Kapitel 27

Die Entscheidung

Victoria bemerkte kaum, dass Max vor ihren Füßen zu Boden stürzte. Sie spürte nur das Verlangen, die Wut, von der sie erfüllt wurde … sah das Rot, das ihren Blick vernebelte und durch ihren Körper tobte.

Das Herz schlug ihr immer noch bis zum Hals, und Schweiß strömte ihr über Rücken und Unterarme. Liliths rote Augen blickten sie wissend an. Sie schwelgte in dem Kampf, der in Victorias Inneren wütete. Victoria holte tief Luft und berührte die Amulette, die sie unter ihrer zerfetzten Tunika trug. Die Energie, die sie da plötzlich durchfuhr, ließ sie aufkeuchen: reine, saubere Kraft.

Der rote Schleier lichtete sich, die zügellose Raserei ließ nach, und sie hatte das Gefühl, sich wieder unter Kontrolle zu haben. Ein Triumphgefühl erfasste sie. Lilith hatte Unrecht gehabt. Sie hatte ihre Gegnerin unterschätzt: Victoria hatte die Prüfung bestanden.

Dann sah sie die vier Hunde … und Bemis Goodwin, der auf der anderen Seite der Grube stand. Diesem dunklen, tiefen, schrecklichen Loch. Reißende Zähne, aufschlitzende Klauen, der Gestank von bösen, nassen Hunden, die sich immer wieder auf sie stürzten. Nicht um sie zu töten, sondern um sie zu quälen, zu verstümmeln, zu zerfetzen, ohne sie jedoch von ihren Leiden zu erlösen. Ohne sie zu töten. Victoria konnte ein Beben nicht unterdrücken. Es erschütterte ihren ganzen Körper, ihre Beine wurden schwach, und ihr wurde schwindelig, als sie sich daran erinnerte, wie sie sie immer wieder abgewehrt hatte …

Sie spürte, wie etwas ihre Beine streifte, als Max wieder versuchte, zu ihr zu gelangen. Sie richtete ihren Blick auf ihn und sah das Blut, die Kratzer an Schulter und Brust, die aufgerissene Haut an seinen Handgelenken. Trotzdem war die Umgebung für sie nicht ganz greifbar, und sie bewegte sich, als wäre sie in einem Traum gefangen … als befände sie sich unter Wasser, würde gegen hohe Wogen kämpfen und verzweifelt versuchen, Luft zu bekommen … und dann ertönte ein lauter Schrei.

Victoria wirbelte herum und sah gerade noch, wie Sara über die Kante gestoßen wurde und in die schreckliche Grube fiel. Die vier Hunde stürzten hinter ihr her und sprangen nach unten ins Dunkel. Der Schrei hallte in ihren Ohren wider, und Victoria raste zur Kante der Grube. Die Hunde waren über die Frau hergefallen und schnappten nach ihr, während sie versuchte, sie abzuwehren. Der Knall der Pistole erschütterte den Raum, so schaurig wie nutzlos gegen untote Hunde.

Victoria atmete den Blutgeruch ein, spürte das Aufflammen der Angst, hörte die Schreie und lehnte sich dagegen auf. Sie drehte sich wieder zu Lilith um und stellte fest, dass diese sie mit einem leichten Lächeln auf den Lippen beobachtete. Es war eine selbstgefällige Miene.

Schreie, Jaulen, Bellen … Victoria wollte nicht wieder in diese schreckliche Grube hinein. Zu diesen scharfen Zähnen, die bissen und zerfleischten; zur flehenden, schluchzenden und schreienden Sara; zum leisen Jaulen eines Hundes, der vom Kolben ihrer Pistole getroffen worden war …

Das Rot brannte. Die Bilder fochten miteinander: Sara mit dem Messer … scharfe Zähne … Sara, die über Sebastian gebeugt da stand und dabei lächelte … das Blut … ihre Selbstgefälligkeit … die kühle Berechnung … Zähne, die in ihr Fleisch schnitten – sie wusste, wie sich das anfühlte … der Schmerz, der Blutstrom … Sie konnte es nicht tun. Sie konnte einfach nicht. Kritanus abgetrennte Hand … das Knurren und Zähnefletschen erfüllte all ihre Sinne … Schmerz … Victoria merkte, wie sie vom Rand der Grube zurückwich. Sie wollte da nicht wieder rein. Schmerz … aber Sara … ihre Schreie … sie konnte es nicht ertragen … sie hatte es nicht anders verdient … sie hätte sie alle umgebracht … Zähne, die Fleisch aufschlitzten …

Victoria sprang, betete, schluchzte und fiel. Sie kämpfte gegen ihre Angst, kämpfte gegen den roten Nebel, der drohte, sie völlig zu vereinnahmen. Als sie auf einem pelzigen Rücken landete, hätte ihr fast die Geistesgegenwart gefehlt, ihren Pflock zu benutzen. Dann hörte sie einen schrillen Schrei, Liliths Wut, und irgendwie drang diese Wut zu ihr durch und gab ihr Kraft. Sie hatte gewonnen.

