Kapitel 15
In dem Victoria jemandes Vertrauen enttäuscht
Wir sind gestern vorbeigekommen«, schniefte Lady Melly, »nachdem wir von dem schrecklichen Feuer gehört hatten. Aber diese Verbena beharrte darauf, dass du indisponiert wärest.« Sie sah Victoria finster an. »Eine geschlagene Stunde lang ließ sie uns hier in diesem Zimmer warten. Ohne uns Tee anzubieten.«
Victoria hielt es für wahrscheinlicher, dass Lady Melly und ihre beiden Busenfreundinnen sich eine Stunde lang geweigert hatten, sich von der Stelle zu rühren, als dass man sie gezwungen hätte, im Salon sitzen zu bleiben … aber Verbena verfügte über einen nicht minder starken Willen. Vielleicht war es das Spiel gewesen, wer zuerst blinzeln musste.
Offensichtlich hatten die Damen geblinzelt – oder vielleicht hatte der Hunger sie auch aufgeben lassen.
»Ich sah mich gestern völlig außerstande, Gäste zu empfangen, Mama«, erklärte sie und klopfte ihr beschwichtigend auf die Hand. In Wirklichkeit hatte Victoria leichte Schuldgefühle wegen der Sorgen, die ihre Mutter sich gemacht hatte – denn die Falten in ihrem Gesicht wirkten ausgeprägter; und auch, wie sie beim Anblick der Kratzer und Schürfwunden auf Wangen und Kinn aufgekeucht hatte, zeugte von ihrer Besorgnis. »Aber Verbena erzählte mir, dass du hierhergekommen warst, um nach mir zu sehen, und da fühlte ich mich gleich besser.«
»Du siehst ziemlich mitgenommen aus«, meinte Lady Melly, wobei ihre Miene und ihre Stimme ganz sanft wurden. »Feuer sind etwas ganz Schreckliches.«
Victoria nickte und drückte ihrer Mutter die Hand. Lady Mellys Vater war, als sie noch ein kleines Kind war, bei einem Stallbrand gestorben, und sie beschrieb häufig das tosende Feuer und die Schreie der Pferde, die im Gebäude gefangen gewesen waren. »Aber ich habe es mit nur ein paar Kratzern überlebt, und alles ist gut.«
Lady Melly schniefte wieder, und ihre Nasenspitze wurde verdächtig rot. »Als deine Zofe uns nicht erlaubte, dich zu sehen – und ich muss schon sagen, ich bin noch immer ziemlich gekränkt, dass sie deinem eigen Fleisch und Blut untersagt, dich zu besuchen –, sind wir zu Rockley gegangen.« Sie sah Victoria an, und der berechnende Ausdruck war in ihre Augen zurückgekehrt. »Es schien mir das einzig Richtige in dem Moment.«
Victoria unterdrückte ein Seufzen. »Mama, du musst verstehen …«
Als wolle sie einer Erklärung zuvorkommen, dass Victoria kein Interesse am Marquis hatte, unterbrach Melly sie. »Er ist ziemlich vernarrt in dich, Victoria. Das braucht dir überhaupt nicht unangenehm zu sein. Es ist ja nicht so, dass er und Rockley – dein Rockley – Brüder oder so etwas gewesen sind. Soweit ich gehört habe, sind sie sehr entfernt miteinander verwandt, und es wäre überhaupt nichts Seltsames daran. Und dann wärst du auch wieder eine Marquise.«
»Ich bin immer noch eine Marquise«, rief Victoria ihr trocken in Erinnerung. »Mama, du solltest mit diesen Verkupplungsversuchen wirklich aufhören. Ich bin jetzt Witwe und ich habe eigentlich kein Verlangen danach wieder zu heiraten. Und ich brauche es auch nicht.«
Aber schon während sie die Worte sagte und das offene Missfallen auf dem Gesicht ihrer Mutter sah, versetzte ihr die Vorstellung selbst einen leichten Stich. Eine Ehe, wie die Gesellschaft sie von ihr erwartete, stand natürlich völlig außer Frage. Aber dann war da immer noch die Tatsache, dass sie die letzte Gardella war – soweit sie wusste. Wenn sie, wie Max gesagt hatte, ohne Nachkommen starb …
Und genau genommen ließ sich nicht leugnen, dass ein Venator und besonders Illa Gardella ein einsames, ein fürchterlich einsames Leben führte. Sogar Tante Eustacia hatte einen Partner gehabt, jemanden, mit dem sie ihr Leben teilte, neben dem sie schlief, der sie in finsteren Zeiten in den Armen hielt. Jemanden, der sie verstand und liebte. Letztendlich hatte Tante Eustacia einen Bruder gehabt, Mellys Vater, und somit hatte sie gewusst, dass ihr Geschlecht nicht mit ihr sterben würde. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, dass Victoria in dieser Richtung weiterdachte und damit aufhörte, den Trank zu sich zu nehmen, der verhinderte, dass sie schwanger wurde.
