Kapitel 14
Victoria muss die Suppe auslöffeln
Ich hätte nie gedacht, Sie jemals in einem derartigen Zustand zu sehen, Vioget. Wenn es eine Frau gibt, die auf sich selbst aufpassen kann, dann ist das Victoria«, meinte Pesaro mit gelassener Stimme.
Sebastian wandte sich von dem herablassenden Mistkerl ab, der es sich mit einem Buch auf dem Schoß in einem Sessel bequem gemacht hatte. Nicht nur sein nachlässig gebundenes Halstuch war eine Schande, er wirkte auch völlig unberührt von der Tatsache, dass Victoria verschwunden zu sein schien. Der Fahrer der Kutsche, Barth, behauptete, sie am frühen Nachmittag eine Straße vom Haus entfernt abgesetzt zu haben. Doch seitdem hatte niemand mehr etwas von ihr gehört oder gesehen.
Aber was erwartete er eigentlich von Max Pesaro? Der Mann war, seit er seine Venatorenkräfte verloren hatte, nur noch für versteckte Andeutungen und das Austeilen von Beleidigungen gut.
Er war zwar ein unsensibler Mistkerl, aber er hatte Sebastian gestern Abend, nachdem Victoria aus der Kutsche gestiegen war, sehr deutlich gemacht, was er wollte.
Ich werde bald wieder weg sein. Sie müssen bei Victoria bleiben. Ich weiß, dass Sie Giulia geliebt haben, und auch wenn Sie es mir vielleicht nicht glauben … ich habe sie auch geliebt.
Was er damit sagen wollte, war klar: Passen Sie auf Victoria auf, übertreiben Sie es aber nicht. Das Ganze hatte so einen Beigeschmack, als wolle er seine Hände reinwaschen, aber Sebastian ärgerte sich mehr darüber, dass Pesaro es für angebracht hielt, es wie einen Befehl hinzustellen. Doch die Tatsache, dass Pesaro es überhaupt für nötig gehalten hatte, diese Unterhaltung zu führen, bestätigte Sebastians Worte Victoria gegenüber: Er will niemanden.
»Es wäre besser für Sie, wenn Sie sich das jetzt schon merken«, fuhr Pesaro fort. In der Hand hielt er ein Glas mit Brandy, das noch genauso voll war wie in dem Moment, als es eingeschenkt worden war. »Man braucht nicht auf sie aufzupassen. Und sie will es auch gar nicht.« Aber passen Sie trotzdem auf sie auf.
Sebastian nahm einen Schluck aus seinem Glas statt die Antwort zu geben, die ihm auf der Zunge lag. Er wusste sehr viel besser als Pesaro, was sie wollte. Nachdem er die brennende Flüssigkeit heruntergeschluckt und seine instinktive Antwort zurückgedrängt hatte, erwiderte er: »Das könnte sein – und bleibt abzuwarten –, aber seit ich immer in ihrer Nähe bin, habe ich bemerkt, dass nicht alles in Ordnung ist. Sie verhält sich anders.«
Pesaro warf plötzlich einen Blick zur Tür, und Sebastian hielt inne. War da ein Geräusch an der Haustür gewesen? In schweigender Übereinstimmung warteten sie auf ein erneutes Klopfen, aber es blieb aus.
Sebastian nahm wieder einen Schluck und ließ den Brandy über seine Zunge fließen. Wachsendes Unbehagen machte sich in ihm breit, als er zur Uhr schaute und sah, dass es bereits Mitternacht war.
»Anders?« Pesaro klang gelangweilt, aber Sebastian bemerkte, dass er sein Glas auf einem kleinen Beistelltisch abgestellt hatte.
