Kapitel 19
In welchem der Marquis Besuch bekommt
Der Gang war wirklich ihr Weg in die Freiheit, und Victoria gelangte aus dem Abwasserkanalsystem heraus, ohne dabei noch einmal auf Untote zu stoßen … bis auf einen, den (oder die; sie hatte keine Gelegenheit, das zu erkennen) sie überraschte, als sie im unterirdischen Kanal um eine Ecke bog. Sie pfählte den Vampir und ging gleich weiter, während ihr zu ihrer Bestürzung klar wurde, dass sie im Dunkeln besser sehen konnte, als sie eigentlich sollte.
Ein Frösteln kroch ihr über den Rücken. Vampire konnten im Dunkeln gut sehen.
Sie stapfte so schnell und leise durch den Unrat wie möglich und fand schon bald den Weg, der zur Oberfläche führte. Der Morgen brach gerade an, was erklärte, warum sie dem Vampir begegnet war. Wahrscheinlich war er auf dem Weg zu der Stelle gewesen, wo sie sich am Tage sammelten. Es grenzte an ein Wunder, dass sie keinen weiteren Untoten begegnet war.
Sobald sie aus dem Abwassersystem heraus war, eilte sie durch die Straßen und suchte nach Hinweisen, die sie wiedererkannte. Während sie ging, stellte sie fest, dass sie keine Ahnung hatte, wie lange sie eigentlich fort gewesen war. War dies der Morgen nach der Kutschfahrt in den Park … oder bereits der nächste? Oder der übernächste?
Victoria erreichte ihr Stadthaus, als der untere Rand der Sonne den Horizont berührte. Sie hob die Hand, um an die Tür zu klopfen, doch sie wurde schon aufgerissen, ehe sie die Gelegenheit dazu bekam.
»Kritanu«, sagte sie erleichtert. Er war wohlauf.
»Victoria!« Seinem breiten Grinsen nach war er genauso erfreut, sie wiederzusehen. Aber seine offensichtliche Freude schwand fast schlagartig.
»Ehe ich erzähle, was mir widerfahren ist«, sagte sie, während sie ins Haus trat und die Tür hinter sich schloss, »sag mir: Geht es Max gut? Ist er immer noch … hier? Wie lange war ich weg? Hat irgendjemand – George und Sara – versucht anzugreifen?«
»Zwei Tage sind seit der Kutschfahrt vergangen. Niemand hat versucht anzugreifen«, antwortete Kritanu. Seine Miene war, wenn überhaupt möglich, noch ernster geworden, als sie Max erwähnte, und eine böse Vorahnung bemächtigte sich ihrer. »Max ist … immer noch derselbe.«
»Derselbe?« Victoria wurde ganz kalt. »Er ist immer noch bewusstlos? Seit zwei Tagen?« Sie wollte davonstürzen, aber der alte Mann packte ihren Arm.
»Nein, nein, er ist wach. Er ist aufgewacht. Ich wollte damit sagen, dass er immer noch da ist, wo er zurückgelassen worden ist.« Seine vorwurfsvolle Miene war nicht zu übersehen. »Genau wie du befohlen hast«, sagte er, und seine Stimme wurde mit jedem Wort härter. »Victoria, du bist zwar Illa Gardella … aber bitte mich nie wieder darum, so etwas zu tun.«
»Du hast ihn nicht herausgelassen.« Sie war sich nicht sicher, ob sie nun erleichtert oder entsetzt sein sollte, dass Max immer noch wohl behütet am selben Platz war, wo sie ihn zurückgelassen hatte.
»Ich hätte ihn heute herausgelassen, wenn du nicht zurückgekehrt wärst.« In seinem Blick lagen Sorge und Tadel. »Du hättest das nicht tun sollen.«
»Ich werde ihn jetzt herauslassen«, sagte sie und wandte sich ab. Es war gut gemeint gewesen von ihr, aber sie erwartete nicht, dass Kritanu das verstand. Er hatte nicht mit den Problemen zu kämpfen, mit denen sie konfrontiert wurde.
Trotz all der Eile, mit der sie sich zur stabilen Holztür begab, die von silbernen Kreuzen umrahmt und mit Weihwasser gesegnet war, stellte Victoria fest, dass sie wie gelähmt war, als es darum ging, den Balken anzuheben, der Max in dem Raum einsperrte. Was würde er sagen? Was würde sie sagen?