Plötzlich musste sie an Sebastian denken und sie lächelte. Er hatte mehr als deutlich gemacht, wie gern er mit ihr zusammen sein wollte. Intim zusammen sein wollte. Ob er sie nun wirklich liebte oder nicht, war nicht klar, aber sie bedeutete ihm eindeutig etwas.
Im Gegensatz zu Max.
Victoria richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Mutter, die sich gerade in blumigen Schilderungen darüber erging, wie schrecklich es wäre, unverheiratet und allein zu sein. Sie ließ sie noch eine Weile weiterreden, dann sagte sie: »Aber, Mama, du bist jetzt seit mehr als vier Jahren Witwe, und ich habe dich nicht ein Mal davon reden hören, dass du Lord Jellington heiraten willst.«
Lady Mellys Redeschwall hörte abrupt auf, und völlig aus dem Konzept gebracht starrte sie ihre Tochter an.
Und dann klopfte es glücklicherweise an der Tür zum Salon, ehe sie wieder Luft holen konnte, um zu antworten. Charley öffnete die Tür, und Victoria sah, dass hinter ihm nicht nur die Damen Winnie und Nilly standen, sondern auch der hochgewachsene, wie immer leicht derangiert wirkende James Lacy.
»Ah«, rief Lady Melly und erhob sich. Das arme Sofatischchen geriet arg ins Wanken, als sie daran vorbeisegelte. »Endlich.«
Victoria erkannte, dass die drei Ladys im Begriff waren, einen minutiös durchdachten Eroberungsfeldzug in die Tat umzusetzen. Lady Mellys Aufgabe war es gewesen herauszufinden, wie es ihrer Tochter ging, und die beiden anderen Damen hatten den Hauptgewinn abholen und zur rechten Zeit ausliefern sollen.
»Und es war ein so schrecklich beängstigender Vorfall!« Victoria wusste nicht genau, was Lady Nilly da plapperte, aber worum es auch ging, es war auf jeden Fall … beängstigend gewesen.
»Guten Tag, Mrs. – Lady Rockley«, sagte James. Er lächelte Victoria freundlich an. »Ich bin wirklich froh, dass es Ihnen heute besser geht.«
Sie erwiderte das Lächeln, legte jedoch nicht so viel Wärme hinein. Wie sollte sie ihrer Mutter bloß klarmachen, dass James nicht ihr nächster Schwiegersohn sein würde? »Wie nett von Ihnen vorbeizuschauen«, erwiderte sie steif.
»Welch ein Vergnügen, Sie zu sehen, Lord Rockley«, säuselte Lady Melly. Als wäre sie die Gastgeberin, forderte sie ihn und die anderen dazu auf sich zu setzen. »Victoria und ich haben gerade übereinstimmend festgestellt, dass der September ein wundervoller Monat für eine Hoch – ähm!« Sie stöhnte auf und riss ihr Bein aus der Reichweite von Victorias spitzen Schuhen.
»Geht es Ihnen gut, Ma’am?«, fragte James.
»Oh ja, wirklich. Verzeihung, Mylord«, sagte sie. »Äh … das ist meine Arthritis. Ich weiß nie, wann es mich mal wieder kneift.« Sie warf Victoria einen finsteren Blick zu.
