schlossen sich mitten in der Bewegung um ihre Schultern. Obwohl er nicht so stand, dass sie ihn in der Scheibe hätte sehen können, erkannte sie ihn jetzt – an der Art, wie er sie berührte, dem vertrauten Geruch, der von seinen Fingern ausging, wie sein Körper sich an ihren drückte. Ihre Anspannung ließ nach.
»Wo ist Verbena?«, wollte sie wissen. Sie machte keine Anstalten, sich zu ihm umzudrehen.
»Ich glaube, die schläft tief und fest«, meinte er. »Ein hübsches Mädchen, aber wenn sie schläft, ist sie eindeutig weniger attraktiv. Ihr Schnarchen lässt die Fenster klirren und würde bestimmt jeden Gentleman, der … äh … ihr beiliegen möchte, vertreiben … obwohl ich zu behaupten wage, dass der arme Oliver dennoch die Gelegenheit ergreifen würde, wenn sie sich ihm böte.«
»Ich habe nach ihr geklingelt. Sie wird jeden Moment hier sein.«
»Ich fürchte, du irrst.« In der Scheibe konnte sie sehen, dass er einen Arm von ihrer Schulter nahm. In seiner Hand baumelte ein schmales Band.
»Hast du etwa den Klingelzug abgeschnitten?«
»Ich wollte nicht, dass Euer Ruf ruiniert wird, Lady Rockley«, erklärte er mit einem verführerischen Schnurren in der Stimme. »Zumindest nicht hier in diesem Haus.« Er trat dichter an sie heran und drückte sich mit dem ganzen Körper an sie, sodass er sie von den Schulterblättern über den Hintern bis zu den Hacken berührte. Durch seine Nähe wurden ihre nackten Schultern ganz warm. »Vor allem, nachdem der neue Marquis jetzt eingetroffen ist.«
»Es wäre dir recht geschehen, Sebastian, hättest du dich ins falsche Zimmer geschlichen. Wenn ich nun in ein anderes Zimmer gezogen wäre, wie es in dem Fall zu erwarten ist … was dann?«
Er lachte leise, und sein Atem ließ die Haare in ihrem Nacken zittern. Er hatte seine Hände auf ihre Schultern gelegt und begann sie zu reiben, wobei er immer wieder über die schmalen Ärmel strich. »Was meinst du wohl, warum Verbena so tief schläft? Sie hatte nichts dagegen, sich mit mir bei einem Gläschen Brandy zu unterhalten …«
»… in das du bestimmt ein bisschen salvi gegeben hast, damit sie dich nicht stören kann. Kein Wunder, dass sie schnarcht.« Victoria wäre eher gestorben, als zuzugeben, dass sein Streicheln ihre Verärgerung und Anspannung vertrieb und sie allmählich begann, sich wohl zu fühlen. Vielleicht sogar mehr als wohl.
»Natürlich bin ich auf alles vorbereitet. Und erfinderisch.«
Victoria löste sich sanft von ihm und drehte sich um. »Wie sehr ich deine Verführungsversuche auch genießen mag …«
»Wirklich?« Seine sinnlichen Lippen verzogen sich zu einem unwiderstehlichen Lächeln. »Und ich dachte schon, ich würde es nie schaffen …«
»… muss ich doch davon ausgehen, dass es andere Gründe gibt, warum du dieses Treffen arrangiert hast.« Sie standen sehr dicht voreinander, sodass ihre Pantoffeln gegen seine Stiefel stießen. Der Saum ihres Kleides strich über seine Füße, und der Stoff bauschte sich zwischen seinen Knöcheln. Er sah sie an, und sein volles, hellbraunes Haar strahlte golden im Lampenschein.
»Musst du? Wie … verheerend.« Im selben Moment zog er sie in seine Arme und so fest an sich, dass sie selbst im schwachen Licht seine Wimpern sehen konnte.
»Ich dachte eigentlich, dass du heute Morgen ziemlich wütend auf mich warst«, wisperte sie, plötzlich froh, dass er es nicht mehr zu sein schien. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und das Zimmer kam ihr mit einem Schlag sehr warm vor. Irgendetwas schien sich mit einem Klick in ihr gelöst zu haben. Und sie nahm nicht an, dass es nur am Sherry lag.
»Das war ich auch. Und wahrscheinlich bin ich es immer noch«, erwiderte er, und sein Atem strich warm über ihr Gesicht. »Aber jetzt kann ich mich eigentlich gar nicht mehr recht an den Grund dafür erinnern.«
Auch sie war sich nicht sicher, ob sie noch wusste warum.
