Kapitel 16
In dem der Marquis von Rockley sich eine Anstandsdame zulegt
Die Nacht hatte noch genügend Wärme vom Tage gespeichert, um einen Schal oder ein Umschlagtuch überflüssig zu machen. Der Mond war ein bisschen schmaler als am Abend zuvor, als Victoria Bemis Goodwin auf der leeren Straße gegenübergestanden hatte. Doch der Himmel war mit Sternen übersät, sodass es nicht gar so dunkel war.
James saß neben ihr in der Kutsche, hielt die Zügel und berührte jedes Mal ihren Arm, wenn er sich bewegte. Das offene, zweisitzige Gefährt rumpelte über die verlassenen Wege des Regent’s Park, wo unregelmäßig verteilte, ausladende Büsche und Gestrüpp für eine etwas unheimliche Stimmung sorgten. In der Luft hing schwach der Geruch von verbranntem Holz.
Victoria gelang es nicht, Max aus ihren Gedanken zu verdrängen. Sie holte tief Luft und schaute gehorsam nach oben, als ihr Begleiter sie auf ein besonders auffallendes Sternbild aufmerksam machte, aber ihre Gedanken wirbelten wie das Kielwasser eines fahrenden Bootes.
Er würde es nie begreifen … er würde ihr nie vergeben. Das wusste sie. Aber noch viel mehr als seinen Zorn hatte sie die Gefahren gefürchtet, denen er sich ausgesetzt hätte, wenn er ihr heute Abend gefolgt wäre. Es hatte sich gelohnt, die Gelegenheit beim Schopfe zu ergreifen, denn so musste sie sich keine Gedanken um seine Sicherheit machen.
»Aha, da sind sie ja«, rief James erfreut. »Da drüben!«
James’ Worte zwangen sie, sich von ihren unangenehmen Gedanken zu lösen und sich auf das zu konzentrieren, was gerade passierte. Sie war nicht ganz unvorbereitet auf diesen kleinen Ausflug mitgekommen. Als sie also angestrengt in der Dunkelheit zu dem munteren Gefährt hinüberschaute, in dem vermutlich Sara und George saßen, blickte sie in Wirklichkeit daran vorbei. Wenn alles lief wie geplant, dann warteten irgendwo da hinten im Dunkeln Sebastian und Kritanu, die von Barth mit der Kutsche hierher gebracht worden waren. Sie würden das Geschehen im Auge behalten, abwarten und erst dann eingreifen, wenn es irgendwelche Probleme gab.
Während Sara und George in ihrem Wagen näher kamen, bemerkte Victoria das verräterische Kältegefühl im Nacken, und sie verspürte so etwas wie Zufriedenheit, und Erwartung machte sich in ihr breit. Sie hatte also Recht gehabt, misstrauisch zu sein.
»Guten Abend, Lord Rockley … und Lady Rockley.« In Georges Stimme schwang leichte Erheiterung mit … wahrscheinlich weil die Namen eine Verbindung implizierten, die gar nicht vorhanden war.
Victoria sah, wie sich Schatten hinter der Kutsche der anderen bewegten. Das zuverlässige Gespür im Nacken sagte ihr, dass mehrere Untote in der Nähe waren. Sie spannte sich innerlich an, wobei sie darauf achtete, dass James nichts davon bemerkte. Wenn er ein Vampir war, der bei Tage umging, brauchte er das Elixier bei Nacht nicht zu trinken – außer er wollte nicht, dass sie erfuhr, zu welchen Geschöpfen er gehörte. Das klang logisch.
Genauso gut konnte es aber auch sein, dass sie beide als Opfer auserkoren waren.
Aber warum geschah nichts, jetzt, wo die anderen Vampire gekommen waren? Und sie unternahmen keinen Versuch, sich vor ihren Sinnen zu verbergen. Sara und George – und wer sonst noch – wussten doch bestimmt, dass sie spürte, wenn Vampire in der Nähe waren. Unbehagen stieg in ihr auf.
Genau in dem Moment kam eine dritte Kutsche in Sicht, die sich aus der Richtung näherte, aus der auch Sara und George gekommen waren. Victoria hörte ein vertrautes Lachen … das ihr einen entsetzlichen Schauer über den Rücken laufen ließ. Was machte Gwendolyn hier?