»Vielleicht solltest du nach Hause gehen und dich ein bisschen ausruhen, wenn die Schmerzen zu groß sind, Mama.« Ihre Tochter lächelte sie höflich an. Dann wandte sie sich an James. »Wie ich sehe, hat das Feuer Sie nicht nennenswert verletzt.«
»Ich hatte Glück. Und obwohl Sie nicht ganz ohne Verletzungen davongekommen sind, scheint es Ihnen heute besser zu gehen. Darüber bin ich froh.« Seine blauen Augen funkelten. »Ich hatte schon befürchtet, dass Sie zu geschwächt wären, um mich heute Abend zu begleiten.«
Victoria öffnete schon den Mund, um zu erklären, dass sie bereits wieder spürte, wie sich Kopfschmerzen ankündigten. Aber Lady Mellys durchdringende Stimme übertönte alles, was sie hätte sagen wollen, und verkündete, dass ihre Tochter über eine hervorragende Konstitution verfügte und sich von den Schrecknissen der vergangenen Nacht völlig erholt hätte.
Victoria erwog für einen Moment, noch lauter zu sprechen als ihre Mutter; allerdings wären ihre angeblichen Kopfschmerzen dann vermutlich nicht mehr sonderlich überzeugend gewesen.
»Eigentlich ist es ja unpassend nach den gestrigen Ereignissen, Lady Rockley«, meinte James, der nur aus Charme und Grübchen zu bestehen schien und mit Leichtigkeit Lady Melly übertönte. »Aber Mr. Starcasset und seine Freundin Miss Regalado haben mich eingeladen, sie zu begleiten. Sie sagen, dass es da einen Kometen gibt, den man heute Abend von einer bestimmten Stelle aus in der Nähe eines der Parks sehen könnte. Ich muss gestehen, dass ich nicht so recht weiß, ob mich Sternenbeobachtung überhaupt interessiert, aber ich hielt es für einen hervorragenden Vorwand, Sie zu fragen, ob Sie sich mir wohl heute Abend anschließen würden.«
Victoria schluckte die Absage, die ihr bereits auf der Zunge gelegen hatte, herunter. George und Sara hatten James eingeladen, sich ihnen zu einem abendlichen Ausritt anzuschließen? »Natürlich wäre es mir eine Ehre, Sie zu begleiten«, erwiderte sie und war sich bewusst, dass sie Lady Melly gerade überglücklich gemacht hatte.
Was konnte sich eine Mutter, die Verkupplungspläne schmiedete, mehr erhoffen? Victoria war sich sicher, dass Lady Melly sich gerade eine romantische Kutschfahrt im Mondschein vorstellte, während die Realität wahrscheinlich deutlich ungemütlicher aussah. Eine List, eine Falle.
Doch wer war die gewünschte Beute: James … oder Victoria?
»Und wo ist dein Geliebter heute Abend?«, fragte Max. Sein Tonfall deutete an, dass er hoffte, Sebastians Erscheinen würde ihn endlich von der anstrengenden Verpflichtung befreien, sich mit Victoria unterhalten zu müssen. »Erzähl mir nicht, es hat eine Kabbelei unter Liebenden gegeben. Du wirkst etwas … besorgt.«
Besorgt war ein Wort, um die Verfassung zu beschreiben, in der Victoria sich befand, aber es war nicht das, das sie gewählt hätte.
Das Dinner lag bereits hinter ihnen, und sie hatten sich in den einzigen Salon, den es in diesem Stockwerk gab, zurückgezogen. Es war der kleine Salon, in dem sie Lady Melly und ihre Freundinnen empfangen hatte; und in dem die Gardella-Familienbibel aufbewahrt wurde. Als Tante Eustacia noch am Leben gewesen war und Victoria in die Welt der Venatoren eingeführt hatte, hatten sie zu dritt – oder viert, wenn Kritanu auch dabei war, und manchmal auch Wayren – hier häufig zusammengesessen.
