Kapitel 13
In dem unsere Heldin eine aufschlussreiche Entscheidung fällt
Tief in Gedanken versunken, aber froh, dass ihrer Freundin nichts passiert war, verließ Victoria Gwendolyns Haus.
Ihr war klar geworden, dass es unter Umständen mehr als nur einen Vampir gab, der am Tage unterwegs war. Denn was sollte einen Untoten letztendlich davon abhalten, das Elixier zu trinken? Es war doch so einfach.
Und vielleicht hatten nicht nur ein paar diesen Trank zu sich genommen, sondern unter Umständen gar viele?
Sie saß in der Droschke, und ihre Schulter stieß jedes Mal gegen die Seitenwand, wenn Barth nach rechts abbog. Immer wenn er die Pferde antrieb, zuckte ihr Kopf. Seine derben Flüche schallten die Straße entlang, während er die Kutsche durch die Fleet Street lenkte – die nicht nur voller anderer Gefährte war, sondern auch von Käufern, Bummlern, Ladenbesitzern und Straßenbengeln bevölkert wurde.
Doch ihr langsames Vorwärtskommen verschaffte Victoria die Zeit, über die Situation nachzudenken.
Soweit sie wusste, konnte das Elixier nur aus den Staubgefäßen einer speziellen Pflanze gewonnen werden, die selten blühte – vielleicht einmal alle hundert Jahre oder unter Umständen auch zweimal in diesem Zeitraum. Da nur so geringe Mengen hergestellt werden konnten, musste es unter den Vampiren eine größere Nachfrage geben, als befriedigt werden konnte. Das schloss nicht aus, dass mehr als ein Untoter das Elixier zu sich nahm, aber der Vorrat würde nicht ewig reichen. Und somit konnte es keine ganze Armee von Untoten geben, die es tranken, was sie doch etwas beruhigte.
Trotzdem konnten sowohl Sara als auch George zu den Vampiren gehören, die am Tage umgingen.
Natürlich konnte auch James, wie Max angedeutet hatte, der Untote sein, der bei Tage sein Unwesen trieb. Auch ihr war nicht entgangen, dass die Vorfälle mit seiner Ankunft in St. Heath’s Row begonnen hatten.
Sowohl James als auch Sara und George waren bei der Feier der Hungreaths und beim Maskenball gewesen. Und obwohl Victoria keinen von ihnen im Regent’s Park gesehen hatte, als sie das erste Opfer fand, bedeutete das noch lange nicht, dass sie nicht doch irgendwo in der Nähe gewesen waren. Sie hatte sich schließlich mit Gwen und Brodebaugh unterhalten, die ihnen erzählt haben konnten, dass Victoria im Park war.
Oder aber es handelte sich bei dem Vampir, der bei Tage umging, um jemanden, den sie weder kannte noch je bemerkt hatte. Schließlich musste es nicht unbedingt einer sein, den sie schon gesehen hatte. Jeder Günstling Liliths kam in Frage.
Und ja, in der Tat, es konnte auch Mr. Bemis Goodwin sein.
Ach, wie sehr wünschte sie sich, dass er es sein möge.
Sogar jetzt, wenn sie daran dachte, wie sie von seinen durchdringenden, wütenden Augen gemustert wurde, die nach etwas suchten, das nicht da war, spürte sie, wie sie sich wieder anspannte. Es juckte ihr in den Fingern, nach einem Pflock zu greifen, um ihm diesen in die Brust zu stoßen. Er hatte nicht damit hinter dem Berg gehalten, dass es sein größter Wunsch war, sie hängen zu sehen.
Aber warum?
Victoria ließ sich die widerliche Vorstellung durch den Kopf gehen. Es fiel ihr nicht leicht: Die Wut vernebelte ihr den Blick, und ihr Verstand bäumte sich allein bei dem Gedanken schon auf … aber sie durfte ihn nicht vernachlässigen.
Warum sollte ein Mann, den sie nicht kannte, ihr Schaden zufügen wollen?
