Kapitel 17

In dem der Duft von Rosen auf einen unerfreulichen Abend hindeutet

Victoria vergaß nicht für einen Moment, dass sie immer noch nicht wusste, wer der Vampir war, der bei Tage umging … und dass der Mann, der neben ihr in der lädierten, quietschenden Kutsche saß, sehr wohl der fragliche Untote sein konnte.

Es konnte auch George sein, Sara oder sonst jemand oder alle.

Sie glaubte nicht wirklich, dass es Max sein könnte, aber er hatte sie gelehrt, alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen.

Oh Gott. Max.

Victoria merkte, dass sie schon wieder dabei war, sich die Nägel in die Handballen zu bohren. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, wie er sie anschauen würde, wenn sie sich das nächste Mal gegenüberstanden – wenn es überhaupt je dazu kommen sollte. Als sie sich dazu entschlossen hatte, ihm das salvi zu geben, war das die voreingenommene, befangene Reaktion auf eine sehr reale Befürchtung gewesen.

Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Lilith ihn sich wieder holte. Victoria hatte nie den Anblick aus ihrer Erinnerung tilgen können, als sie ihn – der immer so stark, so arrogant und beherrscht wirkte – in der Gewalt dieser Kreatur sah. Als er mit nackter Brust an Liliths Seite kniete, ein unterwürfiger Max mit leerem Blick und ohne eigenen Willen … und wie er dann hilflos, krampfhaft zuckte, sein ganzer Körper bebte, als die Vampirkönigin sich über ihn beugte, um ihre Zähne in sein Fleisch zu schlagen. Und zu trinken.

Das Bild verfolgte sie noch immer.

Und jetzt war er frei – frei von einem Bann, den Victoria noch nicht einmal ansatzweise verstand. Er war zwar immer noch schroff, arrogant und bestimmend, aber sie sah auch eine wachsende Gelöstheit in seinem Gesicht, ein Nachlassen der dunklen Trauer in seinem Blick. Er lächelte sogar häufiger. Nicht mehr im Bann der Vampirkönigin zu stehen hatte ihn … nicht weicher gemacht; das war nicht das richtige Wort. Max war nicht weich. Das traf in gar keiner Weise auf ihn zu.

Er war … umgänglicher geworden. Nur ein bisschen umgänglicher.

»Soll ich Ihnen eine Rose kaufen?«

James’ Stimme unterbrach Victorias Gedanken, und sie merkte, dass die Kutsche aus dem Park herausgefahren war und nun die Straße entlangrollte. Andere Fahrzeuge füllten die Allee, und Männer und Frauen, die wahrscheinlich gerade aus Vauxhall oder Covent Garden kamen, gingen Arm in Arm nach Hause.

An einer Ecke stand eine junge Frau, die Rosen verkaufte. Victoria hatte bei Nacht noch nie Straßenverkäufer bemerkt – obwohl es in dieser Gegend am Tage Apfelsinenverkäufer und andere gab. Aber wie kühn und unternehmenslustig von der Frau, sich Paare als Kunden zu suchen, die den Abend in den Vergnügungsanlagen verbracht hatten oder anderen, weniger unschuldigen Unterhaltungen nachgegangen waren.

James hatte ihre Antwort nicht abgewartet; er lenkte die Kutsche an den Straßenrand. Die junge Frau stand unter einer Laterne, die ihr blondes Haar schimmern ließ. Victoria hätte sich Sorgen um ihre Sicherheit gemacht, so ganz allein auf der Straße; trotz all der Menschen, die sie bevölkerten. Aber dann bemerkte sie die stämmige Gestalt eines Mannes, der hinter ihr an der Hauswand lehnte, und ihre Angst schwand.

»Welche hätten Sie denn gern, Mylady?«, fragte das Mädchen und hielt ihr den Strauß Rosen hin.

Als Victoria sich nach vorn beugte, um eine der Blüten auszuwählen, passierten zwei Dinge zur gleichen Zeit: Sie merkte, dass ihr Nacken ganz kalt geworden war, und dass ihr etwas aus dem Strauß heraus ins Gesicht gesprüht wurde.

Sie tastete nach ihrem Pflock, aber es war bereits zu spät. Der widerlich süße Geruch, der ihr ins Gesicht gesprengt worden war, stieg ihr in die Nase und brannte in Mund und Hals. Sie hustete, schüttelte den Kopf, spürte, wie ihr Nacken immer kälter wurde, kämpfte darum, den Pflock nicht loszulassen … sah, wie sich die dunkle Gestalt von der Hauswand löste und ins Licht der Laterne trat … und dann wurde alles schwarz.