»Es freut mich, dir mitteilen zu können, dass deine Pläne für meine Zukunft immer noch Bestand haben. Sebastian und ich tun überhaupt nichts anderes mehr, als uns schmachtende Blicke zuzuwerfen, beim Anblick des anderen in Verzückung zu geraten und Gedichte zu deklamieren, seit du unserem Bund deinen Segen gegeben hast.« Ihr Lächeln war süßer als die mit Puderzucker überstäubten Honigkekse, die Lady Winnie so gerne aß.
Max’ Lippen zuckten. »Ach, wenn ich doch nur dabei sein könnte, um es mit eigenen Augen zu sehen. Es ist bestimmt ein amüsanter Anblick.« Er streckte die langen Beine aus und legte sie an den Knöcheln übereinander. »Hat Vioget sich hingekniet, um dir in die kristallenen Augen zu schauen, als er überschwänglich wurde?«
»Ich denke, ich werde jetzt einen kleinen Sherry trinken«, sagte Victoria. »Soll ich dir einen Whiskey einschenken? Offensichtlich hatte meine Tante eine Vorliebe dafür, aber ich kann nicht behaupten, dass ich ihren Geschmack in der Hinsicht teile.« Sie klappte den Mund zu, als sie merkte, dass sie begann, nervös vor sich hin zu plappern.
»Unbedingt.«
Victoria ging zur Anrichte und schenkte die Getränke ein, um dann Max den bernsteinfarbenen Drink zu bringen. Sie selbst setzte sich in einen Sessel neben einem kleinen Tischchen, wo sie schon vor fast zwei Jahren gesessen und Pflöcke angespitzt hatte, während sie ihre Entscheidung rechtfertigte, Phillip zu heiraten.
Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es bereits nach neun war. James sollte um zehn kommen. Victoria nahm einen herzhaften Schluck von ihrem Sherry und ärgerte sich darüber, dass das Getränk so schwach war. Beinahe wie sie selbst.
»Gehe ich recht in der Annahme, dass du nicht die Absicht hast, heute Abend auszugehen?«, fragte Max unterdessen. Er sah sie über den Rand seines Glases hinweg an. Dann nahm er einen Schluck und stellte das Glas ab.
»Später vielleicht«, antwortete Victoria.
Er zog die Augenbrauen hoch. »Keine gesellschaftlichen Verpflichtungen? Keine Jagd auf Vampire?«
»James wird mich nachher abholen.«
»James, ah ja. Und was hält Monsieur Vioget davon? Oder machst du Jagd auf den Vampir, der auch bei Tage unterwegs ist?« Er kniff die Augen fragend zusammen. »Du gehst davon aus, dass er es ist. Ich bin mir da nicht so sicher.«
»Ach ja? Seltsam; warst nicht du derjenige, der die Vermutung geäußert hat, dass er es sein könnte?«
»Ah, dann war es dir selbst also nicht in den Sinn gekommen, bevor ich es erwähnte.« Er sah sehr zufrieden mit sich aus.
Sie erhob sich abrupt und ging zu dem Schrank, in dem die Bibel stand. »Ich habe sie mir seit jenem Tag, als Tante Eustacia mir von dem Vermächtnis der Gardellas erzählte, nicht mehr angeschaut.«
Sie spürte, dass Max’ Blick auf ihr ruhte, während sie den kleinen goldenen Schlüssel ins Loch schob und aufschloss. Dann öffnete sie die schwere Doppeltür.
Die Bibel ruhte im Schrank auf einer leicht geneigten Ablage.
Es war ein schweres Buch mit Goldschnitt, das trotz seines Alters immer noch glänzte. Die Lederecken waren rund und abgestoßen, doch der Rücken war noch genauso fest wie früher. Drei verblichene Lesezeichen aus Seide hingen schlaff herunter.
Sie nahm das Buch heraus und legte es auf den größeren Tisch in der Mitte des Raumes. Sie brauchte etwas, mit dem sie sich beschäftigen konnte, damit ihr nicht die ganze Zeit Gedanken und Fragen durch den Kopf rasten.