Bei Gott, sie hatte gewonnen.

Während sie gegen die Monster kämpfte, um sich schlug und Angriffe abwehrte, zog sich die Röte zurück, und ihre Anspannung ließ langsam nach. Sie spürte die Reinheit, die plötzlich strahlend weiß durch ihren Körper strömte und den Trieb verdrängte, erbarmungslos zu morden und Lust im Schmerz zu finden.

Die Hunde schienen ihre neu erwachte Entschlossenheit zu spüren und wurden jetzt wilder. Es gab kein Halten mehr für sie. Es war kein quälendes Spiel mehr wie zuvor, sondern sie griffen alle auf einmal an, schnappten nach ihr und verbissen sich in ihrem Fleisch. Der Pflock entglitt ihrer Hand und fiel zu Boden. Victoria spürte weiche Pfoten, die sich an ihr Gesicht drückten, während Zähne und Klauen an ihren Armen und Beinen zerrten und ihren Haaren rissen. Sie wälzte sich über den Boden, trat und schlug nach ihnen, während sie versuchte, an den anderen Pflock in ihrer Hose zu kommen … bis sie ihn endlich kräftig und schwer in der Hand hielt und damit ausholte.

Sie war Illa Gardella.

Kraft strömte durch ihren ganzen Körper, sie trat zu und schlug um sich, völlig frei in ihrem Tun, völlig frei so wild zu kämpfen, wie sie wollte, weil sie sich jetzt nicht mehr vor dem Bösen fürchtete. Sie hatte sich aus dem Bann des Bösen befreit, hatte den Bann durch ihr Opfer gebrochen, und jetzt verließ es durch die blutenden Wunden ihren Körper, entwich mit jedem Atemzug, sodass sie immer stärker wurde.

Und am Ende … Stille.

Eine Stille, die nur von keuchenden Atemzügen erfüllt wurde und Saras leisen Schluchzern und spitzen Schreien.

Victoria kam taumelnd hoch und schaute sich um.

Max blickte sie immer noch mit finsterer, angespannter Miene an. Doch sie sah den Ausdruck in seinen Augen, las in seinem Blick, was er so krampfhaft zu verbergen suchte … und dann war es wieder verschwunden.

Victoria verschwendete keine Zeit. Sie stemmte Saras geschundenen Leib hoch, hievte ihn über die Grube und kletterte dann schnell hinterher, ehe Lilith, die auf der anderen Seite stand, reagieren konnte.

Sara stöhnte und stieß einen schmerzerfüllten Schrei aus, als sie wie ein Haufen Lumpen zusammenbrach. Victoria zog sich am Rand hoch. Auf der anderen Seite der Grube – nur einen etwas größeren Sprung entfernt – stand Lilith. Ihre Fangzähne, lang und mörderisch, waren deutlich zu sehen.

»Sie hatten Unrecht«, meinte Victoria triumphierend, während sie über die Grube sprang. Sie landete sicher, mit beiden Beinen auf der anderen Seite. Ohne zu schwanken. Zum ersten Mal war sie sich ihrer Kraft gewiss. Sie wusste, dass sie gewonnen hatte.

Aus dem Nichts, auf ein unsichtbares Zeichen hin stürmte eine Horde Vampire in den Raum und raste auf sie zu. Victoria erwartete sie mit hoch erhobenem Pflock. Das Letzte, was sie sah, war Lilith, die sich über Max beugte.

Und dann bestand ihre Welt nur noch aus einem Gewirr aus Reißzähnen und Klauen, aus Schmerz, Schlägen und Pflöcken. Sie erhaschte immer wieder einen Blick auf den Raum, während sie damit beschäftigt war, sie abzuwehren, sie daran zu hindern, sie in Stücke zu reißen. Aber sie hatte keine Angst mehr vor dem roten Schleier, vor dem Blut, vor sich selbst.

Und Max hatte seinen Ring. Ihm konnte nichts passieren.

Sie kamen genau wie die Hunde, aber größer und schwerer und genauso wild, von allen Seiten auf sie zu. Einmal schrie sie auf, als sie unter dem Ansturm reißender Fangzähne zusammenbrach.