Victoria trat dichter an ihn heran, und ihr Fuß schob sich zwischen seine, während sie ihren Mund auf seinen legte. Wärme strömte durch ihren Körper, als hätte sich plötzlich ein fest verschlossener Behälter geöffnet, und sie sank gegen ihn. Mit seinem ganzen Körper fing er sie auf, und als ihre Münder miteinander verschmolzen, hob sie die Hände, um seine Brust zu berühren. Sie spürte seine Wärme unter dem Leinenhemd und die erhabenen Muskeln, die sich unter ihren Fingern anspannten.
Ehe sie Einwände erheben konnte, machte Sebastian sich schon an den Knöpfen auf der Rückseite ihres Kleides zu schaffen. »Vielleicht könnte ich heute Abend ja Verbenas Platz einnehmen«, meinte er nach einem besonders langen, tiefen Kuss.
Victoria lachte leise, ganz dicht an seinem Mund. »Ich bin enttäuscht von dir«, murmelte sie, während sie sein Halstuch wegzog. »Ich hätte dich für origineller gehalten. Ich kann mir vorstellen, dass es in London Dutzende von eifrigen Liebhabern gibt, die sich jederzeit als Zofe verdingen würden.«
Er lachte kurz auf und hauchte dabei auf die empfindsame Stelle neben ihrem Ohr, sodass sie erbebte. »Wenn es mir an Schlagfertigkeit mangelt, dann nur deinetwegen, Victoria.« Sie spürte, wie er Luft holte, als sich seine Brust unter ihren Händen weitete. Wieder legte er seinen Mund auf ihre Lippen und zog sie fest an sich, während seine Zunge tief in ihren Mund eintauchte.
Sie ließ ihn gewähren, schmeckte die feuchte, sinnliche Wärme, die mit Brandy und Nelken gewürzt war, und erlaubte ihm, sie mit seinem Mund zu liebkosen, zu necken und zu verführen.
Doch dann löste sie sich von ihm und trat entschlossen zurück. »Ich muss dir etwas sagen.«
Er schenkte ihr ein schiefes Lächeln. »Ach ja, ich wusste, dass es nicht lange dauert. Und leider habe ich dir auch etwas zu sagen.«
»Also bist du tatsächlich nicht eigens gekommen, um mich zu verführen.« Sie entfernte sich vom Fenster und deutete auf einen der beiden Lehnsessel. »Möchtest du dich setzen?« Dann drehte sie den Docht der Lampe höher.
»Oh, jetzt sind wir wieder ganz höflicher Anstand«, seufzte er, während er ihrer Aufforderung folgte. »Fändest du es sehr ungehobelt von mir, wenn ich erwähne, wie sehr ich Anstand in Momenten wie diesen verabscheue?«
Victoria zog es vor, nicht zu antworten, stattdessen fragte sie: »Wirst du mir den Kupferring geben? Du bist heute Morgen so schnell gegangen, dass ich keine Gelegenheit hatte zu fragen. Bestimmt war das deine Absicht.«
»Du klingst eindeutig wie deine Tante, seit du ihren Platz als Illa Gardella eingenommen hast.« Der Knöchel seines Fußes ruhte auf dem Knie des anderen Beines, während er sich bequem nach hinten lehnte.
»Keine Ausflüchte, Sebastian. Ich nehme meine Aufgabe als Anführerin der Venatoren – von denen du einer bist – genauso ernst wie sie. Was hast du mit dem Ring vor?« Sie saß in dem anderen Lehnsessel und sah ihn an.
»Der Ring gehört zu den fünf Ringen von Jubai, die Lilith für ihre treuesten Wächtervampire angefertigt hat«, erklärte Sebastian. Wächtervampire waren Untote, deren Augen rosarot glühten, wenn sie wütend waren. Sie gehörten zur Elitegarde der Vampirkönigin und besaßen die Fähigkeit, Sterbliche besonders leicht in ihren Bann zu schlagen. Es war sehr schwierig, sie zu töten. Beauregard war ein Wächtervampir gewesen. »Du hast vielleicht etwas anderes erwartet, aber leider gehörte mein Großvater nicht zu den Empfängern eines der fünf Ringe.«
Victoria lachte leise auf. »Im Gegenteil. So wie ich Beauregard kennen gelernt habe, überrascht es mich nicht, dass Lilith ihn nicht als einen ihrer treuesten Wächtervampire ansah. Nicht nur, dass sie einander nicht ausstehen konnten; er war zudem auch eindeutig ein Geschöpf, das nur mit sich selbst beschäftigt war.«
»Ich lasse dir diese verächtliche Bemerkung über meinen Großvater noch einmal durchgehen«, meinte Sebastian mit deutlich kühlerer Stimme. »Ich bin mir seiner Fehler sehr wohl bewusst, aber er ist immer noch mein Großvater und hat mir nie irgendwelchen Schaden zugefügt. Was er dir angetan hat – oder zumindest versucht hat –, war inakzeptabel, und ich habe dementsprechend reagiert.«
»Dafür werde ich dir ewig dankbar sein«, erwiderte Victoria und meinte es auch so.