Victoria öffnete den Deckel und kam zur ersten Seite, auf der von Hand mit schwarzer, brauner und sepiafarbener Tinte geschrieben worden war. Auf diesen ersten Seiten standen die Namen der Gardellas, die ihre Berufung zum Venator angenommen hatten. Sie strich mit den Fingern über die letzten Namen, die dort eingetragen worden waren: Eustacia Alexandria Gardella. Darunter stand ihr eigener Name: Victoria Anastasia Gardella. Beim Anblick der mit relativ frischer Tinte kühn geschwungenen Schrift überlief Victoria ein leichter Schauer.
Würden irgendwann noch andere Namen unter ihrem eingetragen werden?
Sie spürte Max’ Blick schwer auf sich ruhen und fühlte sich genötigt, eine Erklärung abzugeben. »Tante Eustacia hat mir erzählt, dass die Originalblätter dieser Bibel im Mittelalter in den Besitz der Familie gelangten. Vor sechshundert Jahren.« Sie schaute auf und sah, dass er schweigend an seinem Glas nippte. »Ein Gardella-Mönch hat dieses Buch im zwölften Jahrhundert geschrieben. Ich frage mich, ob es da eine Verbindung zu den Mönchen gibt, die die Krypta gebaut haben, in die Sebastian und ich durch den Abwasserkanal gelangt sind.«
»Nun ja, der Gedanke, dass Mönche eine Bibel in Räumen schreiben, die neben denen liegen, wo Vampire ihre Geheimnisse verwahren, hat schon etwas Makaberes«, meinte Max ernst. »Es würde mich aber nicht überraschen, da Mönche und Vampire seit Jahrhunderten miteinander zu tun haben – obwohl sie meistens nicht gut miteinander ausgekommen sind.«
Die Bibel war immer wieder neu gebunden worden, um die Seiten hinzuzufügen, die im Laufe der Jahrzehnte durch das Anwachsen des Familienstammbaumes dazukamen. Victoria blätterte die steifen, bräunlichen Seiten vorsichtig um. Sie knisterten wie ein sanft brennendes Feuer. Auf manchen Seiten waren Bilder, verblassende Schrift auf anderen. Zeile um Zeile waren die Seiten damit gefüllt. Kunstvolle Verzierungen, Muster und Illustrationen in vergilbten Farben schmückten die Initialen jedes Buches der Bibel.
Sie blätterte wieder an den Anfang zurück und las die Liste der Venatoren durch. Catherin Victoria Gardella. Das Bild eines lebhaften Rotschopfs mit einem auffälligen Smaragdring und einem frechen Gesichtsausdruck kam ihr in den Sinn, und Victoria nickte kurz. Ja, sie hatte das Porträt in der Halle des Konsiliums in Rom gesehen.
Ein anderer Name, verblasst und weiter oben auf der Liste, zog ihren Blick auf sich. Rosamunde Joanna Gardella. Die Mystikerin, die während ihrer Jugend in einem Kloster Prophezeiungen niedergeschrieben hatte … ehe sie von ihrer Berufung zum Venator erfuhr.
Plötzlich fiel ihr etwas ein, und sie ging ans Ende der Liste zurück. »Sebastians Name steht gar nicht hier«, sagte sie und schaute zu Max auf.