Ein paar tiefe Atemzüge später – sehr konzentrierte, tief eingeatmete, gehaltene und dann langsam ausgeatmete Züge später – war es Victoria gelungen, ihre wilden Berserkergedanken niederzuringen.
Er hielt sie entweder tatsächlich für eine Mörderin und wollte, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wurde – in dem Falle brauchte sie sich keine Sorgen zu machen; denn sie war ja unschuldig. Doch damit hatte sie noch keine Erklärung für seine Bemerkungen über die Untoten.
Eine Frau wie Sie.
Nein, er wusste irgendetwas über sie. Möglicherweise war er selbst ein Vampir und trank das Elixier. Natürlich würde ein Vampir sie, Illa Gardella, am liebsten tot sehen. Aber andererseits hatte er gesagt, dass er sie schon seit über einem Jahr beobachtete. Seit sie den Mann in Seven Dials beinahe umgebracht hatte. So lange gab es das Elixier noch nicht, und er schien schon länger ein ganz normales Leben als Bow Street Runner zu führen.
Sie schloss daraus, dass er selbst kein Untoter sein konnte.
Aber möglicherweise nahm er an, dass sie ein Vampir war, und wollte sie aus diesem Grunde vernichten. Wenn Barth und Verbena schon vor Victoria über Vampire Bescheid gewusst hatten, ehe sie ein Venator wurde … dann war es möglich, dass dies auch für ihn galt. Aber wenn er sich mit Vampiren auskannte, wusste er, dass es nichts brachte, sie zu hängen. Warum wollte er sie also unbedingt zum Magistrat bringen?
Wenn er wirklich glaubte, dass sie ein Vampir war, sollte das leicht anzusprechen sein – dann kämpften sie letztendlich auf derselben Seite.
Oder … und das war der interessanteste, aber gleichzeitig auch beunruhigendste Gedanke: Vielleicht wollte er Rache. Vielleicht kannte er jemanden, den sie getötet hatte – einen Vampir, den sie gepfählt hatte, jemand, der einst von ihm geliebt worden war. Eine Ehefrau, ein Bruder oder irgendjemand sonst.
Das würde bedeuten, er wusste, dass sie ein Venator war und die Untoten viele Male erfolglos versucht hatten, sie zu töten. Und er versuchte es nun auf seine Weise.
Bei einem Venator war alles gleich wirkungsvoll – sei es nun eine Kugel, Klingen oder der Strick.
Victoria spürte, wie ihr ein unangenehmer Schauer über den Rücken lief. Aus welchem Grund auch immer, Bemis Goodwin verabscheute sie und er war im Grunde ein unbekannter Gegner.
All diese Gedanken gingen Victoria durch den Kopf, und sie fühlte sich unwohl dabei, ohne jedoch in Panik zu verfallen. Schließlich wusste sie, dass sie selbst eine ausgezeichnete Kämpferin war.
Aber nachdem die Droschke sie eine Straße von Tante Eustacias Haus entfernt absetzte und Victoria in die Stallungen schlüpfte, von denen aus man in den kleinen Hof hinter dem Haus gelangte, sah sie sich plötzlich Bemis Goodwin und vier kräftigen Männern gegenüber. Bei ihrem Anblick war ihr erster Gedanke, dass Goodwin genau wusste, wie stark sie war.
Barth war bereits außer Sicht. Er war weitergefahren, sobald sie die Füße auf festen Boden gesetzt hatte. Und die dichte Hecke, die den Hof einfriedete und auch die anderen Grundstücke hinten begrenzte, verhinderte, dass man von den anderen Häusern aus etwas sehen konnte – sollte überhaupt jemand zufälligerweise aus dem Fenster schauen, was an sich schon sehr unwahrscheinlich war.
Alle weiteren Überlegungen lösten sich in Luft auf, als sie sich innerlich auf einen Kampf vorbereitete. »Was wollen Sie?«, fragte sie und merkte, wie heftig ihr Herz schlug.