Das Ganze schien nach außen hin den Rahmen einer gesellschaftlichen Zusammenkunft zu haben, immer vorausgesetzt man ignorierte die Tatsache, dass ein paar der Anwesenden die schlechte Angewohnheit hatten, Blut zu trinken.
»Ich muss mich für unser Zuspätkommen entschuldigen, aber meine liebe Schwester und ihr Verlobter bestanden darauf, uns bei unserem nächtlichen Ausflug zu begleiten«, erklärte George, der seine Kutsche so ausrichtete, dass auch die dritte aufschließen konnte.
»Victoria!«, rief Gwendolyn lächelnd und rückte in ihrem Wagen nach vorn, um zu winken. Das Mondlicht brach sich in ihrem blonden Haar und hob die rundlichen Wangen hervor. »Ist das nicht herrlich? Eine Ausfahrt in den Park bei Nacht?«
»Es ist ganz wunderbar«, erwiderte Victoria, der es gelang, keine Beklommenheit in ihrer Stimme mitschwingen zu lassen. Vor zwei Nächten hatte George seine Schwester noch nach Hause geschickt, in Sicherheit; warum hatte er ihr heute Abend erlaubt mitzukommen?
»Es war eine ganz spontane Entscheidung«, erklärte Gwendolyn, als ahnte sie, dass ihre Anwesenheit erläutert werden müsste. »Ich hoffe, du hast nicht das Gefühl, dass Brodebaugh und ich stören. George meinte, ich sollte mich nicht der kühlen Nachtluft aussetzen, aber ich habe Brodebaugh davon überzeugt, dass es auch nicht schlimmer sein kann, als bei offenem Fenster im Esszimmer zu sitzen. Und George und Sara konnten einfach nicht allein ausfahren. Das gehört sich nicht.« Gwen strahlte förmlich vor Glück, als sie sich an ihren Verlobten lehnte, der mit einem nachsichtigen Lächeln auf sie herabblickte.
»Ja, genau«, meinte Victoria matt. Sie wartete immer noch darauf, dass irgendetwas passierte … obwohl sie nicht wusste, was eigentlich.
»Wo ist denn nun dieser Komet, den Sie uns zeigen wollten?«, fragte James mit dröhnender Stimme.
Statt wie die anderen automatisch nach oben zu schauen, versuchte Victoria die Dunkelheit mit den Augen zu durchdringen. Die kleinen glühenden Punkte, die wie rote Leuchtkäfer zwischen den Büschen leuchteten, beobachteten alles erwartungsvoll. Einer ihrer Pflöcke steckte unter ihrem Schenkel in einer versteckten Tasche, die Verbena ihr ins Kleid genäht hatte. Sie rutschte ein bisschen zur Seite, um besser an ihn heranzukommen. Es juckte ihr in den Fingern, den kleinen Holzpflock zu greifen und ihn in die Herzen zu stoßen, die sie umgaben.
Die Vernunft hielt sie zurück; Vernunft und Besonnenheit. Sie würde erst dann eingreifen, wenn es notwendig wurde. Gwendolyn und ihr Earl brauchten nicht in Angst und Schrecken versetzt oder Zeuge der Gewalt werden, die dann ausbräche.
Aber obwohl sie angespannt wartete, geschah nichts. Die Ausfahrt im Park verlief genau so wie geplant: als Gelegenheit für mehrere junge Paare zu einem romantischen Intermezzo.
Erst eine halbe Stunde später, nachdem George auf fast jede Sternenkonstellation hingewiesen hatte sowie jeden Planeten, den die Menschheit kannte – und vor allem den Kometen Encke, wie er genannt worden war –, vollzog sich eine kaum merkliche Veränderung.
Sie spürte eine wachsende Erregung, als würde man auf etwas warten. Victoria blieb in Habachtstellung, aber bis auf die beharrliche Kälte in ihrem Nacken und das Gefühl, dass gleich etwas passieren müsste, sah und spürte sie nichts.
Sie musste dafür sorgen, dass Gwendolyn und ihr Earl verschwanden, ehe das, was geschehen sollte, geschah.