Max zwang sich dazu, regungslos sitzen zu bleiben. Er hatte Angst davor, was er tun könnte, wenn er wieder aufstand … was er dem Raum, den Möbeln, der abgeschlossenen und verriegelten Tür, sich selbst antun könnte.

Er hielt seinen Kopf mit geistlosen Dingen beschäftigt. Er zählte die Linien auf dem Holzfußboden, die sauber eingelegten Falten am Rand des Kissens, das auf dem Bett lag und so verdammt bequem für ihn hergerichtet worden war.

Er war ein Gefangener.

Jedes Mal wenn er seinen Gedanken erlaubte, in diese Richtung zu gehen, zog sich sein Magen zusammen, und bitterer Zorn stieg in ihm hoch. Er durfte noch nicht einmal darüber nachdenken, warum sie es getan hatte … oder dass sie es überhaupt getan hatte.

Dass sie ihn hier drin eingeschlossen hatte wie einen Gefangenen.

Er wusste warum.

Oh, er wusste es nur zu genau, und diese Tatsache machte es für ihn nur noch abscheulicher und verachtenswerter.

Schlimm genug, dass sie sein Vertrauen missbraucht hatte … aber viel schlimmer noch war, dass sie überhaupt der Meinung war, es tun zu müssen.

Er zwang sich dazu, den Blick auf die Rosentapete zu richten, und begann die Knospen zu zählen.

Die Wirkung des salvi hatte noch nicht nachgelassen. Oder so schien es zumindest, denn die Lider wurden ihm wieder schwer, und seine Muskeln erschlafften.

Das Nächste, was er wusste, war, dass er auf dem Bett lag.

Und Wayren war da.

Sie stand aufrecht und ernst in dem kleinen Zimmer. Ihrem elfenhaft zarten Gesicht war die Sorge anzusehen, aber es zeigte auch eine gewisse Herausforderung. Das volle blonde Haar trug sie ausnahmsweise nicht zu Zöpfen geflochten und von Bändern gehalten. Schlicht und glatt fiel es über ihr blass goldenes Kleid, mit dem es verschmolz. Ihre ganze Gestalt schien zu glühen. »Warum kämpfst du dagegen an, Max?«

Erschöpft setzte er sich auf. »Hol mich hier raus.«

»Das kann ich nicht.«

»Natürlich kannst du. Ich habe gesehen, wozu du imstande bist, Wayren.« Er hatte das Gefühl, dass sein Kopf gleichzeitig pochte und zu zerspringen drohte. Es war ein Wunder, dass er überhaupt noch reden konnte.

Sie lächelte, aber es war auch ein Anflug von Traurigkeit zu spüren. »Du hast nach so vielen Jahren der Dunkelheit und Selbstvorwürfe Glück verdient.«

»Ich kann nicht.«

»Du weigerst dich einfach nur, Max. Lass von allem ab und hör auf darüber nachzudenken. Hör auf, dich selbst zu verleugnen.«

»Das werde ich nicht.«

»Sie liebt dich.«

»Sie liebt Vioget.«

Wayren nickte kurz. »Ja, das tut sie.«

Max schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, war sie fort.

»Hol mich hier raus!«, sagte er in den leeren Raum hinein.

»Das musst du selbst tun«, drang Wayrens Stimme … von irgendwoher zu ihm.

Und dann wachte Max auf.

* * *

Victoria öffnete die Augen.

Das Erste, was sie wahrnahm, waren die Wärme und die tanzenden roten und orangefarbenen Lichter im Raum. Und der Duft von Rosen. Ihr Nacken war unerträglich kalt, und sie erkannte die Steinwand vor ihrer Nase sofort. Sie befand sich in der unterirdischen Abtei, die Sebastian ihr gezeigt hatte, und lag an exakt der gleichen Stelle, wo sie Briyani gefunden hatte.