Manchmal konnte er den Anblick von Pesaro kaum ertragen, denn die Form und Farbe der dunklen Augen des Mannes erinnerten ihn an Giulias. Genauso erging es ihm mit der ausgeprägten Oberlippe von Max. In ihrem blassen, schmalen Gesicht waren die Pesaro-Augen riesig und überwältigend gewesen, und die volle Unterlippe hatte die perfekte Ergänzung zur wohl geformten Oberlippe gebildet …
Giulia war ein kränkliches Mädchen gewesen, dünn und sehr zart, mit einem Husten, der sich nie zu bessern schien. Sebastian hatte sich töricht bis über beide Ohren in sie verliebt, als er sie im Alter von fünfzehn Jahren das erste Mal sah. Wegen ihrer zarten Konstitution wäre sie wahrscheinlich nicht älter als zwanzig geworden, doch dann war ihr Leben durch die einfältige Entscheidung ihres Bruders, sie zur Tutela zu bringen, noch mehr verkürzt worden. Pesaro hatte gedacht, die Unsterblichkeit eines Vampirs würde ihre Rettung sein, doch er war einem schrecklichen Irrtum erlegen.
Sebastian bremste seine Gedanken und kehrte von seinen vergangenen zu seinen gegenwärtigen Sorgen zurück. Gott stehe ihm bei – er ertrüge es nicht, Victoria auf dieselbe Weise zu verlieren wie Giulia. Aber das würde er auch nicht.
Sie war so viel stärker.
»Sie reagiert auf den Geruch von Blut«, erklärte er und setzte damit seine Unterhaltung mit Pesaro fort. Er hasste es, seine Bedenken und Sorgen mit ihm zu teilen, aber es gab niemand sonst, dem er sie hätte anvertrauen können. Und ob es ihm nun gefiel oder nicht, Pesaro war ein sehr fähiger, erfahrener und erfolgreicher Venator gewesen, der sogar Beauregard nervös gemacht hatte.
Sebastians Bemerkung schenkte ihm Pesaros volle Aufmerksamkeit. Das Glas klirrte leise, als Max es schließlich ganz absetzte. Obwohl er ansonsten kein Glied rührte, bemerkte Sebastian eine wachsende Intensität in seinem Blick, die er bei Giulia nie gesehen hatte. »Was meinen Sie damit?«
Sebastian erzählte, was sich im Abwasserkanal und auch beim Maskenball zugetragen hatte, als er sie neben dem toten Kreuzritter gefunden hatte. »Sie hat mir gesagt, dass es Momente gibt, in denen sie nicht mehr sie selbst ist.«
»Und erst jetzt geruhen Sie, mich über dieses wichtige Detail in Kenntnis zu setzen?«
Ehe Sebastian etwas erwidern konnte, richteten beide Männer den Blick zur Tür. Im Vorraum war eindeutig ein Geräusch zu hören gewesen. Sebastian schaute zur Uhr, die jetzt weit nach Mitternacht anzeigte, und lauschte.
Leises Stimmengemurmel sagte ihm, dass jemand eingetroffen war, und dann öffnete sich die Tür zum Salon.
Victoria wankte herein.
Als Sebastian sah, in welchem Zustand Victoria war, trat er schnell auf sie zu. Er wollte sie in seine Arme ziehen, doch ihre verschlossene Miene hielt ihn davon ab. »Mein Gott, Victoria, wo bist du gewesen?« Er entschied sich dafür, nur nach ihren Händen zu greifen. Sie trug keine Handschuhe. Ihr Haar befand sich in einem katastrophalen Zustand und ihre Kleidung …
»Du siehst wirklich grässlich aus«, bestätigte Pesaro.
Sebastian hätte wohl kurz gegrinst, wäre die Situation nicht so angespannt gewesen. Pesaro hatte nicht nur kein Gespür für Mode, sondern auch keine Ahnung, wie man mit einer Frau zu sprechen hatte. Charme war ihm ein Fremdwort. Er hatte sein Glas wieder in die Hand genommen und behielt seine lässige Haltung bei, doch etwas an ihm hatte sich verändert. Er wirkte irgendwie angespannt.
Sebastian spürte es zwar, trotzdem wandte er sich wieder Victoria zu. Ihr Gesicht war aufgeschürft – lange rote Kratzer zogen sich über ihre Wange, als wäre sie damit irgendwo langgeschabt – und überall war Blut. Ihr Haar wirkte stumpf und zerzaust, eine wirre, schwarze Masse, die ihr in Gesicht und Augen hing.