Sie holte tief Luft. Der schwere Holzbalken hatte sich in seiner Halterung leicht verkeilt: ein Indiz dafür, dass jemand versucht hatte, die Tür gewaltsam zu öffnen. Es knirschte, als sie den Balken fast mit Gewalt aus der Halterung löste. Automatisch trat sie einen Schritt zurück, denn irgendwie rechnete sie damit, dass Max herausgestürmt kommen würde.
Als jedoch nichts passierte, öffnete sie die Tür mit schweißfeuchten Händen.
Er saß mit ausgestreckten Beinen auf dem Bett.
»Max.«
Beim Klang ihrer Stimme bewegte er sich. Mit der Anmut einer jungen Katze schwang er die Beine vom Bett herunter, setzte die Füße auf den Boden und stand auf. Dann kam er auf sie zu. Nicht besonders schnell, aber auch nicht lässig, sondern zielstrebig.
Victoria wappnete sich gegen das, was kommen würde – das Schimpfen, die Wut, die Vorwürfe.
Wortlos ging er an ihr vorbei in den Flur, ohne sie auch nur anzusehen oder etwas zu sagen.
»Max«, sagte sie wieder und drehte sich zu ihm um.
Er hielt keinen Moment lang inne, sondern ging einfach weiter den Flur entlang.
Fast hätte man den Eindruck bekommen können, er wäre blind oder taub, hätte da nicht dieser Ausdruck auf seinem Gesicht gelegen: finstere Wut.
Die Droschke blieb mit einem Ruck stehen, und Victoria hörte einen Holzpflock, der über den Boden rollte. Im dunklen Innern der Kabine sah sie Sebastian an. »Bist du bereit?«, fragte sie.
»Auf jeden Fall«, erwiderte er und beugte sich nach vorn, um nach seiner Waffe zu greifen. In seiner Stimme schwang ein gewisser Unterton mit, und seine Augen leuchteten; es sah so aus, als würde die Kutschfahrt nach Hause deutlich interessanter werden als die Hinfahrt. Vielleicht würde er zumindest dann seinen Pflock gut festhalten.
Das Pärchen schlüpfte leise aus Barths Kutsche. Durch die Büsche, die an der äußersten Mauer von St. Heath’s Row wuchsen, waren sie gut getarnt. Der schattige Winkel ließ sie durch den abnehmenden Mond und die dunkle Kleidung unsichtbar werden.
Victoria führte sie an der Mauer entlang zu einem besonders dunklen Winkel. Eine hohe Eiche warf ihren Schatten über die Stelle und verhinderte, dass man vom Haus aus gesehen wurde. Sebastian stellte sich mit dem Rücken zur Mauer, sodass sie an ihm hochklettern konnte. Sobald sie oben auf der Mauer war, streckte sie ihm die Hand entgegen, um ihn hochzuziehen.
Nachdem sie die mit Kreuzen bewehrte Mauer überwunden hatten, ging sie zum zweiten Dienstboteneingang, von dem sie wusste, dass er nicht verriegelt sein würde. Verbena hatte Kupplerin beim Lakaien von Grantworth House und der Unterstubenmagd von St. Heath’s Row gespielt, sodass die beiden genau jetzt einen mitternächtlichen Spaziergang durch den Garten machten.
Verbena hatte ihrer Herrin versichert, dass der Lakai und die Magd viel zu sehr damit beschäftigt sein würden, die Primeln aus nächster Nähe zu untersuchen, um irgendwelche Eindringlinge zu bemerken. Als sie das Treffen vorbereitete, hatte Verbena auch in Erfahrung gebracht, dass der Marquis von Rockley an diesem Abend zum Dinner zu Hause erwartet wurde und auch nicht die Absicht hatte, noch einmal auszugehen.
Tatsächlich hatte er alle Einladungen zum Dinner und zu irgendwelchen Feiern seit der unglückseligen Kutschfahrt, bei der sie den Nachthimmel hatten beobachten wollen, abgelehnt.
Victoria war voller Misstrauen gegen James gewesen, als sie heute Morgen von ihrer kurzen Gefangenschaft zurückgekehrt war und angefangen hatte, sich auch wieder um Dinge zu kümmern, die nichts mit Max zu tun hatten. Entweder hatte James alles gewusst und war in die Entführungspläne eingeweiht gewesen – was bedeutete, dass er ein Vampir sein oder zumindest der Tutela angehören musste – oder er hatte wirklich nichts von allem gewusst, wie er behauptete.