»Ach, kommen Sie, Lady Rockley«, meinte Goodwin mit einer herablassenden Handbewegung. »Es sollte Sie nicht überraschen, dass der Friedensrichter Sie sehen will. Ich bin nur hier, um dafür zu sorgen, dass er auch bekommt, was er will.«
»Aus welchem Grund?« Zentimeterweise bewegte sie sich zur Seite und ließ dabei den Schläger, der ihr am nächsten stand, nicht aus den Augen, während sie spürte, wie der innere Druck immer stärker wurde und ihr Herz immer lauter pochte. Er konnte nicht so stark wie ein Vampir sein. Oder ein Venator. Keiner von ihnen konnte so stark sein. Neues Selbstvertrauen strömte durch ihren Körper. Außerdem war sie kleiner und konnte leichter durch die Hecke schlüpfen …
»Es bringt Ihnen nichts wegzulaufen, Lady Rockley. Sie mögen vielleicht schnell und stark sein, aber schneller als das hier sind Sie nicht.« Er zog eine Pistole aus seiner Tasche.
Nein, schneller als eine Kugel war sie nicht. Aber diese würde sie erst einmal treffen müssen.
Ein roter Schleier legte sich über ihre Augen. Sie zog den Kopf ein, stürmte auf den ersten Mann zu und stieß ihn gegen Goodwin. Der laute Knall einer Pistole ertönte, und etwas pfiff viel zu dicht neben ihr durch die Luft.
Victoria wirbelte herum und stürzte sich in die Hecke – wenn sie es schaffte durchzukommen, würde man sie vom Haus aus sehen können, falls jemand gerade aus dem Fenster schaute.
Irgendetwas riss sie an ihrem Umhang zurück, sie stürzte und schlug mit dem Hinterkopf auf dem Boden auf. In ihrem Kopf drehte sich alles, das Herz schlug ihr bis zum Hals, und das Blut strömte mit doppelter Geschwindigkeit durch ihre Adern, als sie sich herumrollte und aufsprang. Rasende Wut hatte sie erfasst, sie schlug um sich und traf den Mann, der am dichtesten stand. Sie spürte, wie ihre Nägel dem Mann die Haut vom Gesicht rissen, und ihr Fuß traf etwas Weiches.
Ihre in roten Nebel getauchte Welt wurde zu einem Sturm aus wilden Bewegungen auf dem schmalen, dunklen Weg, als plötzlich etwas über ihr schwebte. Dieses Etwas legte sich schwer über sie, und sie erkannte, dass man ein Netz über sie geworfen hatte. Es legte sich um ihre Beine, fesselte ihre Arme, und ehe sie sich davon befreien konnte, zog es sich zusammen, sodass Victoria spürte, wie sie fiel.
Sie krachte auf den Boden, und ihr Kopf knallte gegen einen Stein.
Jemand rollte sie in das Netz ein, und plötzlich konnte sie sich nicht mehr bewegen. Sie schrie, hoffte, dass jemand – Max, Verbena, Kritanu – irgendjemand sie hörte.
Etwas Dunkles legte sich über ihren Kopf, erstickte ihre Stimme und ließ sie um Luft ringen. Dann wurde sie wie ein Paket hochgenommen. Der dicke Stoff legte sich fester über ihr Gesicht, verschloss Mund und Nase, sodass sie um jeden Atemzug ringen musste. Sie drehte und wand sich … der rote Schleier verblasste, ihr Bewusstsein schwand, und dann wusste sie nichts mehr.
Als Victoria wieder zu sich kam, stellte sie fest, dass sie auf einem harten Holzstuhl saß. Man hatte ihr die Hände auf den Rücken gebunden, und sie war nach vorn gesackt. Sie fiel nur deshalb nicht vom Stuhl, weil ihre gefesselten Arme hinter der Rückenlehne lagen. Sie taten weh, und ihre Finger waren kalt und taub. Ihre Beine, die an der Querleiste festgebunden waren, befanden sich in einem ähnlichen Zustand.