»Der Ring … Max!«, schrie sie, während sie mit dem Pflock nach oben in das rote Auge eines Untoten stieß.

Sie rollte zur Seite weg und erhaschte einen Blick auf Liliths grünes Gewand und ihren bleichen Leib, der sich an Max’ dunklen Körper schmiegte … auf Blut, Lippen und Zunge und dann rot-blau lodernde Augen, als die Vampirkönigin sich umdrehte, um Victoria triumphierend anzusehen.

Ihr wurde die Sicht genommen, als ein großer Untoter seine Hände um ihre Kehle schloss und zudrückte, während ein anderer sich an ihren Beinen festklammerte, sodass sie nicht mehr treten konnte. Victoria drehte und wand sich, um wieder Luft zu bekommen, und fuchtelte mit ihrem Pflock herum … doch plötzlich waren ihre Beine wieder frei, und sie wurde vom Geruch von Vampirasche umhüllt.

Ein Kriegsschrei hallte durch den Raum, und sie war frei. Sebastian stand da und schaute sie über die Schulter eines Untoten mit wütend funkelnden und entsetzten Augen an … der Vampir verschwand, und er war wieder da, um nur einmal kurz die Hand auszustrecken und sie zu berühren, ehe er sich abwandte, um den Kampf mit den Untoten aufzunehmen.

Brim stieß wieder einen Kriegsschrei aus und stürzte sich dann springend ins Kampfgetümmel, wobei er die Vampire mit seinen kräftigen Armen zur Seite stieß. Die silberne vis bulla hob sich deutlich von seiner dunklen Augenbraue und der schwarzen Haut ab, seine Muskeln traten hervor, als er einen Untoten an den Beinen packte, ihn herumwirbelte und so die Vampire, die ihm zu nahe kamen, zu Boden schleuderte. Michalas war auch da. Er schwang seinen Pflock, während er sich durch den Raum bewegte. Victoria und Sebastian standen Rücken an Rücken zueinander, während sie gegen die Vampire kämpften und sie in Aschehaufen verwandelten.

Schließlich hing nur noch ein widerlicher Geruch in der Luft, und der Raum war von schweren Atemzügen erfüllt. Victoria schaute sich um und stellte fest, dass Max fort war … genau wie Lilith. Sie schrie auf und wollte schon mit einem Satz zur Tür hin – denn das war der einzige Weg, den sie hatten nehmen können –, doch Sebastian hielt sie zurück. Sie taumelte gegen ihn und sie musste sich mit flacher Hand an seiner Brust abstützen. Dann sah sie, dass er auf die andere Seite der Grube zeigte.

Max kniete dort, mit frischem Blut überströmt und immer noch gefesselten Händen, dicht neben Sara.

Er drehte sich zu Victoria um und kam dann mühsam auf die Beine. Einen Augenblick lang zog sich ihr Magen schmerzhaft zusammen, und dann erkannte sie, was er getan hatte. Der silberne Ring steckte nicht mehr an seiner Hand. Sara – nur noch ein verstümmeltes, zerfetztes Bündel, das qualvolle Schmerzen litt – schloss ihre Finger darum. Sie legte ihre Hände aneinander und machte eine ruckartige Bewegung.

Dann sackte sie in sich zusammen, ihr ganzer Körper entspannte sich, und ihre Hände rutschten auf den Steinboden.

Max legte sich Saras Körper über die Schulter, und Victoria nahm an, dass dies sein letzter Tribut an eine Frau war, die ihm einst etwas bedeutet hatte … zumindest bis zu einem gewissen Punkt.

»Lilith ist fort«, sagte Brim. »Sie hat sich davongemacht.«

»Aber sie hat den Ring nicht«, sagte Victoria. Und Max hatte sie auch nicht mitgenommen.

Sie verließen den Raum schweigend, mit warmem Nacken, und durchquerten das Zimmer mit dem Thron, der beim Eintreffen der Venatoren umgestürzt war. Durch den Vorraum gelangten sie dann nach draußen.

Victoria bildete die Nachhut. Es geschah, als sie den schmalen Weg nach unten gingen, der zum Abwasserkanal führte. Mit großem Bedauern stellte sie fest, dass sie ohne die Fackeln, die Brim und Michalas trugen, nichts sehen konnte. Außer dem lauten Rauschen des Wassers war nichts zu hören, als sie plötzlich merkte, dass etwas durch die Luft sauste und auf sie herabstieß.

Ein warmer, menschlicher Körper krachte mit ihr zusammen, und sie verlor das Gleichgewicht.

Zusammen stürzten sie vom Weg in die Tiefe, auf das Wasser zu, das unter ihnen rauschte.