Kritanu hatte erzählt, dass James ihr am Morgen nach der nächtlichen Kutschfahrt einen Besuch hatte abstatten wollen. Er hatte erklärt, dass es einen Unfall gegeben hätte, bei dem er bewusstlos geworden war und als er wieder zu sich kam, wäre Victoria – Mrs. Rockley, wie er sie nannte – nicht mehr da gewesen. Kritanu berichtete, dass der Marquis angemessen betrübt die Hände gerungen und im Salon auf und ab gegangen war, während er alle Schuld dafür, was ihr vielleicht zugestoßen sein könnte, auf sich nahm. Außerdem hatte er darum gebeten, sofort informiert zu werden, sobald es Neuigkeiten über ihren Verbleib gab.
Victoria lauschte mit skeptischer Miene, als Kritanu die Aufregung des Mannes beschrieb, und beschloss, auf eigene Faust die Wahrheit herauszufinden, statt seinen Besuch zu erwidern oder ihm eine Nachricht über ihre Rückkehr zukommen zu lassen. Im Gegensatz zu Max hatte Sebastian sich sehr gefreut, sie zu sehen, und war noch begeisterter gewesen, sie auf ihrem Ausflug begleiten zu dürfen.
Max hatte sie nicht mehr gesehen, seit er an ihr vorbeigestapft war, und davon abgesehen brauchte sie seine Gesellschaft ohnehin nicht. Den Rest des Tages hatte sie sich mit irgendwelchen Dingen beschäftigt und Wayren per Brieftaube eine dringende Mitteilung geschickt. Sie hoffte, dass die weise Frau einen Rat in Bezug auf Liliths Vorhersage wusste.
Die Scharniere des unauffälligen Dienstboteneingangs waren für etwaige spätabendliche Rendezvous gut geölt, und Victoria ließ Sebastian über die schmale Schwelle treten. Sie war zwar nie von hinten ins Haus gekommen, aber natürlich kannte sie auch diese Räumlichkeiten.
Als sie auf einen Flur stießen, in den man nach rechts oder links abbiegen konnte, wollte Victoria schon nach rechts, als sich eine kräftige Hand auf ihren Arm legte und sie zurückzog. »Hier entlang«, flüsterte Sebastian dicht neben ihrem Ohr.
»Woher weißt du das?«, fragte sie genauso leise zurück. »Du hast hier nicht so lange gewohnt wie ich«, fuhr sie fort. »Rechts ist die Treppe.«
Ein amüsiertes Lächeln verzog seine Lippen, und sie dachte schon, er würde sie gleich hier an Ort und Stelle küssen. Ein Unterfangen, das sie sofort unterbinden würde. Aber er hielt sich zurück und gab nur zur Antwort: »Vielleicht erinnerst du dich daran, dass ich deine Zofe im Dienstbotentrakt besucht habe, als du noch hier gewohnt hast. Sie hat tatsächlich vier Stockwerke direkt über uns geschlafen. Rechts ist die Küche. Links die Treppe.«
Verdrießlich erinnerte sie sich daran, dass Max ihrem Orientierungssinn auch mehr als einmal hatte auf die Sprünge helfen müssen – im Innern von Gebäuden schien sie sich ständig zu verirren –, und folgte Sebastian, als er schnell in den Flur nach links abbog. Nicht viel später gelangten sie zu einer schmalen, steilen Treppe. Er warf ihr einen vielsagenden Blick zu, aber sie stolzierte einfach mit hoch erhobenem Kinn an ihm vorbei. Nicht einmal Illa Gardella war vollkommen. Sobald sie im zweiten Stockwerk angekommen waren, kannte Victoria sich wieder aus.
Irgendwo im Haus knarrte eine Bodendiele. Eine Uhr summte und zog sich selbst auf, um die Stunde zu schlagen. Nur Augenblicke später, als sie im zweiten Stockwerk waren, hörte Victoria, wie es zwei Uhr schlug.
Und sie merkte, dass ihr Nacken ganz kalt war. Sie lächelte im Dunkeln.
Er war hier. Nachts brauchte er das Elixier nicht zu trinken, außer er rechnete damit, ihr zu begegnen.