Doch es war ihr Gesichtsausdruck, der ihn am meisten verstörte. Kalt und marmorgleich. Ihre grün-braunen Augen wirkten hart und leer. Die langen Wimpern hoben sich dunkel von ihrer blassen Haut ab. Sogar ihre Lippen waren blass und hatten fast die Farbe von Lavendel angenommen.
»Ich bin zum Friedensrichter gebracht worden. Sie wollten dafür sorgen, dass ich hänge.«
»Trink das hier.« Pesaro schob seine Hand zwischen die beiden und reichte Victoria sein Glas. »Du hast dich von ihnen mitnehmen lassen?«
»Ich habe mich doch nicht von ihnen mitnehmen lassen«, erwiderte sie und ignorierte das Glas. Ihre Augen blitzten vor Zorn, als sie Pesaro anfunkelte.
Die beiden Männer hörten zu, als Victoria recht klar und kurz und bündig trotz ihrer offensichtlichen Wut erzählte.
»Dann hast du sie also zurückgelassen?«, stellte Pesaro am Ende fest. Er erhob sich geschmeidig aus seinem Sessel und stand vor ihr, wobei er Victoria um ein ganzes Stück überragte.
»Was zum Teufel hätte sie denn sonst tun sollen?«, fuhr Sebastian ihn an. Er hatte, während Victoria erzählte, ihre Hand genommen und spürte, wie kalt ihre Finger waren. »Er wollte, dass sie gehängt wird. Ich hätte ihn auch umgebracht.«
»Wo hat sich das Ganze zugetragen?«, fragte Pesaro mit ruhigerer Stimme, als Sebastian erwartet hatte. Dabei schlüpfte er in seinen Mantel. »Wo warst du, als du gingst?«
Victoria schien es sehr schwerzufallen, überhaupt die Lippen zu bewegen, doch sie antwortete ihm und gab ihm eine Adresse in Whitechapel. »Ich konnte nicht«, sagte sie und löste sich von Sebastian. »Ich musste gehen.«
»Gehen und sie sterben lassen?« Pesaro drehte sich wieder zu ihr um, und einen Moment lang standen sie einander gegenüber, als wollten sie gleich aufeinander losgehen. Plötzlich lag eine Anspannung in der Luft, die gar nicht mehr weichen wollte. Er sah aus, als wollte er ihr gleich die Finger um den Hals legen, und Sebastian ballte seine Hände zu Fäusten. »Ich hätte mehr von dir erwartet, Victoria. Das war praktisch Mord.«
»Sie waren noch am Leben, als ich ging.«
»Ohne die Chance zu überleben. Ihr Schicksal war besiegelt.« Pesaro wandte sich ab, dann blieb er plötzlich stehen und drehte sich mit einem Ruck zu Victoria um. Seine Augen waren zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, und er sah sie mit durchdringendem Blick an. Er musterte sie forschend, ehe er den Kopf hob, um Sebastian anzuschauen. Die unverblümte Missbilligung, die Sebastian zu sehen erwartet hatte, war verschwunden. Stattdessen lag ein wissender Ausdruck auf seinem Gesicht. Und dann verstand auch Sebastian.
Dies war nicht Victoria – nicht die Victoria, die er kannte.
Pesaro drängte sich an Sebastian und Victoria vorbei und ging mit langen Schritten zur Tür.
»Wo gehst du hin?«
Pesaro verlangsamte seinen Schritt nicht. »Sehen, ob ich noch irgendetwas tun kann.«
»Ich komme mit«, sagte sie. »Du kannst da nicht allein hin.«
Die beleidigenden Worte ließen Pesaro innehalten und sich umdrehen, während seine Hand schon auf dem Türknauf lag. Sogar Sebastian wäre beinahe zurückgewichen vor dem grimmigen Ausdruck, der auf seinem Gesicht lag. »Nein, ich will dich nicht dabeihaben.« Damit warf er die Tür hinter sich zu, und Stille legte sich wieder über den Raum. Sebastian bemerkte Victorias verletzte Miene, und ein schon vertrautes Unbehagen breitete sich in ihm aus. Die Art und Weise, wie sie ihm hinterherschaute, wie sie ausgesehen hatte, als Pesaro auf so wunderbare Weise nach dem Feuer wieder aufgetaucht war … es gefiel Sebastian nicht.