Sie fuhren den leicht gewundenen Weg entlang, der vom Mondschein erhellt wurde. Die seltsamen Aufschüttungen und deplatziert wirkenden Felsbrocken, die kleinen Gruppen aus Bäumen und Sträuchern und die neu angelegten Pfade zeugten von John Nashs Neuanlage des Parks, der sich im Dunkel vor ihnen erhob und unheimliche Schatten auf die Straße warf.
Die drei Kutschen sausten munter dahin und zwar nicht hintereinander, sondern versetzt zueinander. George und Sara fuhren vorne weg, Victoria und James etwas weiter hinter ihnen links und Gwendolyn und Brodebaugh direkt hinter George, fast neben Victoria.
Sie drehte sich auf ihrem Sitz, um Gwendolyn etwas zuzurufen. Sie wollte Kopfschmerzen, Müdigkeit oder irgendetwas vorschützen, damit ihre Freundin sie nach Hause begleitete.
Doch ehe sie auch nur den Mund aufmachen konnte, ging ein Ruck durch die Kutsche, und plötzlich begann alles umzustürzen. Die Pferde wieherten auf, und James brüllte. Victoria hatte das Gefühl, als würde sich alles viel langsamer bewegen. Als sie dann mit dem Kopf irgendwo aufschlug, war da ein Moment aus Dunkelheit und Schmerz.
Nur Sekunden später öffnete sie die Augen wieder und hörte Gwendolyn schreien. James lag mit seinem ganzen Gewicht auf ihr. Alles war dunkel und schwer. Sie brauchte nur einen Augenblick, um zu erkennen, dass die Kutsche irgendwie umgestürzt war und sie festgeklemmt unter James lag. Der Wagen lag auf der Seite, sodass sich alles auf ihre Seite der Kutsche konzentrierte.
Sie hatte die Geistesgegenwart, nach ihrem Pflock zu greifen, und obwohl sie nach dem Sturz noch benommen war, hatte Victoria sich nicht verletzt. Aber sie war sich im Klaren darüber, dass dies kein Unfall gewesen sein konnte.
Dann wurden die Schreie lauter, und als Victoria rote Augen von oben in die Kutsche hineinschauen sah, wusste sie, dass sie Recht hatte.
Victoria versuchte, James von sich herunterzuschieben. Er schien bewusstlos zu sein, und seine Beine steckten irgendwo unter der Kutsche fest, sodass es schwierig war, ihn zu bewegen. Durch die unangenehme Lage konnte sie sich nicht rühren. Die Pferde wieherten immer noch schrill, und die Kutsche ruckte wie wild, während die Pferde versuchten sich loszureißen.
Der Vampir packte James und riss ihn von Victoria herunter – was ein Fehler von ihm war. Sobald sie von dem schweren Gewicht befreit war, rappelte sie sich mühsam hoch. Sie landete gerade rechtzeitig auf dem Boden, als der Vampir auch schon wieder zurückkam. Sie empfing ihn mit der Spitze ihres Pflocks und überantwortete ihn in einer Staubwolke seinem Schicksal. Dann wirbelte sie herum, um sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen.
Sebastian und Kritanu hatten sich bereits ins Getümmel gestürzt. Victoria sah, dass Sebastian gleich mit mehreren Vampiren zu kämpfen hatte. Kritanu machte sich seine qinggong-Fähigkeiten zunutze und sprang und glitt von Baum zu Felsbrocken und wieder zu Baum. Immer wieder ging er auf die Geschöpfe los, schwang sein langes, glänzendes Schwert und trennte Köpfe von Untoten ab, wann immer sich eine Gelegenheit dazu ergab. Gwendolyn saß schreiend in ihrer Kutsche. Die Hände presste sie an ihr Gesicht, während ihr Verlobter versuchte, die Untoten mit seiner Peitsche zu vertreiben.
Von George und Sara sowie deren Kutsche war nichts zu sehen.
Sie waren fort. Victoria hätte angenommen, dass sie bleiben würden, um dabei zuzusehen, wie ihre Falle zuschnappte. Sie zog die Augenbrauen zusammen, als sie herumwirbelte und einen angreifenden weiblichen Vampir mit dem Arm abwehrte und ihm dann den Pflock ins Herz stieß.
Sara und George waren verschwunden, sobald der Kampf begonnen hatte und alle darin verwickelt waren.