Was er offensichtlich nicht tat.
Mit dem Pflock in der Hand, den sie dicht neben der weiten schwarzen Hose hielt, welche sie immer anhatte, wenn sie nachts unterwegs war, setzte Victoria ihren Weg fort. Viele verschiedene Gedanken gingen ihr durch den Kopf, während sie mit Sebastian durch den Flur ging.
Natürlich war es möglich, dass James bereits auf sie wartete, weil er mit ihrem Besuch rechnete. Oder der Untote, den sie spürte, war gar nicht der Marquis. Aber es gab Möglichkeiten, das herauszufinden, und das würde sie heute Nacht ein für alle Mal tun. Sie wusste, dass er sich im Haus aufhielt. Die Frage war nur, in welchem Zustand er sich wohl befand.
Als sie und Sebastian bei der Tür ankamen, die ins Ankleidezimmer des Marquis’ führte, öffnete sie sie und schlüpfte hinein. Sobald sie im Zimmer standen, wo sie von Kleidung und dem Geruch von Pflegemitteln umgeben waren, drehte Victoria sich zu Sebastian um und legte in einer eindeutigen Geste ihre Hand auf seine Brust. Sie hatte ihm bereits gesagt, dass dies hier ihre Aufgabe war und er nur dabei war, um ihr bei unvorhergesehenen Problemen beizustehen. Jetzt wollte sie ihn einfach daran erinnern, dass sie von ihm erwartete, sich nicht vom Fleck zu rühren.
Im Dunkeln griff er nach ihrer Hand, und sie dachte einen Moment lang, dass er schweigend von ihr verlangte, ihn mitgehen zu lassen. Oder ihr sagen wollte, sie solle vorsichtig sein. Oder versuchen wollte, sie mit Küssen dazu zu überreden, doch noch ihre Meinung zu ändern. Doch was auch immer er plante, er würde nichts erreichen. Er holte tief Luft, und seine Brust weitete sich unter ihrer Hand. Liebkosend drückte er kurz ihre Finger, dann ließ er sie zögernd los.
Gut. Zumindest hatte der Mann etwas gelernt.
Victoria öffnete die Tür vom Ankleidezimmer zum Schlafzimmer einen Spalt weit. Ihr Nacken war eiskalt; falls James nicht Gesellschaft hatte, wusste sie, dass sie den Vampir gefunden hatte, der bei Tage umging.
Ganz leise und sich im Schatten haltend huschte sie durch den Raum. Die dünnen Sohlen ihrer schwarzen Schuhe glitten über poliertes Holz, um dann auf einen weicheren Teppich zu treten. Als sie neben James’ Bett stand und seine gleichmäßigen Atemzüge hörte, kamen ihr einen Augenblick lang Zweifel.
Welcher Vampir schlief denn nachts tief und fest?
Sie hatte zumindest erwartet, dass er wach war und sie mit diesen roten Augen ansah.
Aber dieser Mann hier schnarchte doch tatsächlich.
Victoria sah auf ihn herab und umfasste den Pflock fester. Sie konnte ihm den Pflock mit einer schnellen Bewegung in die Brust stoßen, und alles wäre vorbei. Wenn sie sich nicht irrte.
Doch warum sollte sie sich irren? Das letzte Mal, als sie versucht hatte, jemanden zu pfählen, der kein Vampir war – Sebastian nicht mitgerechnet, als er sich zwischen sie und Beauregard geworfen hatte –, war vor zwei Jahren gewesen, als sie Max irrtümlicherweise für einen Untoten gehalten hatte. Es war ihr erstes Mal gewesen, und sie war von den Beschreibungen aus dem Roman von Polidori, wie ein typischer Vampir aussieht, in die Irre geführt worden.
Victoria hob den Pflock.
Dann ließ sie ihn wieder sinken. Wenn sie Unrecht hatte, würde der Pflock einen Sterblichen töten.
Sie seufzte. Es blieb ihr nichts anderes übrig, sie würde den Mann wecken müssen.
Sie wühlte in der tiefen Tasche der Tunika, die sie über ihrer Hose anhatte, nach einem kleinen Fläschchen mit Weihwasser. Ihn auf diese Art zu wecken, war so gut wie jede andere.