Es gefiel ihm überhaupt nicht.
Deshalb war er auch froh, Pesaro gesagt zu haben, dass Victoria alles über Giulia wusste und wie sie darauf reagiert hatte.
Natürlich war ein bisschen Übertreibung mit im Spiel gewesen, aber in der Liebe … und im Krieg waren alle Mittel erlaubt.
Victoria träumte von Blut.
Ganze Ströme davon, das zähe Fließen, der Geruch … stieg in ihre Nase, legte sich auf ihre Zunge. Sie badete darin. Erstickte darin.
Sie öffnete die Augen und stellte fest, dass die Sonne in ihr Schlafzimmer schien. Die Laken waren zerknittert und zerknüllt, hatten sich um ihre Beine geschlungen und sich wie eine Toga um ihre Taille gelegt. In ihrem Kopf pochte es, und die Haut in ihrem Gesicht spannte und fühlte sich wund an.
Aber sie musste aufstehen.
Auch das Wissen, dass ihre Verletzungen innerhalb eines Tages verheilen würden, konnte Victorias Stimmung nicht verbessern, als sie in den Spiegel schaute. Ihr Gesicht war mit Schürfwunden übersät, und über ihre Wange zog sich ein langer Kratzer.
Mit einem schlichten Gewand angetan, das kaum mehr als ein Hemdchen war, und das Haar zu einem einzelnen langen Zopf geflochten, ging Victoria nach unten und fand Kritanu im kalari, dem Raum, den sie für ihr Training benutzten. Es war ein großer Raum für ein so kleines Stadthaus, der nur dadurch entstanden war, dass Tante Eustacia die Wand zwischen Musikzimmer und einem Salon hatte herausnehmen lassen. Der Raum war hell, geräumig und mit einem schimmernden Holzfußboden ausgelegt, von dem Kritanu behauptete, dass er den besten Untergrund für das Training darstellte. In einer Ecke lagen Berge von riesigen Kissen, auf denen man nicht nur sitzen und sich ausruhen konnte, sondern sich beim Training auch schützen konnte, falls es erforderlich war.
Sie hatte nicht damit gerechnet, Max zu sehen, doch er focht gerade einen Scheinkampf mit Kritanu aus. Beide Männer hielten lange, schmale Schwerter in der Hand, deren Klingen leicht gebogen waren. Sie klirrten, rasselten und schimmerten.
Als sie in den Raum trat, unterbrach Max die Übung und ließ die Spitze seiner Waffe auf den Boden knallen. Er trug eine locker sitzende, knöchellange braune Hose und eine cremefarbene Tunika, die an vielen Stellen durchgeschwitzt war. Das Haar hatte er sich wie ein Pirat zurückgebunden. Seine großen Füße waren nackt, doch um den einen Knöchel lag ein schmales Band. Daran hing ein kleines silbernes Kreuz.
»Ich habe letzte Nacht nichts finden können«, erklärte er abrupt. »Ich frage mich, ob du mir die richtige Adresse gegeben hast.«
»Natürlich habe ich das.«
»Es gab keinerlei Anzeichen von irgendwelchen Schäden, und es hatte auch keiner etwas Ungewöhnliches gehört.«
»Dann ist es dir also egal, dass sie mich hängen wollten?«, fragte Victoria, der es plötzlich in den Fingern kribbelte, selbst ein Schwert in die Hand zu nehmen. Sie wollte Max damit einheizen und sie wusste, dass sie über die Kraft und die Geschwindigkeit dafür verfügte. Und auch an Geschick mangelte es ihr nicht.
Er musste wohl gemerkt haben, was in ihr vorging, denn er sah zu Kritanu hin. »Würde es dir etwas ausmachen, Victoria die Klinge zu geben? Ich glaube, sie würde mich gern durchbohren.« Sein Lächeln war nur ein kurzes Aufblitzen seiner Zähne.
Kritanu überließ Victoria seine Waffe und trat zurück, als sich ihre Finger um das Heft schlossen. Sie war an die kürzeren kadhara-Klingen gewöhnt oder auch an den langen, schlanken Degen. Aber das hier war eine Klinge, die man viel ernster nehmen musste. Sie war schwerer und war ganz anders zu führen.