»Dankbar. Ah, deine Dankbarkeit macht mich zu einem reichen Mann«, meinte er sarkastisch. Dann verflog seine Schnodderigkeit, und seine Miene wurde wieder ernst. »Ehe wir weiterreden, muss ich dir noch etwas sagen. Ich komme gleich wieder auf die Ringe von Jubai zurück, aber zuerst … Victoria, fühlst du dich ganz wie du selbst? Seit du aufgewacht bist, fühlst du dich da irgendwie anders?«
Sie sah ihn an und bemerkte so etwas wie Verzweiflung in seiner Miene. Deshalb unterdrückte sie das automatische Es-geht-mir-gut. »Meistens fühle ich mich wie immer. Aber es gibt Momente, in denen das nicht der Fall ist.« Zum Beispiel, wenn sie wütend war, dann meinte sie im wahrsten Sinne des Wortes rot zu sehen. Und dann heute Mittag, als Gwendolyn so glücklich dahergeplappert und nur von ihrer Hochzeit geredet hatte … der Neid, der sie da erfasst hatte, war völlig überraschend gekommen und hatte sie zornig und kalt gemacht. Wenn sie es sich genau überlegte, dann war sie in letzter Zeit viel häufiger wütend.
Und als sie das Blut in der unterirdischen Abtei gerochen hatte …
Wenn sie all das miteinander in Zusammenhang brachte, dann ergab alles einen furchtbaren Sinn. Sie spürte, wie ihr das Blut aus den Wangen wich und ihre Miene ganz ausdruckslos wurde. »Mein Gott.«
Er schien zu verstehen, was in ihr vorging, und streckte die Hand nach ihrem Arm aus. Seine schlanken Finger legten sich sanft auf ihre Hand. »Victoria, ich bin mir sicher, dass du kein Vampir bist … aber ich fürchte, da sind noch die Überreste von Beauregards Versuch, dich umzuwandeln. Ich kann … ich kann immer noch die Anwesenheit eines Untoten spüren, wenn ich dir nahe komme.«
Einen Moment lang schaute sie blicklos vor sich hin und stellte fest, dass all die kleinen Teilchen ein Gesamtbild ergaben. »Das ist also der Grund, warum du die Vampire unten im Abwasserkanal anscheinend nicht spüren konntest.«
Er nickte wehmütig. »Deine Gegenwart macht es mir schwer, andere – äh, Untote zu spüren.«
Victoria dachte einen Moment lang nach. »Weiß Wayren es? Und was ist mit Max? Und Ylito?«
»Wayren weiß es, und ich bin mir sicher, dass sie es Ylito und Hannever erzählt, denn wenn es ein Gegenmittel gäbe, könnten sie helfen. Was Pesaro angeht – nun, er ist sich der Situation bewusst. Aber er hat natürlich seine eigenen Sorgen.«
Ja, in der Tat. Das hatte er. Trotzdem fühlte sie sich ganz leer.
Sebastian blieb einen Moment lang still, als wollte er ihr die Möglichkeit geben, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, ehe er wieder sprach. »Ich bin nicht nur wegen des Ringes in die unterirdische Abtei gegangen; ich wollte auch ein paar alte Dokumente holen. Die Mönche schrieben offensichtlich nicht nur heilige Schriften, sondern auch unheilige … über die Geschichte der Vampire, aber auch andere Informationen – und laut Beauregard könnten diese Aufzeichnungen interessant sein.«
»Interessant für wen – für die Untoten oder für die Venatoren?«
»Beide.« Er lächelte traurig. »Ich dachte, dass in diesen Dokumenten vielleicht etwas über andere Venatoren steht, die beinahe in Untote verwandelt worden wären, und das könnte … in deiner Situation wichtig sein.«
Victoria hatte von vier Venatoren gehört, die über die Jahrhunderte in Vampire verwandelt worden waren. Nur vier, aber trotzdem. Ihre vis bullae hatten sie nicht geschützt … allerdings hatten sie alle auch nur eine getragen. »Hast du die Dokumente gefunden?«
»Nein. Sie waren nicht da, wo ich den Ring gefunden habe.«
»Hast du vor, noch einmal hinzugehen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. Wie du weißt, vermeide ich es für gewöhnlich, in die Höhle des Löwen zu gehen, und es ist ziemlich offensichtlich, dass die Räume von den Untoten benutzt werden. Nachdem du vor zwei Jahren Lilith aus London vertrieben hast, ist die Anzahl der Untoten stark zurückgegangen. Aber es scheint so, als würden sie wieder anfangen, hier Fuß zu fassen.«
»Wie sieht es mit einem Vampir aus, der am helllichten Tage umhergeht und angreift?«, fragte Victoria.