Die Tropfen auf seiner Stirn erzeugten ein leises Zischen, und ein Rauchfaden stieg auf. Er riss die Augen auf. Sie waren rot.
»Guten Abend, James«, begrüßte Victoria ihn mit ruhiger Stimme. Sie hatte ihre Hand von vorn um seinen Hals gelegt und hielt ihn mit ihrem Gewicht unten. Die Spitze des Pflocks zeigte genau auf seine Brust. »Ich habe Sie doch hoffentlich nicht geweckt.«
»Sie«, knurrte er mit einer Stimme, die tiefer und kehliger klang als die, an die sie gewöhnt war. Seine Eckzähne schossen hervor und schimmerten bleich in der Dunkelheit.
»Ehe ich diesen Pflock hier in Ihr Herz bohre und Sie Ihrem Schicksal überantworte, beantworten Sie mir hoffentlich noch eine Frage.« Er sagte nichts. Sie verstärkte den Griff um seinen Hals, und er begann zu husten. Natürlich konnte man einen Untoten nicht erwürgen, aber wenigstens würde ihm unbehaglich werden. »Sind Sie wirklich James Lacy aus Kentucky?«
Er lächelte und bewegte sich plötzlich. Sie ließ zu, dass er sich ihrem Griff entwand. Wenn er meinte, vielleicht doch flüchten zu können, würde er ihr unter Umständen mehr erzählen. Sie sahen einander an. Er war auf die Knie hochgekommen und hockte jetzt auf dem Bett, während sie zurückgewichen war, als hätte sie Angst. »Was meinen Sie denn?«
»Ich glaube nicht. Sie sind viel zu einfältig.« Sie betrachtete sein Nachthemd, und ihre Lippen fingen an zu zucken. »Ich glaube, ich hatte noch nie das Vergnügen, einem Untoten im Nachtgewand zu begegnen.«
Sein Grinsen wurde breiter, und die Eckzähne drückten sich in seine Unterlippe. »Wenn ich gewusst hätte, dass Sie kommen, hätte ich mir nicht die Mühe gemacht, eins anzuziehen. Vielleicht möchten Sie sich zu mir legen?«
Er machte einen Satz nach vorn und riss sie neben sich aufs Bett. Sie wehrte sich einen Moment lang, dann ließ sie sich auf den Rücken drehen, wobei sie den Pflock hinter ihrer Hüfte versteckte. »Nein, danke. Was haben Sie mit dem richtigen James Lacy gemacht?«
Der Untote griff nach ihrer Tunika, packte eine Handvoll des Stoffes und riss sie hoch, als wäre sie eine Lumpenpuppe. Victoria sackte in sich zusammen, doch hinter ihrer gespielten Schwäche hielt sie sich bereit. Es war jetzt nur noch ein Spiel. Wie viel konnte sie von ihm in Erfahrung bringen, ehe er misstrauisch oder gelangweilt wurde?
»Es war von Anfang an alles geplant – wir fingen ihn ab, als er von Bord des Schiffes ging, das ihn von Amerika hierher gebracht hatte. Wir bestanden darauf, ihn in der Kutsche mitzunehmen, nahmen ihm seine Papiere und die Kleidung ab. Dann haben wir ihn ausgesaugt.« Er lachte. »Eigentlich habe ich auch jetzt gerade ein bisschen Hunger, Victoria Gardella. Glaubten Sie etwa, hier unbemerkt hereinkommen und wieder verschwinden zu können?«
Sie verdrehte die Augen. »Sie haben geschnarcht. Ich hätte Sie in einen Haufen Asche verwandeln können, bevor Sie überhaupt wach geworden wären.«
»Ach ja?« Seine Augen brannten blutrot, und seine scharfen Eckzähne glitzerten.
Sie riss ihren Arm nach oben und stieß ihm den Pflock mitten in die Brust, als er sich auf sie stürzte. »Ja«, erklärte sie, als er erstarrte und dann zu Staub zerfiel.
Hinter ihr bewegte sich etwas, und als sie herumwirbelte, sah sie, dass Sebastian da stand. Er hatte seinen Pflock in der Hand.
Victoria runzelte die Stirn. »Ich hatte dir doch gesagt, dass du dich zurückhalten sollst.«
»Das habe ich doch auch. Fast.« Er lächelte, und ihre Wut verrauchte. So war Sebastian, und entweder hatte er nicht so viel Vertrauen in ihre Fähigkeiten wie Max … oder er machte sich mehr Sorgen um sie.