Sie war nicht allein. Sie lauschte mit geschlossenen Augen. Es dauerte nur einen Moment, bis sie erkannte, dass sie in der Zusammenkunft von Goodwin und dem Friedensrichter aufgewacht war. Das war wohl ihre Vernehmung.
Sie war ganz durcheinander und wusste nur wenig darüber, inwieweit die Bow Street Runner mit dem Magistrat zusammenarbeiteten. Aber sie wusste, dass es nur wenige ehrliche Richter gab. Und noch weniger ehrliche Bow Street Runner. Was ihre Sorge kein bisschen geringer werden ließ.
»Ich finde Ihre Beweise gegen Lady Rockley sehr überzeugend, Mr. Goodwin«, ertönte eine Stimme, die wahrscheinlich dem Richter gehörte.
»Die Frau ist außerordentlich stark«, ergriff nun Goodwin das Wort. »Man wird sie in Ketten transportieren müssen, und niemand sollte davon erfahren. Sie hat ein paar sehr fähige Freunde.«
Victorias Mund wurde ganz trocken. In Ketten? Gütiger Himmel. Aber man würde sie doch bestimmt vor ein ordentliches Gericht stellen. Und bis dahin hätten dann auch Max, Sebastian und Lady Melly …
Aber wusste denn überhaupt jemand, wo sie war?
Barth und Oliver würden es wissen. Schließlich wurde Goodwin immer noch von ihnen beschattet. Oder zumindest würden sie es sich denken können, was mit ihr passiert war.
Sie hob den Kopf. Er pochte so stark, dass auch die anderen es eigentlich hören mussten. »Wer erstattet Anzeige gegen mich?«, fragte sie. Ihre Stimme … sie erkannte sie gar nicht wieder. Sie war … tief, belegt, rau. Ein Zittern ging durch ihre Arme, und sie zerrte an den Fesseln, als die Wut von ihrem ganzen Körper Besitz ergriff. »Jemand muss Anzeige gegen mich erstatten.«
Das zumindest wusste sie über Verbrechen und Strafe in London. Ein Opfer oder Familienmitglied musste Anzeige erstatten, damit ein Fall vor Gericht kam. Es gab keine Stellvertreter oder Staatsanwälte, nur die breite Öffentlichkeit.
»Ah, sie ist wieder bei uns.« Goodwins Gesicht tauchte vor ihr auf. Durch den roten Nebel konnte sie es nur verschwommen sehen. Sein Atem roch nach Ale.
»Wer zeigt mich an?«
»Ich erstatte Anzeige gegen Sie«, erwiderte Goodwin.
»Sie?« Victoria zwinkerte heftig, um wieder richtig sehen zu können. Ihre Gedanken jagten sich. »Warum?«
Er wandte ihr sein Gesicht zu. Seine lange, spitze Nase glänzte, und seine Augen waren dunkel vor Abscheu. »Mein Bruder. Sie haben meinen Bruder umgebracht.«
»Ihren Bruder? Wer ist Ihr Bruder?«, wollte Victoria wissen. »Ich habe niemanden umgebracht.«
Ein lauter Knall ertönte. Ein Hammer war auf Holz geschlagen worden. »Bringen Sie die Gefangene nach Newgate. Ich beraume für morgen eine Gerichtsverhandlung an.« Die Stimme des Richters triefte vor Bösartigkeit. »Der beisitzende Richter steht in meiner Schuld und wird die Sache in diesem Fall gern beschleunigen.«
Morgen?
Victoria hob den Kopf, um Einspruch zu erheben, aber da schlug etwas Hartes gegen ihre Wange. Ihr Kopf wurde so heftig nach hinten gerissen, dass der Stuhl ins Wanken geriet.