Aber Victoria verschwendete keine weitere Zeit mit Nachdenken. Es waren mindestens zwölf Vampire da, und sie stürzte sich ins Gefecht, indem sie als Erstes Sebastian bei dem Trio beistand, welches versucht hatte, ihn neben einem riesigen Felsbrocken in die Enge zu treiben.
Es machte einmal Puff, und schon waren seine Angreifer auf ein schlichtes Duo reduziert. Dann drehte sie sich zu Gwendolyn und Brodebaugh um. Mit einem Schrei, der die Aufmerksamkeit auf sie lenken sollte, stürmte sie auf den Haufen rotäugiger Vampire zu, während Kritanu mit seiner drahtigen Gestalt anmutig auf dem Dach der Kutsche landete. Sein Schwert pfiff durch die Luft und hackte den Kopf eines Untoten ab, ohne dass er sich dabei auch nur in Reichweite des Geschöpfes mit der übermenschlichen Kraft begab. Dann wandte er sich dem nächsten zu.
Er drängte einen besonders beharrlichen Untoten zurück, sodass das Geschöpf vor ihr taumelnd zu Boden ging und Victoria stehen blieb und ihn pfählte, ehe sie sich in das Handgemenge stürzte, welches um die Kutsche ihrer Freundin herum tobte.
Warum hatten George und Sara das Weite gesucht? Um zu fliehen?
Oder um sich um irgendetwas anderes zu kümmern?
Und dann kam ihr plötzlich ein entsetzlicher Gedanke. Max. Er war allein … und außer Gefecht gesetzt.
»Kritanu«, rief sie, und ihre Stimme übertönte das Chaos. Die schwarzen Augen ihres Lehrers fanden sie inmitten des Getümmels. »Max! Er ist schutzlos.«
Erleichtert sah sie, dass Kritanu sofort hochsprang und in den Ästen eines hohen Ahorns verschwand. Zweige und Blätter bewegten sich sanft auf seinem Weg zurück zur Droschke, die ihn zum Stadthaus bringen würde.
Jetzt konnte sie sich erst einmal auf die gegenwärtige Situation konzentrieren … um Max würde sie sich später Gedanken machen.
Trotz ihrer Röcke, die sie behinderten, und Gwendolyns Schreien, die ihre Ohren zum Klingeln brachten, war Victoria recht erfolgreich. Sie pfählte drei weitere Vampire, ehe sie merkte, dass der Kampf zu Ende war.
Sie atmete schwer, war aber keineswegs außer Atem, als sie sich umdrehte und feststellte, dass Sebastian hinter ihr stand. Er sah sie an. Der Pflock, den er in der Hand hielt, war deutlich zu erkennen, und das Mondlicht beschien sein zerzaustes blondes Haar. Er atmete schwerer als sonst, aber er hatte nur einen ganz leichten Schweißfilm auf der Stirn.
»Ich weiß, dass ich eigentlich nicht fragen sollte – und angesichts der Tatsache, dass du in meinen Kampf eingegriffen hast, während ich keinerlei Anstalten machte, dir zu helfen«, meinte er, und seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, »betrachte es einfach als ein Zeichen meiner Zuneigung zu dir, wenn ich trotzdem frage: Hast du dich verletzt, als die Kutsche umgekippt ist?« Seine Stimme, die tiefer war als sonst, strafte die Erheiterung, die in seinen Worten mitschwang, Lügen.
»Nicht so sehr, als dass es eine Rolle spielen würde«, erwiderte sie und merkte plötzlich, dass es ihr eigentlich egal war, ob er nach ihrem Befinden fragte oder nicht. Max hätte es bestimmt nie getan.
»James?«, rief sie, froh, von der dunklen Gestalt abgelenkt zu werden, die sich gerade von der Stelle erhob, wo der Vampir ihn hingeschleift hatte. »Sind Sie verletzt?« Sie eilte an seine Seite und war sich der Tatsache bewusst, dass Sebastian ihr hinterherschaute.
Sie fand es jetzt leichter, angenehmer … mit Sebastian zusammen zu sein, ihm zu vertrauen, Seite an Seite mit ihm zu kämpfen. Victoria schaute zurück und sah, dass er sie immer noch beobachtete, obwohl er gerade mit Gwendolyn und Brodebaugh sprach.