»Meiner auch nicht.« Er nippte an seinem Glas und schluckte. »Die Liste da vorn in der Bibel beschränkt sich auf diejenigen, die in direkter Linie von Gardeleus abstammen, und in deren Adern reines Gardella-Blut fließt – so wie bei dir.«
Ein seltsamer Ausdruck huschte über sein Gesicht, und er hielt heftig blinzelnd inne. Victoria verkrampfte sich, doch dann fuhr er fort. »Ich glaube, am Ende des Buches befindet sich ein kompletter Stammbaum, der auch alle Venatoren mit weiter entfernten Verwandtschaftsbeziehungen – und diejenigen von uns, in deren Adern noch nicht einmal ein Tropfen Gardella-Blut fließt – enthält. Ich nehme an, dass du dort Zavier findest, und auch Brim und Michalas. Das habe ich zumindest gehört.«
»Ah ja.« Ein leichter Schauder lief ihr über den Rücken. Es würde jetzt nicht mehr lange dauern. »Wenn ich mir das Buch früher schon mal genauer angeschaut hätte, wüsste ich längst die Wahrheit über Sebastian; obwohl du und Tante Eustacia es ja vorgezogen haben, mich nicht einzuweihen.«
»Es gab keinen Anlass, dir davon zu erzählen.« Max nahm eine andere Sitzhaltung ein. »Und Vioget hätte ohnehin schon vor Jahren von der Liste gestrichen werden sollen.«
Victoria wusste, dass dies ihre letzte Unterhaltung über dieses Thema mit Max sein würde, und so schloss sie das Buch, um ihn anzuschauen. »Warum hasst du ihn so sehr?«
»Du fragst, weil du weißt, dass er mich verabscheut … und du fragst dich nun, welchen Grund ich für meine Feindseligkeit ihm gegenüber haben könnte. Ich weiß, dass er dir seine Sichtweise des Falls erzählt hat.«
»Es gibt keinen Fall, über den gerichtet wird, Max. Ich weiß, warum er dich … nicht mag und dass er dich für Giulias Tod verantwortlich macht – auch wenn sie durch seine Hand starb. Ich weiß aber auch, dass du dir den furchtbaren Fehler verziehen hast, weil du sie nicht in die Tutela eingeführt hast, um ihr Schaden zuzufügen. Du dachtest, du würdest ihr damit helfen, und hast hinterher alles getan, was in deiner Macht stand, um dafür zu büßen. Aber was ich eigentlich wissen will, ist, was dich an ihm so mit Abscheu erfüllt.«
Er sah sie an, und sie nahm all die Empfindungen, die ihn bewegten, in seinem Blick wahr. »Vioget hat die Berufung – das Blut, die angeborenen Fähigkeiten, ein Venator zu sein – und trotzdem wies er alles zurück. Jahrelang. Das kann ich ihm nicht verzeihen. Und ich verstehe es auch nicht.«
»Zuerst konnte ich das auch nicht. Aber dann habe ich begriffen, warum er den Antrieb verloren hatte, Vampire zu jagen. Auch mich lässt manchmal der Gedanke zögern, dass ich es bin, die ein Geschöpf, das – egal wie verabscheuungswürdig es geworden ist – einst ein Mensch war, der liebte und geliebt wurde, ewiger Verdammnis überantworte.«
»Trotzdem tust du es«, erwiderte Max mit ruhiger, fester Stimme. »Genau wie ich. Denn du musst, weil wir den Auftrag haben, die Menschen zu schützen. Meinst du etwa, mir wäre nicht bewusst, dass Giulia durch mich nicht nur in einen unsterblichen Halbdämon verwandelt wurde, sondern dass ich sie auch zu ewiger Verdammnis verurteilt habe? Ich muss jeden Tag mit diesem Wissen leben.«
Victoria schaute ihn an und erkannte, warum er sich nach außen so kalt und streng gab, warum er meist so spröde und gefühllos wirkte. Das machte das, was sie vorhatte, umso schwerer. »Es war zwar furchtbar für mich, Phillip zu pfählen«, erklärte sie mit wehem Herzen, »aber der Gedanke, dass er nicht in der ewigen Hölle schmoren musste, weil er noch nicht das Blut eines Sterblichen getrunken hatte, machte es mir wiederum leicht.«
»Wie wahr.«
»Trotzdem«, fuhr sie fort und wiederholte seine eigenen Worte, »bist du nie von der Entscheidung abgekommen, Jagd auf Vampire zu machen, obwohl du … wir … wissen, welches Schicksal auf sie wartet.«