»Ah, endlich. Unser Gast ist erwacht.«

Victoria merkte, dass sie völlig verdreht auf dem Boden lag, und der heftige Schmerz, der ihren Körper durchzog, ließ darauf schließen, dass man sie wie einen Sack Korn hingeworfen hatte. Leider war außer dem in alle Glieder ausstrahlenden Schmerz nichts da, was sich unangenehm rund gegen Hüfte oder Bein gedrückt hätte und auf ihren Pflock hinwies. Sie kniff die Augen zusammen, öffnete sie wieder und konzentrierte sich. Dann drückte sie sich mit den Händen hoch, stützte sich mit den Knien ab und richtete sich schließlich ganz auf. Der Schmerz und das Schwächegefühl verschwanden, und sie spürte die Kraft, die durch ihren Körper strömte, als sie sich auf die vis bullae konzentrierte und durch den speziellen Schlitz in ihrem Kleid ergriff.

Sie hatte sich lange Zeit nicht mehr auf die Kraft der vis bulla konzentrieren müssen, doch jetzt nahm Victoria wahr, wie sie sie erfüllte.

Als ihr Kopf wieder klar war, galt ihr erster Gedanke James. War er Bestandteil der Falle gewesen oder ein unwissentlicher Komplize?

Sie drehte sich zu Lilith um, die seit der Begrüßung nichts mehr gesagt hatte.

Der Raum wirkte viel gemütlicher als an dem Abend, an dem sie mit Sebastian hier gewesen war. Überall im Zimmer waren Schalen verteilt, in denen lodernde Feuer brannten, von denen das rote Glühen und die Wärme ausgingen, die Victoria am Anfang bemerkt hatte. Es musste irgendeine Art von Belüftung geben, die dafür sorgte, dass der Rauch wie im Konsilium nach oben stieg und nach draußen geleitet wurde. Ein Teppich lag auf dem Steinboden in der Mitte des Raumes.

Die Vampirkönigin saß auf dem thronähnlichen Stuhl, den Sebastian auf der Suche nach dem Ring von Jubai verrückt hatte. Lilith hatte sich nicht verändert in den zwei Jahren, seit Victoria das letzte Mal mit ihr zu tun gehabt und ihr das Buch des Antwartha im Tausch gegen Max angeboten hatte.

Sie war immer noch schrecklich elegant, immer noch so schlank, dass man jeden Knochen zu sehen meinte, und besaß sehr weiße Haut, unter der nur hie und da eine blaue Ader zu sehen war. Ihre Lider waren so dünn wie Seidenpapier und blau-lila gefärbt, während ihre Lippen den graublauen Farbton aufwiesen, der typisch ist bei Menschen, denen einfach nicht warm wird. Fünf dunkle Flecken auf ihrer Wange ließen die Form eines Halbmondes erahnen.

Aber ihr Haar und ihre Augen … sie brannten förmlich in einem furchtbaren Gegensatz zur Kälte ihres Fleisches. Der strahlende Kupferton ihres Haars verlieh ihr eine Art Heiligenschein – und dann ihre Augen … Victoria sah sie gerade lang genug an, um zu erkennen, dass die saphirblaue Iris von einem roten Kreis eingefasst war.

»Wie ich sehe, haben Sie sich vom Unfall bei unserer letzten Begegnung wieder erholt«, meinte sie ruhig, während sie sich fragte, ob man den Pflock, der in ihrer Frisur verborgen gewesen war, gefunden und entfernt hatte. Sie griff nach oben in die Lockenmasse … und zog den schmalen Pflock hervor. Aha. Den hatten sie übersehen.

Die Untote zog die Augenbrauen zusammen – ob nun wegen Victorias höhnischer Worte oder wegen des Pflocks war nicht zu erkennen. »Meine Haut ist nach den Verbrennungen durch das Sonnenlicht wieder geheilt … aber das ist jetzt unerheblich; denn Sie werden mir nicht noch einmal entkommen.«

»Sie haben sich große Umstände gemacht, um mich herzubringen. Was wollen Sie?« Der Pflock, der nicht dicker als ein Daumen war, lag angenehm in ihrer Hand.

Lilith gab keine Antwort. Stattdessen musterte sie Victoria nur, während sie weiter lässig auf ihrem Thron saß. Sie hatte eine schräge Haltung eingenommen, sodass ein Ellbogen auf der Armlehne lag und das Handgelenk des anderen Arms darauf ruhte. »Sie also sind es.« Sie klang nachdenklich, aber Victoria war nicht so dumm, den Vampir genauer anzusehen, um sich Gewissheit zu verschaffen.

Stattdessen ließ sie den Blick durch den Raum schweifen. Es war eindeutig, dass Lilith ihr nicht sofort etwas antun wollte – sonst hätte sie nicht so lange gewartet, bis sie von allein wach wurde – oder überhaupt wach wurde.