»Was ist passiert?«, fragte James. »Das war ja ein verdammt – Verzeihung, Ma’am – großes Loch da!« Er schaute zur Kutsche hinüber, und auch Victoria erkannte jetzt, dass das gesamte Vorderteil in ein Loch im Boden gekracht war. Sein Blick richtete sich auf die Pferde, die zwar immer noch schnaubten und mit den Augen rollten, aber mit ihren Versuchen aufgehört hatten, den Wagen herauszuziehen.
Sie nickte ihm zu, und zusammen gingen sie zum Wagen, um alles in Augenschein zu nehmen.
Die Ursache des Unfalls war schnell geklärt. Jemand hatte das tiefe Loch im Boden mit ein paar Zweigen und Blättern verdeckt. Die Pferde hatten es noch geschafft, unbeschadet darüber hinwegzukommen, doch die breitere Kutsche war mit dem linken Vorderrad in das Loch gerollt.
Der Sturz hatte gerade gereicht, um sich ein bisschen wehzutun und einen Schreck zu bekommen, war aber nicht schwer genug gewesen, als dass man dabei verletzt worden wäre. Sie fragte sich, ob das beabsichtigt gewesen war.
Oder, sagte sie sich wieder, vielleicht hatte sie dadurch nur abgelenkt werden sollen, während Sara und George sich an Max heranmachten – nachdem sie sich davon überzeugt hatten, dass Max sich nicht irgendwo im Hintergrund aufhielt, um Victoria zu helfen.
Wenn beide Vampire waren, würde es ihnen nicht gelingen, in Tante Eustacias Haus einzudringen. Aber wenn einer von ihnen kein Vampir war, so konnten sie doch hinein zu Max … wenn das tatsächlich ihre Absicht war.
Sie wusste, dass Kritanu und Barth zusammen mit einer reizbaren Verbena mit Leichtigkeit ein oder zwei Nichtvampire davon abhalten konnten, in das Haus einzubrechen.
Natürlich wäre Max in der Lage gewesen, mit so einer Bedrohung allein fertigzuwerden. Wenn sie ihn nicht betäubt hätte.
Victoria verdrängte die leise nagenden Gewissensbisse, indem sie sich fragte, ob es hier nicht doch um mehr gegangen war. Ging es wirklich nur darum? War das Ganze nur initiiert worden, um Max wieder zu Lilith zu schaffen? Oder verfolgten sie noch ein anderes Ziel?
Vielleicht war Max doch nicht der Grund für all diese Übergriffe. Vielleicht ging es gar nicht um den Vampir, der bei Tage umging. Unter Umständen suchte sie an einer völlig verkehrten Stelle. Letztendlich war sie das Ziel von Bemis Goodwin gewesen – obwohl es keine eindeutige Verbindung zwischen ihm und der Tutela gab. Da gab es nur Max’ Erinnerung an einen Mann, der zu den Vampiren gehalten und den Namen Goodwin getragen hatte.
Vielleicht war Max ja selbst der Vampir, der am Tage umging.
Das war total lächerlich.
»Wir müssen Hilfe holen, um sie wieder herauszuziehen«, meinte James und kratzte sich dabei am Kopf, wie es ein englischer Gentleman nie getan hätte. »Das wird wohl erst morgen was werden.«
»Sebastian und Brodebaugh könnten es schaffen, vermute ich«, sagte Victoria. Sie winkte die beiden Männer heran, und mit vereinten Kräften – besonders der von Sebastian, die durch die vis bulla verstärkt wurde – dauerte es nur ein paar Augenblicke, bis die Kutsche wieder aufrecht stand.
Dann sahen Sebastian und sie einander an. »Spürst du die Anwesenheit von weiteren Untoten?«, fragte er, ohne dass die anderen es mitbekamen.