Sie meinte zu wissen, welche von beiden Möglichkeiten es war.
»Sollten wir die Asche nicht lieber wegmachen?«, fragte er. »Sie stinkt.«
Victoria nickte. »Machen wir. Und schon wieder ist ein Marquis von Rockley auf mysteriöse Art und Weise verschwunden.«
Sie fegten den Staub in einen Kopfkissenbezug und schütteten ihn dann in den kalten Kamin.
Victoria wartete, während Sebastian die Arbeit zu Ende brachte. Sie hatte jetzt kein Kältegefühl mehr im Nacken. Es waren keine weiteren Vampire in der Nähe. Der Vampir, der am Tage umging – zumindest einer davon – war tot. Genau wie der echte Marquis von Rockley.
Die Droschke wartete an der verabredeten Stelle, und sie kehrten, ohne dass es zu weiteren Vorfällen kam, dahin zurück. Victoria stieg ein, setzte sich und kaum war die Tür hinter Sebastian zugefallen, setzte sich das Gefährt mit einem Ruck in Bewegung.
Victoria würde nie erfahren, ob es nun Zufall gewesen war oder Absicht, doch durch das plötzliche Anfahren sank Sebastian neben ihr auf den Sitz, statt auf der ihr gegenüberliegenden Bank Platz zu nehmen, wie sich das geziemt hätte. Nachdem er es sich anmutig bequem gemacht hatte, drehte er sich zu ihr um. Seine Knie stießen sanft gegen ihr rechtes Bein, und sein Arm legte sich auf das Polster hinter ihr. Seine Finger, die nicht in Handschuhen steckten, legten sich auf den langen, schlichten Zopf, den sie hinten in ihre Tunika gesteckt hatte, während er mit dem Daumen über die empfindsame Haut in ihrem Nacken strich.
In der Kutsche war es sehr dunkel, und sie wurde nur schwach von der Laterne beleuchtet, die vorne an der Kutsche hin und her schwang. Sie bekam nicht die Gelegenheit, etwas zu sagen oder auch nur zu denken – denn auf einmal war Sebastian da und küsste sie.
Es war ein hungriger Kuss, der sie mit seiner Leidenschaft überraschte. Eben waren sie noch ganz sittsam in die Kutsche gestiegen, und im nächsten Moment fielen sie übereinander her, während ihre Hände überall waren.
Heiß und feucht lag sein Mund auf ihren Lippen, während er ihr Gesicht festhielt, sodass er ihren Mund gründlich erforschen und schmecken konnte. Warme Finger legten sich an ihre Wange, und Victoria hob das Kinn, um schnell nach Luft zu schnappen, ehe sie sich wieder dem Kuss hingab. Dabei kämpfte sie gegen die rot angehauchten Erinnerungen, die sich in ihren Kopf zu drängen versuchten … die Lust, die durch das Zustoßen scharfer Eckzähne ausgelöst wurde … der machtvolle Druck, mit dem das Blut durch ihre Adern strömte … das seltsame Gefühl kalter und warmer Lippen auf ihrer Haut.
Sie stöhnte leise; teils vor Entsetzen, als sie sich wieder daran erinnerte, und weil sie es nicht verdrängen konnte – teils vor hingebungsvoller Lust, weil dieser Mann wusste, wo er sie berühren musste.
Während sie gegen die schrecklichen Bilder kämpfte, zwang sie sich dazu, Sebastian zu erforschen, sich daran zu erinnern, dass er es war und nicht Beauregard. Verzweifelt vergrub sie ihre Finger in seinem vollen Haar, wölbte sich seinem harten Bauch und seiner beharrlichen Erektion entgegen, als er ihre Schenkel auseinanderschob. Die Kante der Bank schnitt in ihr Fleisch, als er sich sanft gegen ihre Hüften drängte. Sie ließ ihre Hände über die glatten Muskeln seiner Brust zu seinen Schultern hochgleiten. Breite, starke Schultern unter der Jacke und unter dem dunklen Leinenstoff … glatte, goldene Haut. Sebastian.