Sie waren nicht allein in dem Raum. Zwei Wächtervampire standen wie Statuen bei der Tür, durch die Victoria und Sebastian vor weniger als einer Woche hereingekommen waren.

Lilith erhob sich von ihrem Thron. Der blassblaue Stoff ihres Kleides strich raschelnd über ihren hageren Leib. »Sie sind diejenige welche. Ich hätte es von Anfang an wissen müssen. Wer sonst hätte ihn einfangen können?« Sie redete mit sich selbst, näherte sich dabei aber Victoria. Ein Duft von Rosen begleitete ihre Bewegungen, doch der widerlich süße Geruch hatte nichts mit dem zarten Teerosenduft gemein, den Lady Melly immer auflegte.

»Er trägt Ihre vis bulla

Victoria vergaß, was sie sich selbst aufgetragen hatte, und ihr Blick begegnete dem der untoten Königin. Die reine Bosheit loderte in diesen blauroten Augen. Sie sah förmlich das Flackern und Schlagen der Flammen darin. Noch während die Worte des Vampirs in ihr nachklangen, schloss sie die Augen.

Max trug ihre vis bulla.

Sie hörte das Rascheln von Seide und zwang sich dazu, die Augen wieder zu öffnen. Es war nicht der richtige Moment, um darüber nachzudenken … Lilith stand viel zu dicht vor ihr. Victoria konnte jedes einzelne Haar ihrer schmalen Augenbrauen und die winzigen Hautporen erkennen. Der Duft nach Rosen war so stark, als hätte sie ihre Nase tief in einem Blütenkelch versenkt. Und irgendetwas … Böses … zupfte an ihr – zog von ihrer Leibesmitte aus, als wäre ein Seil um ihren Brustkorb geschlungen, das sie dichter herankommen ließ.

Victoria stieß den Atem aus, den sie angehalten hatte, und nahm den Pflock langsam nach vorn.

»Wie tapfer Sie sind, Venator.« Lilith lächelte. Ihre Miene strahlte dabei eine derartige Verderbtheit aus, dass Victoria ein Schauer über den Rücken lief und in ihre Glieder schoss. Ihre Fingerspitzen fühlten sich an, als hätte sie sie über Stunden in eiskaltes Wasser getaucht. »Aber völlig umsonst.«

Victorias Herz begann unregelmäßig zu schlagen und kämpfte darum, im Angesicht der Macht der Vampirkönigin seinen eigenen Rhythmus beizubehalten. Sie hatte das Gefühl, als würde eine schwere Decke auf ihrer Lunge liegen, die sie lähmte … trotzdem hielt sie stand, zwang sich zu atmen und konzentrierte sich auf die Kraft, die von den beiden silbernen Kreuzen in ihrem Bauchnabel ausging.

Lilith bewegte sich, und plötzlich hatte Victoria ein Gefühl, als würden ihre Arme in einem Schraubstock stecken und auseinandergerissen werden. Die Wächtervampire standen neben ihr. Während der eine sie aus dem Gleichgewicht brachte, trat der andere ihre Beine auseinander, sodass sie so breitbeinig dastand, als würde sie über einem Bach grätschen. Dadurch war sie nicht mehr in der Lage, die Beine zu heben und zuzutreten.

Sie hatte zwar immer noch den Pflock in der Hand, aber der Griff des Wächters um ihr Handgelenk drohte, ihn ihr aus der Hand zu drücken.

Victoria schaute trotzig in Liliths Richtung, achtete dabei aber sorgfältig darauf, nicht in den Bann des unterjochenden Blicks zu geraten, während sie mit aller Kraft darum kämpfte, Herrin ihres Atems und Herzschlags zu bleiben. »Das ist ja wohl ein Witz. Sie, die Königin der Vampire, kann es nicht ohne Hilfe gegen mich aufnehmen?«

Lilith trat näher, und ihr Atem strich warm über Victorias Gesicht. Sie wandte den Kopf ab, aber die Fingernägel des Vampirs schlossen sich um ihr Kinn und zwangen Victoria, Lilith wieder anzusehen. Victoria verschwendete keine Kraft damit, sich zu wehren. Ihr Herz schlug jetzt so heftig, als wollte es ihr gleich aus der Brust springen … in Richtung der plötzlich aufleuchtenden langen Reißzähne.