Sie verzog das Gesicht. »Du spürst meine Gegenwart immer noch?« Er nickte. Aber das war im Moment zweitrangig. »Ich spüre überhaupt keine Untoten mehr. Und ich weiß auch nicht, was aus George und Sara geworden ist. Aber irgendwie müssen wir James, Brodebaugh und Gwen wohlbehalten nach Hause bringen. Ich traue der ganzen Situation nicht.«
»Starcasset gab seinen Pferden sofort die Peitsche, als deine Kutsche umstürzte«, erzählte Sebastian ihr. »Ich sah ihn davonrasen, und es wirkte nicht so, als ob er plante wiederzukommen.«
»Wir passen nicht alle in eine Kutsche. Ich habe Kritanu und Barth zu mir nach Hause geschickt.« Sie war noch nicht so weit, ihm eine umfassende Erklärung zu geben, und man musste es Sebastian zugutehalten, dass er nicht fragte.
»Vielleicht wäre es am besten, wenn ich den Marquis nach Hause bringe und du den Earl und Gwendolyn begleitest.« Bei Sebastians Vorschlag musste Victoria ein Lächeln unterdrücken.
Dann konnte sie es nicht mehr zurückhalten, und sie schaute spitzbübisch zu ihm auf. »Weil du dem Marquis im Mondschein nicht traust … oder mir?«
Ihre Bemerkung ließ Sebastian wiederum überrascht lächeln. »Er kann es gern versuchen, wenn er möchte … Ich mache mir keine Sorgen, dass dieser große, unzivilisierte Hornochse dich mit seinem Charme blenden könnte, Victoria. Er ist nicht Manns genug für dich.« Er sah sie verschmitzt an, wobei sein Lächeln im Mondlicht plötzlich hitzig und verheißungsvoll wirkte. »Ich vermisse das Zusammensein mit dir.«
»Victoria!«
Gwens Stimme unterbrach den Moment, und Victoria wusste nicht recht, ob sie nun enttäuscht oder erleichtert war. Sebastian würde sich nicht mehr lange zurückhalten lassen … und heute Nacht … nun, heute Nacht wusste sie einfach nicht, ob sie Lust darauf hatte. Sebastian war ziemlich geschickt darin, für Ablenkungen der angenehmsten Art zu sorgen. Ein widerstrebendes Lächeln zuckte um ihren Mund … das verblasste, als sie wieder begann, sich Sorgen um Max zu machen. »Ja, Gwen?«
»Sagst du mir, was da eigentlich passiert ist?« Ihre Freundin war ganz aufgeregt – offensichtlich hatte der Schock über den Angriff nachgelassen und das, was sie gesehen hatte, war endlich zu ihr durchgedrungen. »Wer waren diese Leute? Warum sahen ihre Augen so seltsam aus?«
Ach, wie sehr sehnte Victoria sich nach der goldenen Scheibe ihrer Tante Eustacia! Die Scheibe, mit der man bestimmte Erinnerungen bei Menschen, die nichts von den Untoten wissen sollten, löschen konnte. Und das betraf die meisten Menschen auf der Welt.
»Was soll ich ihr sagen?« Sie sah Sebastian an, und er musste wohl erkannt haben, was sie dachte.
»Ich werde die beiden nach Hause bringen. Du kannst mit dem Marquis fahren, damit er wohlbehalten heimkommt. Der arme Teufel. Ich bedaure ihn jetzt schon fast für alle Versuche, die er vielleicht unternimmt.« Sein Lächeln blitzte auf, und er wirkte sehr selbstsicher, von sich überzeugt und sexy.
Die Absprache kam ihr sehr entgegen – St. Heath’s Row lag näher an ihrem Zuhause. Sie konnte James absetzen und dann schnell zu Tante Eustacias Haus zurück, um sich davon zu überzeugen, dass mit Max alles in Ordnung war.
»Danke, dass du Gwen nach Hause bringst. Du bist so viel besser im Geschichten erzählen als ich. Ich bin mir sicher, dass sie dir beinahe alles glauben würde, was du erzählst«, erwiderte sie mit einem honigsüßen Lächeln.
»Mit Schmeicheleien, meine Liebe, erreichst du alles bei mir.« Er zog sie in seine starken Arme, an seine warme Brust und legte seinen Mund besitzergreifend auf ihre Lippen.
Der Kuss dauerte lange genug, um ihr den Atem zu nehmen, sodass sie erst einmal tief Luft holen musste, als er sie wieder losließ. Es war ein perfektes Verschmelzen von Lippen und Zunge gewesen, dem das Versprechen auf mehr innewohnte.
Und natürlich war es eine eindeutige Botschaft an James Lacy, dass Victoria bereits versprochen war.