»Ich habe kein Mitleid mit Mörderinnen … vor allem nicht mit solchen, die ihre Opfer erst verstümmeln und dann töten.« Goodwins nach Ale stinkender Atem wehte ihr heiß ins Gesicht, als er sich über sie beugte. Seine Augen glitzerten triumphierend. »Sie aufschlitzen und in Stücke schneiden. Was haben Sie mit Ihrem Ehemann gemacht, Lady Rockley?«
Ihre Wange brannte, und der Raum schwankte, trotzdem richtete sie den Blick fest auf ihn. »Ich habe nichts Falsches getan.«
Goodwin richtete sich triumphierend auf. »Unschuldsbeteuerungen – aber natürlich. Sie haben Ihre Kraft und Macht eingesetzt, um zu tun, was immer Ihnen in den Sinn kommt … doch dafür werden Sie jetzt bezahlen. Sie werden an Ihrem bezaubernden Hals aufgehängt werden, meine Liebe.«
Darauf hätte sie wieder etwas erwidert, wäre ihr nicht in dem Moment erneut die schwarze Kapuze über den Kopf gestülpt worden. Als sie einatmete, legte sich der Stoff noch fester auf ihr Gesicht und drückte sich gegen Mund und Nase. Victoria versuchte, die Kapuze abzuschütteln, aber irgendetwas legte sich um ihren Hals, sodass die Kapuze nicht mehr verrutschen konnte.
Sie hörte das Klirren einer Kette. Ihre Arme wurden von der Rückenlehne gelöst, und sie fiel benommen nach vorn, obwohl sie immer noch mit den Beinen am Stuhl festgebunden war. Als sie auf dem Boden aufschlug, merkte sie, dass die Fesseln an ihren Händen jetzt lockerer saßen. Irgendjemand trat neben sie. Sie spürte ein Bein oder Knie, das seitlich gegen ihre Hüfte stieß, und das Klirren war jetzt lauter.
Victoria holte so tief Luft, wie es der schwere Stoff zuließ, dann ließ sie sich auf Gesicht und Schultern fallen und holte mit den Beinen Schwung. Sie hob den wuchtigen Stuhl an und riss die Hacken Richtung Hinterkopf. Die Wucht der Bewegung ließ den Stuhl gegen den Mann krachen, der neben ihr kniete, und sie hörte – und spürte, wie er in Stücke ging. Zerbrochenes Holz regnete auf sie herab. Goodwin stöhnte, als er zu Boden sackte und schwer gegen sie fiel.
Victoria, die immer noch um Luft rang, zerrte an den Seilen, die ihre Handgelenke zusammenhielten, und begann sie zu lösen. Irgendjemand brüllte, und sie hörte schnelle, schwere Bewegungen im Raum. Plötzlich gelang es ihr, die eine Faust herauszureißen, und mit der begann sie an der Kapuze und der Schnur zu ziehen.
Etwas traf sie zwischen den Schulterblättern, und sie stürzte mit dem Gesicht zuerst auf etwas Warmes und Weiches – Goodwin, merkte sie schnell. Die andere Person im Raum, die sich bewegte, musste also der Richter sein. Jemand drückte sie nach unten und brüllte direkt in ihr Ohr um Hilfe. Den einen Arm konnte sie nicht bewegen, weil er auf dem Rücken nach oben gedrückt wurde – doch mit der Hand des anderen Armes konnte sie weiter am Band zerren, mit dem die Kapuze verzurrt war, bis es sich schließlich löste.
Sie stieß einen kehligen Schrei aus, riss sich die Kapuze herunter und atmete tief die frische, saubere Luft ein.
Und dann war sie bereit zu kämpfen.
Jetzt, wo sie wieder frei atmen und sehen konnte, war sie von ihrer Wut wie elektrisiert. Sie bewegte sich wie ein Blitz, rollte zur Seite und trat schnell und hart zu. Der Richter taumelte unter der Wucht ihres Angriffs zurück, und Victoria beugte sich nach vorn, um die Fesseln von ihren Knöcheln zu reißen. Nun fielen auch die Überreste des Stuhles auf den Boden, während sie hörte, wie sich von draußen schnell Schritte näherten.