»Vielleicht solltest du Schutzkleidung anlegen«, nahm sie die Unterhaltung wieder auf und ließ die Klinge probeweise von der Schulter bis zum Boden durch die Luft zischen. Sie korrigierte die Haltung ihres Handgelenks und spürte, wie die Waffe jetzt besser in ihrer Hand lag.
Max stieß ein Schnauben aus. Er trat einen Schritt zurück und nahm die korrekte Fechthaltung ein, während er seine Klinge mit einem Zischen schwang. »Ich freue mich darauf, ungehindert zu kämpfen – denn bei einem Kampf mit dir muss ich mich nicht zurückhalten.« Er glitt geschmeidig zur Seite, als sie wieder ausholte und die Metallklingen aufeinander krachten. »Und … um deine Frage zu beantworten … es ist nicht egal, dass sie dich hängen wollten.«
Durch den Saum ihres Kleides konnte sie zwar keine großen Schritte machen, aber er war weit genug, um sich auf Max stürzen zu können. Leichtfüßig glitt er zur Seite, wobei seine Füße den Boden verließen und einen flachen Bogen in der Luft beschrieben, was sie voller Verdruss beobachtete. Max landete wieder auf dem Boden, und sie sah, dass er grinste.
Max’ Grinsen war ein Anblick, der sie bis aufs Blut reizte.
Victoria setzte zum Angriff an und drängte ihn mehrere Schritte zurück. »Ach ja?«
»Ja«, erwiderte er und überraschte sie damit, dass er nun die Führung übernahm und den verlorenen Boden wiedergutmachte. Die Klingen rutschten aneinander ab, dann machte er einen akkuraten Schritt zur Seite. »Aber du darfst eines nicht vergessen, Victoria – du bist dazu verpflichtet, die Sterblichen vor den Untoten zu schützen. Du kannst nicht einfach weggehen, nur weil einer von ihnen dich geärgert hat.«
»Mich geärgert hat?« Sie erwiderte seine Parade mit mehr Wucht, als sie beabsichtigt hatte, und er machte einen Satz nach hinten. »Er hätte mich auf offener Straße erschossen … oder in Newgate hängen lassen.«
»Ja, wirklich ein unangenehmer Vorfall. Ich werfe dir nicht vor, dass du deine Haut retten wolltest. Aber … die Art und Weise, in der du es getan hast.« Er stieß zu, und sie spürte einen Windhauch neben ihrem Gesicht. »Venatoren verfügen über Kräfte, die weit über die Fähigkeiten von Menschen hinausgehen. Wenn wir – wenn du – anfängst, diese Fähigkeiten einzusetzen, um über Sterbliche zu richten, dann ist das falsch. Es ist ein Missbrauch der dir verliehenen Macht.«
»Ich habe meine Macht nie missbraucht«, erwiderte sie, obwohl sie wusste, dass das nicht stimmte. »Und ich würde es auch nie tun.«
Max macht einen Ausfallschritt nach vorn. »Aber du hast es getan. Letzte Nacht.«
»Und was ist mit den Situationen, in denen du dich dumm verhalten hast?«, gab sie zurück, während sie ihre Klinge mit aller Macht durch die Luft sausen ließ, sodass er zurückspringen musste. Sein Grinsen blitzte wieder auf, als freute es ihn, dass sie ihn überrumpelt hatte, und dann rückte er wieder vor.
»Von welchen Situationen sprichst du?«, fragte er, trat zur Seite und riss seine Klinge hoch. Sie parierte seinen Angriff, und das Klirren der aufeinanderprallenden Klingen hallte durch den Raum.
»Max, Lilith ist hier in London. Ich wette, sie würde dich nur zu gern wieder in die Finger bekommen.«
Sie sah, wie er die Lippen zusammenpresste. Der Anflug von Erheiterung, der eben noch auf seinem Gesicht gelegen hatte, war verschwunden. »Und natürlich bin ich außerstande, mich selbst zu schützen.« Er machte einen Ausfallschritt, sie wich aus und hörte die Klinge an ihrem Ohr vorbeizischen.