Sein Haar strich über ihre Wange, als er die Lippen von ihrem Mund nahm und begann, ihren Kiefer knabbernd und leckend zu erforschen. Sein Atem liebkoste heiß ihren Nacken, und Victoria spürte, wie auch ihre Atemzüge immer schneller wurden, als sie sich dem Augenblick … dem Mann hingab. Den Gefühlen. Nicht den Erinnerungen.
Das Rattern der Räder nahm sie kaum noch wahr, als sie sich schließlich ganz und gar in den drängenden Küssen verlor und spürte, wie frische Luft über ihre nackte Haut strich, als ihre Tunika angehoben wurde … warme, sichere, besitzergreifende Hände glitten über ihren Körper und liebkosten und erforschten sie, während sie die Augen schloss. Sie geriet in einen Strudel der Empfindungen, und das Innere der Kutsche schien klein und intim, als er seine Jacke abstreifte. Sie zog sein Hemd aus dem Bund und spürte endlich warme Haut und angespannte Muskeln unter zartem Flaum. Ihre Finger glitten über seinen Körper und entdeckten wieder das harte Silber der vis bulla, die in seinem Nabel hing.
Es war wie eine Erlösung, als die Lust durch ihren Körper strömte, ihre Glieder erschlaffen ließ und ihr das Gefühl gab, ganz weich und warm zu sein. Sein Mund legte sich auf eine Brust, die durch die nach unten gezogene Tunika freigelegt worden war. Als sich seine Lippen um ihre hart gewordene Brustwarze legten, sanft daran saugten und sie dann tief in die feuchte Wärme seines Mundes zogen, ging ein Schauder nach dem anderen durch ihren Körper.
Er zog sich etwas zurück und rutschte über sie, sodass sein Gesicht ganz nahe kam. Sein Leinenhemd strich über ihre Brustspitzen, und ganz schwach nahm sie sein leichtes Lächeln wahr.
»Und nun«, murmelte er dicht an ihrem Mund, »tun wir es mal wieder in einer Kutsche.«
Sie lächelte und keuchte dann leise auf, als seine Hand nach unten glitt und unter ihren Hosenbund fuhr. Er beobachtete sie, wobei sein Gesicht im Gleichklang mit der fahrenden Kutsche hin und her schwankte, während seine Finger mit traumwandlerischer Sicherheit die Stelle fanden, die sie gesucht hatten. Victoria stockte bei der ersten Berührung der Atem und dann spürte sie, wie sich in ihr alles zusammenzog, während er die Hitze ihres Leibes streichelte und massierte.
»Das ist«, meinte er belustigt, »wirklich die perfekte Art, eine nächtliche Jagd zu beenden.«
Sie schloss die Augen, gab sich der Lust hin, die immer größer wurde, verdrängte die Sorgen, die Erinnerungen, den Anblick von dunklen, wütenden Augen … Sie verkrampfte sich und griff nach seiner Hand, um sie wegzuschieben.
Plötzlich ging ein Ruck durch die Kutsche, und sie wäre fast umgestürzt, als sie um eine Ecke fuhr. Sebastian, der halb auf ihr gelegen hatte, verlor das Gleichgewicht und wäre beinahe zu Boden gestürzt. Die unerwartete Bewegung brachte sie in die Wirklichkeit zurück, sodass sie ihre Hände gegen seine Brust stemmte, als er sich wieder über sie schieben wollte. Sie spürte den schnellen Schlag seines Herzens unter ihren Fingern. Sie spürte ihn sogar durch das Leinenhemd hindurch.
»Sebastian«, sagte sie, als er sich wieder über sie beugte. »Ich … es ist … ich kann nicht.«
Er wurde ganz ruhig, und sie spürte, wie seine Brust sich hob und senkte, als müsste er ihre Worte erst entziffern. »Was?« Er klang … verletzt. Er setzte sich nicht wieder hin, sondern behielt seine Stellung, fast auf ihr liegend, bei. »Was ist los, Victoria? Was hat sich geändert?« Er lachte leise. Sie fand, dass es sich gepresst anhörte. »Du hast es immer zu einer Art Herausforderung gemacht, und das hat uns beiden gefallen. Aber das hier … ist anders.«
»Ich …« Es gefiel ihr nicht, dass sie so schwach klang, aber sie wusste, dass sie nicht in dieser Weise weitermachen konnte. Sie war verwirrt und verängstigt … und fühlte sich leer. Sie konnte den Anblick dieser dunklen, wütenden Augen einfach nicht verdrängen.