Sie rappelte sich auf und sah, dass Goodwin sich unter dem zusammengebrochenen Stuhl hervorarbeitete, während der Mann, der wohl der Richter war, wieder hochzukommen versuchte. Das nächste Mal würde sie ihm einen härteren Schlag verpassen.
Victoria stürzte sich auf das dunkle Fenster und zerbrach die Scheibe mit der Kette, mit der sie hatte gefesselt werden sollen. Bis zur Erde war es nicht weit, doch als sie hindurch sprang, riss ihr eine Glasscherbe, die noch im Rahmen steckte, die Unterseite des Schenkels auf. Sie hörte gerade noch, wie die Tür des Zimmers aufgestoßen wurde, dann landete sie in einer sauberen Hocke und kam gleich wieder hoch. Die frische Nachtluft war wie Ambrosia, trotz des Gestanks nach Müll und anderem Unrat. Das Gebäude, aus dem sie geflüchtet war, befand sich in einer schmalen Straße; hätte sie zu viel Anlauf genommen, wäre sie womöglich gegen die gegenüberliegende Mauer gekracht.
Victoria schaute zum Nachthimmel auf und stellte fest, wie spät es schon war. Sie musste stundenlang bewusstlos gewesen sein. So lange hatte Goodwin wohl gebraucht, um einen Termin bei seinem korrupten Richter zu bekommen.
Sie zögerte, denn sie schwankte zwischen dem heftigen Verlangen, zurückzugehen und sowohl Goodwin als auch den Richter endgültig zu erledigen, und der Notwendigkeit zu verschwinden. Wenn sie floh, würden sie sie weiter verfolgen. Sie wusste es.
Eine Tür wurde geöffnet, und Licht erhellte die Dunkelheit. Die hohe Gestalt von Goodwin war als Silhouette deutlich zu erkennen. Er hatte eine Pistole in der Hand. Zwei seiner Handlanger tauchten hinter ihm auf, und zusammen stürmten sie nach draußen.
Alles Zögern fiel von ihr ab – sie drehte sich um und raste davon. Mit Kugeln konnte sie es nicht aufnehmen. Das Brüllen der Männer sagte ihr, dass sie ihr folgten, und sie rannte Hals über Kopf die dunkle Straße hinunter, bog ab und gleich darauf noch einmal. Etwas verspätet fiel ihr auf, dass dies nicht gerade ein vornehmer Stadtteil war, auch bestimmt keiner, in dem sich ein Magistratsgebäude befand. Ihr Verdacht, dass der Richter genauso korrupt war wie Goodwin und sie sich heimlich treffen mussten, erhärtete sich.
Sie raste an Prostituierten und Betrunkenen vorbei und wich Fahrzeugen und Hunden aus. Victoria wurde erst langsamer, als sie in eine dunkle Straße abbog, die seltsam leer war.
Ein üppiger Halbmond stand hoch am Himmel, und es machte beinahe den Eindruck, als würde er genau in die Mitte der schmalen Straße leuchten. Sie sah immer noch alles durch einen roten Schleier, und Zorn strömte durch ihren Körper.
Und dann merkte Victoria, dass ihr Nacken unnatürlich kalt war.
Das war auch die Erklärung dafür, warum die Straße so leer schien.
Donnernde Schritte kamen hinter ihr zum Halten. Als sie sich umdrehte, sah sie Goodwin und einen seiner Männer ein paar Häuser weiter stehen. Er hob den Arm, und etwas Metallisches blitzte im Mondlicht auf.
»Bleiben Sie stehen, Madame.«
Die Kälte in ihrem Nacken hatte sich verstärkt, und sie spürte, dass sich ein Untoter näherte. Oder auch zwei.