»Du musst aber zugeben«, sagte sie, während sie ihn wieder mit ihrer Klinge bedrängte, »dass es jetzt ein bisschen schwieriger sein könnte.« Er parierte ihren Hieb ohne zurückzuweichen, und ihre Arme fochten einen Kampf aus Kraft und Durchhaltevermögen gegeneinander aus, ehe die Wucht des Aufpralls sie aneinander abgleiten ließ.
»Ich kann auf mich selbst aufpassen.« Er ging wieder auf sie los, wobei er diesmal durch die Luft glitt und sie die Klinge höher halten musste, um seinen Angriff abzuwehren.
»Aber wenn sie dich wieder zu fassen kriegt … dich beißt und so wieder in ihren Bann zieht …«
»Ich werde ihr keine Gelegenheit dazu geben. Sie schafft es nicht mit einem einzigen Biss … ein bisschen Mithilfe von meiner Seite war schon erforderlich.«
»Wie bitte?« Victoria verharrte mitten in der Bewegung, und er überrumpelte sie, sodass seine Klinge an ihrem Arm entlangfuhr. Die Klinge strich über ihren Arm, berührte dabei aber nur den Stoff. »Mithilfe?«
»Himmel, Victoria, es war keine bereitwillige Mithilfe«, knurrte er. »Wenn ich gewusst hätte, dass die Salbe, die sie auf die Bisswunden strich, bewirkt, dass diese niemals heilen und ich dadurch für immer an sie gebunden bin, hätte ich sie ja wohl aufgehalten – meinst du nicht auch?« Seinen nächsten Hieb führte er mit voller Kraft aus.
Eine Weile lang kämpften sie schweigend. Max stand jetzt wieder mit beiden Beinen auf dem Boden, und Victoria spürte, wie ihr der Schweiß über den Rücken lief.
»Übrigens glaube ich nicht, dass er tot ist«, meinte Max, als er nach einem besonders munteren Zwischenspiel wieder zurückwich.
»Wer?«
»Der Runner.«
»Wieso?«
»Ich habe es dir doch schon gesagt … ich habe nichts gefunden und konnte niemanden ausfindig machen, der irgendetwas gesehen oder gehört hätte. Und«, fuhr er fort, während er sich zur Seite bewegte, plötzlich hinter sie trat und dabei die Spitze ihres Schwertes mit sich zog, »ich erinnere mich an etwas, das dich interessieren und ein bisschen Klarheit in die Angelegenheit bringen könnte.«
Victoria wirbelte seiner Bewegung folgend herum und riss ihr Schwert hoch, während er seines nach unten sausen ließ. Die Klingen krachten klirrend aufeinander, blieben aneinander hängen, und mit einem Ruck vollführte sie eine Drehung. Die Schwerter verhakten sich an den Parierstangen, dann flogen sie durch die Luft, um mit einem dumpfen Klappern auf dem Boden zu landen.
»Unentschieden«, sagte er und sah sie an. Er atmete noch immer kaum schwerer als zuvor. Sein Haar war zu einem kurzen, dicken Zopf gebunden, doch eine Strähne war ihm ins Gesicht gefallen. Er strich sie zurück und stützte die Hände in den Hüften ab. Breitbeinig stand er auf seinen braunen Füßen da und sah noch mehr als sonst aus wie ein Pirat. Jetzt brauchte er nur noch einen goldenen Ring im Ohr – obwohl Max sich wahrscheinlich für einen aus Silber entscheiden würde, wenn er zu solchem Schmuck geneigt hätte.
»Woran erinnerst du dich?«, fragte sie und bemerkte dabei, dass der V-förmige Ausschnitt seiner Tunika den Blick auf braunes Haar freigab, welches seine Halsbeuge bedeckte. Er hatte einst ihre Hand zu der Stelle gezogen, unter den warmen Stoff eines anderen Hemds, über Haut und Muskeln, damit sie seine vis bulla berührte. Sie trat zurück.