»Nein. Denn welche Wahl hätten wir denn sonst? Wenn wir sie nicht pfählen, uns nicht bemühen, ihnen ein Ende zu machen, was würde dann aus den Menschen werden? Sie sind stärker und schneller als wir, sie sind unsterblich, und ihr Instinkt – ihr Überlebenswille – treibt sie dazu, sich das, was sie brauchen, von den Menschen zu holen. Wenn wir nichts täten, wenn alle – oder auch nur viele – Venatoren ihre Berufung so wie Vioget ablehnen würden, dann würde es nicht lange dauern, bis die Unsterblichen die Macht übernehmen. Wir haben keine andere Wahl. Als Venatoren – besonders du als Gardella – haben wir die Berufung. Es ist unsere Pflicht und Verantwortung. Aber es steht uns nicht zu, darüber zu urteilen, ob die Untoten leben oder sterben sollten. Oder ob doch eine Hoffnung besteht, dass der Seele eines Untoten die Verdammnis erspart bleibt.«
»Gibt es diese Hoffnung?«
Er zuckte die Achseln. Tiefe Falten durchzogen sein Gesicht. »Ich lebe jeden Tag mit der Hoffnung, dass vielleicht …« Er schüttelte den Kopf, als könnte er dadurch wieder klarer denken. »Es steht uns nicht zu, unsere Berufung in Frage zu stellen.« Er sah Victoria an. Sein Blick wirkte trübe. »Wenn Phillip das Blut eines Sterblichen getrunken hätte, ehe du die Möglichkeit hattest, ihn zu pfählen, würdest du es dann auch noch getan haben … wohl wissend, dass du ihn damit zur Hölle schickst?«
Wie viele Male hatte sie sich genau diese Frage selbst gestellt? Unzählige Male im Laufe der letzten zwei Jahre. Manchmal hatte sie diese Frage aus unruhigem, wenn auch tiefem Schlaf gerissen, verschwitzt und mit pochendem Herzen, während ihre Finger einen unsichtbaren Pflock umklammerten. Sie kannte die Antwort.
»Ja.«
Max nickte. »Und das ist der Unterschied zwischen dir und mir – und Vioget. Wir erfüllen die uns von Gott gegebene Aufgabe, egal wie schwierig oder schmerzhaft es sein mag.« Er hob sein Glas, um daraus zu trinken, hielt aber mitten in der Bewegung inne.
Ihre Blicke begegneten sich, und in dem Moment, ganz plötzlich, begriff er. »Gütiger Gott, das hast du nicht getan.« Wankend kam er hoch. Wut verdunkelte sein Gesicht, eine Wut, wie sie sie noch nie bei ihm gesehen hatte. Sein Gesicht sah aus, als wäre es aus Stein gemeißelt.
Ihr Magen fing heftig zu schmerzen an, als auch sie selbst sich langsam erhob. Die Schuldgefühle standen ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Sie schwieg. Ihr fehlten die Worte.
Er wollte sich auf sie stürzen, doch das schnell wirkende salvi ließ ihn taumeln, und er stieß gegen den Tisch. Die Gläser klirrten unheilvoll. »Warum?« Seine Brust bewegte sich ruckartig auf und ab, als wäre er stundenlang gelaufen.
Sie konnte nicht antworten, ihr Mund war völlig ausgetrocknet. Sie konnte kaum schlucken, und ihre Zunge schien am Gaumen festgeklebt zu sein.
Max holte aus, um sie zu schlagen. Aber er bewegte sich ungeschickt und langsam, sodass sie keinerlei Schwierigkeiten hatte, sich außer Reichweite seiner starken Hände zu begeben. »Was machst du heute Nacht? Wo gehst du hin?« Seine Aussprache war undeutlich. Salvi – einmal eingenommen – wirkte schnell.
Victoria schüttelte den Kopf. »Max, ich wollte …«
»Mein Gott, Victoria …« Seine Stimme wurde leiser und schwächer, und als er sich abwandte, wankte er leicht. »Das werde ich … dir nie … vergeben …«
Sein stolzer Körper sackte in sich zusammen, und sie sah, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten. Er fiel förmlich in den Sessel, aus dem er sich eben erhoben hatte. Durch die Wucht der unkontrollierten Bewegung wurde dieser an die Wand geschoben.
Max schaute auf und bedachte sie mit einem letzten Blick, der voller Abscheu war, ehe er bewusstlos in sich zusammensank.