»Wer war Ihr Bruder?«, rief sie fragend zurück und entfernte sich dabei einen Schritt. Je größer die Entfernung zwischen ihr und der Pistole … Die Kälte in ihrem Nacken wurde immer stärker. Wo waren sie?
»Frederick Goodwin, Baron Truscott.«
Ihr Blick huschte auf der Suche nach etwas, das sich als Pflock verwenden ließe, in alle Richtungen, aber sie konnte nichts entdecken. Dann spürte sie eher, als dass sie es sah, wie etwas sich bewegte … knapp außerhalb ihres Gesichtsfeldes.
»Sie erinnern sich nicht an ihn? Aber natürlich, warum sollten Sie auch? Er war ja nur einer von vielen, die Sie vernichtet haben.« Er machte einen weiteren Schritt auf sie zu, während sie ein Stück zurückwich. Es lagen vielleicht fünf Kutschenlängen zwischen ihnen, doch sie stand mitten auf einer Straße, wo sie deutlich zu sehen und völlig ungeschützt war. Eine Kugel in Kopf oder Herz würde sie genau wie jeden anderen Sterblichen umbringen.
»Ich erinnere mich an ihn.« Sie erinnerte sich wirklich an Lord Truscott – jenen Mann aus der feinen Gesellschaft, mit dem sie vor mehr als einem Jahr getanzt hatte und den sie ein paar Tage später hatte pfählen müssen. Damals war er zu einem Vampir geworden und hatte Miss Emily Colton von einer Feier weg in den dunklen Garten gelockt.
Victoria war gerade ein Antrag von Phillip gemacht worden, als sie merkte, was draußen vor sich ging, und schnell handeln musste.
Sie würde Lord Truscott keinesfalls vergessen.
»Sie haben ihn umgebracht. Nach allem, was ich getan hatte, um ihn zu beschützen.«
Die Eiseskälte in ihrem Nacken verschärfte sich, und Victoria wirbelte genau in dem Moment herum, als ein Schatten auftauchte und sich in die Gestalt eines Mannes verwandelte. Sie wehrte den Angriff des Untoten ab und rammte ihm den Kopf in den Magen, als eine Pistole abgefeuert wurde. Schon zum zweiten Mal an diesem Tag zischte eine Kugel viel zu dicht an ihrem Kopf vorbei.
Sie schleuderte den Vampir über die Schulter und fuhr herum, während sie immer noch hektisch nach etwas Ausschau hielt, das sie als Pflock benutzen konnte. Der Untote krachte auf die Erde, während sie aufschaute und sah, dass Goodwin mehreren Vampiren gegenüberstand. Es waren drei. Das machte insgesamt vier.
Der Untote vor ihr rappelte sich mit rot glühenden Augen vom Boden auf und stürzte sich wieder auf Victoria. Als sie zutrat und den Vampir am Kinn traf, sah sie, dass Goodwin gerade seine Pistole auf den Untoten abfeuerte, der ihm am nächsten stand.
Der Vampir, mit dem sie kämpfte, griff wieder an. Doch sie wehrte ihn ab und ließ ihrer rasenden Wut freien Lauf. Sie trat, boxte und stieß mit Ellbogen und Kopf zu. Als sie ihn wieder zu Boden warf, hatte er genug, rappelte sich auf und suchte das Weite.
Victoria drehte sich um und sah, dass Goodwin am Hals von einem Vampir hochgehalten und an eine Ziegelsteinmauer gedrückt wurde. Er zappelte wild mit den Beinen und was immer er auch versuchen mochte zu schreien, erstickte zu einem leisen Gurgeln. Die beiden anderen Vampire pirschten sich an Goodwins großen Handlanger heran, der einen schweren Knüppel schwang.
Es würde nicht lange dauern, bis sie ihm den Knüppel abgenommen hatten.
Ansonsten herrschte in der leeren Straße Stille.
Hasserfüllt beobachtete Victoria alles durch einen roten Schleier, während ihr das Herz bis zum Hals schlug. Sie kehrte der Szene den Rücken und ging davon.