»Goodwin, ja? Frederick Goodwin war der Bruder des Runners?«
»Ja, Lord Truscott.«
»Es gab einen Goodwin in der Tutela. Das könnte er gewesen sein. Wenn das der Fall sein sollte, bezweifle ich, dass er oder sein Handlanger von den Untoten umgebracht worden sind.«
Victoria verstand, was er meinte, und wieder stieg Wut in ihr auf. »Aber wenn doch, bin ich trotzdem von der Sünde freigesprochen, tatenlos zugesehen zu haben – wenn Goodwin ein Mitglied der Tutela war? Ob nun Sterblicher oder nicht?«
»Wenn er ein Mitglied der Tutela war, hätte er von den Vampiren nichts zu befürchten gehabt«, rief Max ihr in Erinnerung. »Du hättest ihn nicht dem sicheren Tod ausgeliefert. Wenn er aber nicht der Tutela angehörte, war es nicht an dir, über Leben oder Tod zu entscheiden.«
»Also hätte ich zulassen sollen …«
»Und«, fuhr Max fort, ohne sich unterbrechen zu lassen, »wenn er der Tutela angehörte, würde das seine Feindseligkeit dir gegenüber erklären. Dem Venator gegenüber, der seinem Bruder das Leben nahm.«
Ihr gefiel es nicht, welche Richtung diese Unterhaltung nahm, denn Max’ Missbilligung lastete immer noch schwer auf ihr. Vielleicht hätte sie Goodwin tatsächlich nicht bei den Vampiren lassen sollen. Aber in dem Moment war es das Einzige gewesen, was sie tun konnte … tun wollte.
Als hätten sich alle moralisch-ethischen Vorstellungen in Luft aufgelöst, sodass nur noch ihr Selbsterhaltungstrieb übrig geblieben war. Das verzweifelte Verlangen weiterzuleben. Und blinde, rasende Wut. Gewissenlose Raserei.
Dann erinnerte sie sich wieder. »Er hat irgendetwas gesagt … von wegen, dass er seinen Bruder geschützt hätte. ›Nach allem, was ich getan hatte, um ihn zu beschützen.‹«
»Er könnte ihm dabei geholfen haben, ein Untoter zu werden, um ihn zu beschützen. So etwas kommt vor.« Bitterkeit schwang in seiner Stimme mit.
Victoria warf ihm einen forschenden Blick zu und erkannte, dass er von sich selbst sprach. »Wie du es mit deinem Vater und deiner Schwester getan hast.«
»Vioget hat dich ja bestimmt in all die schmutzigen Einzelheiten eingeweiht, nicht wahr?« Max’ Stimme klang rau und abgehackt, dann wandte er sich ab und hob die ineinander verhakten Schwerter auf.
»Von Wayren weiß ich genug, um zu verstehen, dass du jung warst und dazu gebracht wurdest, an die Versprechungen der Tutela zu glauben. Du hast es getan, um das Leben deines Vaters zu retten – und das deiner Schwester. Sie waren beide krank und schwach.«
»Unsterblichkeit. Schutz vor Krankheit. Kraft.« Er richtete sich mit den Waffen in der Hand auf. »Nur ein törichtes Kind könnte glauben, dass es das umsonst gibt.« Max drehte sich um und ging zu dem Schrank, in dem die Waffen verwahrt wurden.
Victoria stellte fest, dass Kritanu das Zimmer verlassen hatte und sie allein waren. »Ich denke nicht, dass die Tutela nur törichte Kinder in ihren Bann zieht. Auch reife, erfahrene Menschen wie John Polidori sind den Machenschaften zum Opfer gefallen.«
»Keine Angst, Victoria. Ich habe mich mit dem abgefunden, was ich getan habe. Was meinst du wohl, warum ich mich der Jagd auf Untote verschrieben habe? Ich sehe keine Veranlassung, mich in Selbstmitleid zu wälzen oder mich zu geißeln. Dafür gibt es viel zu viel zu tun.« Max hob die Schwerter auf ihre Halter im Schrank. Er sah Victoria nicht an, während er sie befestigte. »Und ganz gewiss brauche ich kein Mitgefühl oder Mitleid von dir.«
Victoria öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber Max hatte bereits den Raum verlassen.