Und dann, plötzlich, ehe sie sich eine Antwort hatte überlegen können, sagte Sebastian etwas auf Französisch. Es kam so heftig und scharf heraus, dass sie wusste, es waren Schimpfworte. Er packte ihre Schultern, aber nicht sanft, wie ein Liebender es getan hätte, sondern auf der verzweifelten Suche nach dem Grund. »Beauregard. War es Beauregard? Hat er … dich angefasst?«
Ja, ja, das hatte er; aber sie erinnerte sich nur noch bruchstückhaft daran. Sie wollte sich nicht mehr erinnern, wollte nicht so viel wissen, um in der Lage zu sein, seine Frage zu beantworten. Victoria schloss die Augen. Was sie mit Beauregard erlebt hatte, war schrecklich gewesen, widerlich. Aber das war nicht der Grund.
Es war nicht wegen Beauregard, dass sie sich leer und verloren fühlte.
»Mein Gott, du zitterst ja«, sagte er leise. »Victoria, es tut mir leid.« Er schloss sie in seine Arme, drückte ihr Gesicht an seine Brust und zog sie eng an sich. »Ich wusste es ja nicht.«
Plötzlich, ohne dass sie es verhindern konnte, brachen die Gefühle aus ihr hervor, und ihr kamen die Tränen. Sie schluchzte vor Sorge und Angst, vor Entsetzen. Was passierte mit ihr? Was hatte sie getan? Einsamkeit … Trauer … Verwirrung …
Sebastian hielt sie fest, ließ sie in sein Hemd schluchzen, bis es völlig durchweicht war. Er drückte sein Gesicht an ihren Scheitel und tröstete sie mit der Wärme seines Körpers: mit der Kraft seiner Arme, dem Gefühl seiner Hände, wie sie ihren Hinterkopf umfassten.
Er murmelte etwas in ihr Haar und drückte einen zärtlichen Kuss auf ihren Scheitel.
Das passte so gar nicht zu Sebastian … so ernst zu sein, sie einfach nur zu halten, ohne etwas zu verlangen; so still zu sein.
»Was hast du gesagt?«, fragte sie, während sie sich von ihm löste und wütend die Tränen wegwischte.
»Ich habe kein Taschentuch, aber immer noch deinen Handschuh«, sagte er und bedachte sie mit einem kläglichen Lächeln. »Der, den ich dir im Silberkelch abgenommen habe.«
Sie blinzelte, ihre Lider waren geschwollen, und die Nase lief. »Mein Handschuh.«
»Ich habe ihn aufbewahrt und den anderen, den ich mir später genommen habe, auch. Leider«, fuhr er fort, und sein Lächeln schwankte im unsteten Licht, »gehören sie nicht zu einem Paar. Ich scheine eine Neigung dazu zu haben, deine linke Hand zu entblößen … so wie gewisse andere Stellen.« Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht. »Ich liebe dich. Ich glaube, ich liebe dich bereits seit dem Moment, als du mir deine vis bulla zeigtest, um herauszufinden, wo das Buch des Antwartha ist.«
»Du hast mich mit einem Trick dazu gebracht, sie dir zu zeigen«, sagte sie. In ihrem Kopf drehte sich alles.
»Das war kein Trick. Ich habe dir gegeben, was du haben wolltest. Obwohl« – er griff zärtlich unter ihr Kinn – »du mir immer noch nicht das gegeben hast, was ich will.«
»Was ist das denn?«
»Weißt du es denn nicht?«
Ihr Herz schlug wie verrückt, als sie ihre Finger um seine Hände legte, die auf ihrem Schoß ruhten. Sie nickte. »Ich glaube schon. Aber …« Sie holte tief Luft. Da waren so viele Dinge … »ich weiß nicht, was mit mir geschehen wird.« Ihre Stimme stockte, aber sie zwang sich dazu weiterzureden. »Ich werde vielleicht nicht mehr lange … ich selbst sein.« Sie schaffte es nicht, ihre Gedanken in Worte zu fassen.
Lieber Gott, bitte lass mich bald von Wayren hören!
»Lilith könnte Recht haben«, sagte er, »aber sie kann auch sehr gut lügen. Und wie es auch sein mag, Victoria; es wäre nicht das erste Mal, dass ich mich in einen Vampir verliebe.«