Kapitel 28
Ein Kampf ist verloren
Sebastian hörte den Lärm hinter sich. Er drehte sich gerade rechtzeitig um, um zu sehen, wie die dunkle Gestalt mit Victoria zusammenprallte und dann beide in die Tiefe stürzten.
»Victoria!«, schrie er auf und setzte den beiden hinterher.
Es ging nicht so tief nach unten, wie er erwartet hatte – aber der Sturz war immer noch tief genug, um tödlich zu enden, falls man unten auf Felsgestein krachte.
Er hörte das Platschen der anderen, kurz bevor er selbst ins Wasser fiel, hörte, wie zwei miteinander im Wasser rangen, nach Luft schnappten … aber sehen konnte er nichts. Verdammt! Sie war bereits geschwächt, und der Angriff war für sie überraschend gekommen. Vielleicht hatte sie sich auch den Kopf gestoßen oder war auf den Felsen geschlagen, den er mit dem Bein gestreift hatte.
Er konnte nichts sehen, aber dafür hören, und so kämpfte er sich gegen die Strömung in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Dabei wusste er nicht, auf was oder wen er zu schwamm, denn noch immer war es sehr düster.
Wo waren die anderen? Es hatte sonst niemand geschrien, und er hatte auch nicht gehört, dass noch jemand ins Wasser gefallen wäre. Wussten die anderen überhaupt, dass er und Victoria heruntergefallen waren? Die anderen waren ein ganzes Stück weiter vorn gewesen.
Er tastete im Wasser herum und schließlich waren da Haare, ein Schopf, und im schwachen Lichtschein sah er Victorias weißes Gesicht mit den geschlossenen Augen. Sie bewegte sich nicht, und hastig zog er sie zu sich heran. Auf ihrem Gesicht war etwas Dunkles zu sehen, etwas Dunkles, Klebriges. Oh Gott.
»Max!«, brüllte er und seine Stimme hallte durch die Dunkelheit. »Brim! Hier unten!«
Dann prallte ein anderer Körper gegen ihn, aber ehe er etwas sagen konnte – war es nun Pesaro? Brim? Es war kein Platschen zu hören gewesen – wurde er von kräftigen Händen unter Wasser gedrückt. Dann spürte er, wie etwas Scharfes erst seinen Arm und dann sein Bein aufschlitzte. Sein Blut begann ins Wasser zu strömen.
Über sich hörte er jemand eine Antwort rufen, und es gelang ihm, noch einen Hilfeschrei auszustoßen, während er im stinkenden Wasser kämpfte. Er hatte keine Waffe, die er gegen den Sterblichen mit dem Messer hätte einsetzen können, und spürte aufs Neue den Schmerz an der noch offenen Wunde seines verstümmelten Fingers. Endlich fiel ein Lichtstrahl von oben herab auf das Gesicht des Mannes … und er erkannte ihn.
Bemis Goodwin. Verflucht möge er sein. Bemis Goodwin.
Rasende Wut durchfuhr ihn – Wut und Hass auf diesen Mann, der sie ihm nehmen würde. Er hielt Victoria fest, während er weiter gegen den Mann kämpfte, mit ihm im Wasser rang und sie dabei vor dem Messer schützte, das dadurch immer wieder ihn traf. Irgendwann konnte er sie trotzdem nicht mehr halten, sie entglitt ihm und verschwand im Wasser.
Sebastian stieß wieder einen lauten Schrei aus, wobei er einen ganzen Mund voll Wasser schluckte, als er merkte, dass sich ein Licht vom Rande des Wassers her näherte. Pesaro und Brim. Endlich.
Er drückte Goodwin unter Wasser und hielt ihn dort, bis der Mann aufhörte, zu treten und mit dem Messer nach ihm zu stechen. Da ließ Sebastian ihn los und stürzte laut platschend durchs Wasser auf den bleichen Fleck zu, den er in der Ferne sah. Endlich hörte er, wie hinter ihm noch jemand ins Wasser sprang. Er hörte Michalas rufen und war kaum in der Lage zu antworten.
Endlich berührte er wieder etwas Warmes, Menschliches … und dann Haare. Sebastian zog und spürte, wie sie auf ihn zukam. Sie bewegte sich nicht und atmete auch nicht mehr. Er zog sie mit sich an die Kanalkante, wobei er dafür sorgte, dass ihr Gesicht über Wasser blieb. Er hievte sie auf trockenen Boden, wo Pesaro und Brim gerade nach unten geklettert kamen.
Heller Lichtschein flackerte hinter ihm, als er sie mit dem Gesicht zur Seite auf den Bauch drehte. Überall war Blut, ihr Gesicht aufgeschürft und voller Kratzer, ihr Haar ein Gewirr aus Locken, ihr Körper kalt und weiß. »Nein, Victoria, verdammt«, flüsterte er.
Sebastian merkte, dass die anderen von hinten, von der Felswand aus, mit Fackeln in der Hand auf ihn zukamen. Er küsste ihr kaltes Gesicht, strich ihr die Haare aus den Augen und zwang sich dazu, nicht an Giulia zu denken … nicht wieder an einen Verlust zu denken.
Und nicht an Bemis Goodwin. Bei Gott, nicht an solche wie Bemis Goodwin.
Er versetzte ihr einen festen Schlag zwischen die Schulterblätter und schüttelte sie verzweifelt.
Victoria hustete, und Sebastian rollte sie auf die Seite. Wasser quoll aus ihrem Mund, und sie hustete noch mehr, wobei sie am ganzen Körper zuckte und bebte. Jemand – Brim – reichte ihm eine trockene Jacke, und er wickelte sie darin ein. Der helle Fackelschein umhüllte sie und beleuchtete ihr Gesicht, die Hautabschürfungen, die drei Schnitte auf ihrer Wange, all die anderen Kratzer.
Unter ihren Augen lagen dunkle Schatten, aber schließlich begannen ihre Lider zu flattern und sich zu heben. Sebastians Atemzüge wurden leichter … Sie öffnete die Augen und schaute ihn an. Sie schaute ihn an, und er lächelte, spürte, wie sich ein Mundwinkel nach oben zog.
Und dann schweifte ihr Blick weiter, ihre Augen richteten sich auf jemanden, der hinter ihm stand. Ihre Lippen bewegten sich.
Sebastian erkannte den Blick. Las den Namen, den ihre Lippen formten. Er sah den Ausdruck auf ihrem Gesicht. Es war seine Hand, die sie umklammerte, ihre kalten Finger, die seine quetschten. Aber ihr Blick war nicht für ihn bestimmt.
Er hatte es geahnt, schon viel zu lange. Vielleicht hatte er es auch immer gewusst, und das war der Grund für die Feindseligkeit, den Missklang, die Zwietracht. Er hatte gehofft, einfach nur gehofft, dass er Unrecht hatte.
Die Hoffnung schwand und hinterließ nur Leere.
Er hatte verloren.