»Das ginge nur, wenn der Vampir einen bestimmten Trank zu sich nimmt.«
Victoria sah ihn scharf an. »Du sprichst von der Rezeptur, die wir hinter dem Alchimistischen Portal in Rom gefunden haben? Das Rezept, das du aus dem Konsilium entwendet hast?« Bitterkeit stieg in ihr auf, als sie sich wieder an seinen Verrat erinnerte.
Vor zwei Monaten hatten sie und Max sich ein Wettrennen mit den Vampiren und der Tutela geliefert, um als Erste die Schlüssel zu einem alchimistischen Laboratorium zu finden, welches seit mehr als einem Jahrhundert nicht mehr geöffnet worden war. Es war ihnen gelungen, vor den Vampiren da zu sein, und so hatten sie die Aufzeichnungen und Unterlagen an sich nehmen können, die hinter der Tür versteckt gewesen waren. Doch dann hatte Sebastian eine der Seiten gestohlen, um sie seinem Großvater Beauregard zu geben.
»Das ist die Einzige, die ich kenne«, erwiderte er ruhig und sah sie ungerührt an. »Du kannst aufhören, mich mit deinen Blicken zu erdolchen. Du hast bereits eine Narbe auf meiner Schulter hinterlassen«, meinte er und deutete auf die Stelle, wo ihn ihr Pflock, der eigentlich für Beauregard bestimmt gewesen war, getroffen hatte.
»Du hättest dich mir eben nicht in den Weg stellen dürfen.«
Seine Lippen wurden ganz schmal. Offensichtlich war ihm die Doppeldeutigkeit ihrer Worte nicht entgangen. »Wo wir schon von Verdrehung der Tatsachen reden, Victoria … willst du etwa behaupten, dass du einen Vampir bei Tag gesehen hast?«
»Nicht direkt, aber ich habe die frischen Überreste seines – oder ihres – Angriffs auf eine Sterbliche gesehen. Gegen Mittag.«
»Dann irrst du dich entweder – was natürlich höchst unwahrscheinlich ist – oder die Formel für den Trank ist genau in die Hände derer gefallen, die sie nicht haben sollten.«
»Offensichtlich. Und wenn du die Formel nicht auf Geheiß deines Großvaters aus dem Konsilium gestohlen hättest, wäre sie immer noch dort – sicher verwahrt. Was hast du damit gemacht?«
»Erinnerst du dich denn nicht? Beauregard zeigte dir das Dokument, als du in seinem Zimmer warst«, erwiderte Sebastian, und seine Stimme wurde etwas weicher. »Ich wollte das Dokument zurückholen, aber als ich kam, war es schon fort. Irgend jemand hat die Formel vor mir gefunden.«
»Dann könnte es also sein.«
»Durchaus.«
»Aber warum habe ich heute im Park die Anwesenheit der Untoten nicht bemerkt?«
»Weil das eine weitere wichtige Wirkung des Tranks ist. Er verleiht den Untoten die Aura von Sterblichen, sodass wir sie nicht mehr erkennen können. Dadurch können sie sich wie wir frei bewegen.«
Victoria begann zu frösteln, und das hatte nichts mit der Gegenwart eines Vampirs zu tun. »Das wäre ganz furchtbar für uns«, murmelte sie und stand abrupt auf. »Wenn sie sich frei bewegen können und wir sie nicht spüren …« Sie ging zu ihrem Ankleidetisch, wo die Lampe zu flackern angefangen hatte, weil das Petroleum zur Neige ging. »Sie könnten jederzeit und überall auftauchen …«
»Das ist wirklich keine sonderlich angenehme Vorstellung«, sagte Sebastian. Seine Stimme klang jetzt dichter, und sie hörte das leise Knarren eines Dielenbretts, als er seinen Stuhl verließ.