»Ich ziehe es vor, in Ruhe zu essen.« Und dann streckte sie die Hand aus und riss Victorias Kopf mit einer schnellen, schrecklichen Bewegung zur Seite, während sie ihr Kinn losließ und ihren Hals entblößte. »Wir werden sehen, was er jetzt von Ihnen denken wird.«

Victoria konnte sich nicht rühren. Sie wurde von den Handgelenken bis zur Schulter festgehalten, und schwere Stiefel an ihren Knöcheln hinderten ihre gespreizten Beine daran, auch nur die kleinste Bewegung zu machen. Nur ihre Hüften konnte sie ungehindert bewegen. Aber mehr als drehen und wenden konnte sie sich trotzdem nicht – und auch das richtete nichts gegen die Kraft der Vampire aus, die sie hielten.

Lilith kam näher, und ihr Atem strich heiß über Victorias nackten Hals, wo die Vene pochend hervortrat, als wollte sie gleich platzen. Vage bekam sie mit, wie sich ihre Finger, die den Pflock hielten, lösten, und einen Augenblick lang versuchte sie noch verzweifelt, es zu verhindern.

Wenn spitze Eckzähne sich in weiches Fleisch bohren, ist das selten schmerzhaft. Sie gleiten so sauber und glatt hinein, dass das Eindringen eher als Erleichterung empfunden wird … denn das warme Blut kann endlich ungehindert heraus strömen.

Benommen nahm Victoria Liliths warme Oberlippe und die Kälte der Unterlippe wahr … sie merkte, wie ihre Zunge gegen ihr Fleisch drängte und die Zähne sich tief hineinbohrten … sie spürte die Mischung aus Hitze und Kälte, die sie erfüllte, während Lilith trank und in eigentlich absurd sanfter Weise immer wieder innehielt, um zu schlucken.

Doch plötzlich löste sich die Vampirkönigin von ihr. Sie trat zurück und sah Victoria mit großen Augen an. Gleich darauf ließen auch die Wächter sie los, und sie war wieder frei.

»Dann stimmt es also.«

Victoria stürzte sich auf ihren Pflock und zwang sich, nicht auf das warme Rinnsal aus Blut zu achten, das ihren Hals herunterlief. Aus dem Augenwinkel sah sie die dunklen Flecken auf ihrem gelben Kleid, als sie sich aufrichtete.

Sie drehte sich zur Vampirkönigin um, die Hand fest um den Pflock geklammert. »Ist mein Blut zu rein für Ihren Geschmack?«

Der erschrockene Ausdruck schwand langsam von Liliths Gesicht, um unverfälschter Freude Platz zu machen. »Oh nein. Überhaupt nicht. Es ist meine Schuld … weil ich den Geschichten nicht geglaubt habe, die man mir erzählt hat. Es lag außerhalb meiner Vorstellungskraft, dass Sie von Beauregards Blut trinken könnten und er von Ihrem, ohne dass eine Verwandlung stattfindet.« Boshaft kniff sie die Augen zusammen. »Aber ich habe die Wahrheit geschmeckt. Durch Ihre Adern strömt Vampirblut, Victoria Gardella.«

Sie drehte sich um und ging so entspannt zu ihrem Thron zurück, als würde sie einen Gast unterhalten. »Ich wollte Sie eigentlich vernichten … aber das ist gar nicht notwendig. Wenn ich der Natur ihren Lauf lasse … werden Sie nicht nur verabscheuungswürdig für ihn werden, sondern auch an mich gefesselt sein.«

»Ich bin kein Vampir.«

Lilith schaute sie wieder an, und ihre vollen blaugrauen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Ich sehe es in Ihren Augen. Sie wissen, dass ich die Wahrheit sage. Sie spüren es doch auch schon, nicht wahr? Wahrscheinlich kämpfen Sie schon seit Monaten dagegen an. Und es wird immer stärker.« Sie schüttelte den Kopf, und ein kokettes Lächeln spielte um ihre Lippen. »Aber wie konnte das passieren?«, murmelte sie, und es klang fast so, als würde sie mit sich selber reden.

»Ich bin zu stark dafür.«

Das Lachen, das Lilith daraufhin ausstieß, überraschte sie. Es war ein unheimliches, hohes und doch rauchiges Lachen. Es breitete sich im Raum aus und vertrieb einen Moment lang alle anderen Geräusche. Es drang in Victorias Ohren und in ihr Bewusstsein. Dort hallte es wider und schuf sich einen Platz, als wollte es ihre tief sitzenden Ängste bestätigen.