»Weißt du, wo Max ist?«, fragte sie.
Sie merkte, dass er verharrte, und drehte sich wieder zu ihm um. »Rennt vor Lilith weg, nehme ich an.« Sein Lachen klang irgendwie seltsam. »Ich mache dem Burschen keinen Vorwurf daraus. Hätte diese üble Kreatur mich gepackt und es wäre mir gelungen, mich zu befreien, ich würde das Gleiche machen.«
»Er muss über Briyanis Schicksal informiert werden. Ich habe eine Nachricht an Wayren geschickt.«
»Dann wird sie bestimmt eine Möglichkeit finden, Pesaro Bescheid zu sagen. Mir scheint, du hast jetzt ganz andere Sorgen.«
»Sebastian, warum hast du das getan?«, fragte Victoria, der plötzlich wieder der Schmerz ob ihres Alleinseins und seines Verrats bewusst wurde. »Warum hast du uns das Dokument gestohlen? Warum hast du versucht, Beauregard zu helfen?«
Er besaß den Anstand, verlegen zu wirken – ein Gesichtsausdruck, den man bei ihm gar nicht kannte. »Es war dumm und verantwortungslos von mir. Ich habe auf ihn gehört – er besaß die Fähigkeit, mich bis zu einem gewissen Grad zu beeinflussen, obwohl ich mir dessen in der Regel bewusst war und es steuern konnte. Er überzeugte mich davon, dass dadurch Vampire und Sterbliche tatsächlich miteinander leben könnten.«
Victoria gab ein sehr undamenhaftes Schnauben von sich. »Und du hast ihm geglaubt?«
»Liebe macht gelegentlich blind, Victoria.«
Sie sah ihn einen Moment lang an. Irgendetwas hatte sich geändert. »Das tut sie.« Sie holte tief Luft und stieß sie dann langsam wieder aus. Auch sie hatte aus Liebe Fehler gemacht – hatte einen Sterblichen geheiratet, der keine Ahnung von ihrem geheimen Leben hatte. Und dann hatte sie ihn angelogen, hatte ihn mit salvi betäubt, damit sie Vampire jagen konnte. Dadurch hatte sie ihn in Gefahr gebracht und andere, die sie liebte.
Liebe machte eindeutig blind.
Irgendwie hatte er wohl erkannt, was sich in ihrem Innern abspielte, denn im nächsten Augenblick stand Sebastian neben ihr und zog sie in seine Arme. Er senkte den Kopf und legte seine Lippen behutsam, fast fragend auf ihre.
Sie schloss die Augen und erwiderte seinen Kuss. Sie atmete seinen Duft, seine Gegenwart ein und verdrängte die Einsamkeit, die sie heute, die letzten Wochen und Monate immer wieder heimgesucht hatte.
In diesem Augenblick tröstete es sie. Das war Sebastian.
Der Kuss machte sie atemlos, und plötzlich spürte sie das hüfthohe Bett hinter sich, dessen Kante sich in ihren Rücken drückte, während Sebastian sich von vorn gegen sie drängte. Ihr Kleid klaffte im Ausschnitt weit auf, weil sich Sebastians flinke Finger wieder an den Knöpfen zu schaffen gemacht hatten. Als er sie aufs Bett warf, fühlte sich die Überdecke kühl an ihrem nackten Rücken an.
Seine Hände zogen an dem Stoff, als sie benommen voller Verlangen zu ihm aufschaute. Es war schon so lange her … die Vorhänge ums Bett waren nicht zugezogen, und hinter dem schweren Betthaupt aus Ahornholz sah sie ein Bild, welches Circe und Odysseus zeigte.
Der Nebel aus Sherry und Verlangen schwand, und Victoria kam wieder zu sich. Abrupt setzte sie sich auf und hätte ihm dabei fast einen Kinnhaken verpasst.
»Nein«, sagte sie, während sie sich umschaute und sich wieder daran erinnerte, wo sie war. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, und sie bekam eine Gänsehaut, als ihr … ach, Hunderte von Gründen einfielen, warum sie es nicht tun sollte. »Sebastian, nicht hier.«
Nicht hier, wo sie und Phillip sich geliebt hatten, nur ein paar Male, während der kurzen Zeit ihrer Ehe, die ihr so kostbar war.
Nicht hier, wo sie ihn das letzte Mal geküsst, seine Hände auf ihrer Haut und seinen Körper neben sich gespürt hatte … ehe sie ihm den tödlichen Pflock ins Herz stieß.
Nicht hier in diesem Bett oder in diesem Raum oder in diesem Haus.