Kapitel 7
Von mit Steinen gefüllten Weidenkörben, einem Treffen am Altar und Geständnissen
Victoria kehrte nicht in den Salon zurück, nachdem der Bow Street Runner, Mr. Bemis Goodwin, gegangen war. Sie fand, dass es Sebastian recht geschah, mit der grimmigen Lady Melly allein gelassen zu werden; sollte er doch die Trümmer seiner kleinen Charade selbst zusammenfegen.
Natürlich bestand immer die Gefahr, dass er alles noch mehr verkomplizierte oder er Lady Melly sogar für sich gewinnen konnte – Sebastian war schließlich der Charme in Person – und diese sich voller Eifer in die Planung einer zweiten Hochzeit, auf die er angespielt hatte, stürzte.
Aber im Moment … es gab so viele Dinge, über die Victoria nachdenken musste und derentwegen sie sich Sorgen machte, dass sie sich völlig außerstande sah, sich wieder in den vollen Salon zu setzen und höfliche Konversation zu betreiben.
Ihre Zofe Verbena hatte sie bereits angewiesen, ein paar ihrer Sachen zu packen und sie von einem Lakaien in Tante Eustacias Stadthaus bringen zu lassen. Sie würde keine weitere Nacht unter James Lacys Dach schlafen, wo Sebastian meinte, nach Belieben in ihr Zimmer eindringen zu dürfen, ohne sich darum zu kümmern, wer ihn unter Umständen dabei beobachtete.
Victoria achtete darauf, von den Fenstern des Salons aus nicht gesehen zu werden, als sie auf einen mit Kieselsteinen befestigten Weg trat, der am Gebäude entlang führte. Sie nahm an, dass Kritanu sich immer noch in der Kapelle aufhielt, wo sie ihn gestern Nachmittag zurückgelassen hatte, um sich James beim Dinner anzuschließen. Eigentlich hatte sie gestern Abend noch einmal nach ihm sehen wollen. Aber der Sherry und Sebastians Besuch in ihrem Schlafzimmer hatten sie früher als geplant zu Bett gehen lassen.
»Victoria«, begrüßte Kritanu sie, als ihr Schatten in die Kapelle fiel. Sie schloss die Tür hinter sich und ging durch den Mittelgang auf ihren Lehrer zu.
Er befand sich neben dem Altar und hatte eine seiner komplizierteren Yoga-Haltungen eingenommen: Er balancierte mit lang gestreckten Armen auf Brust und Schultern auf dem Boden und die nach oben ragenden Beine waren im Knie angewinkelt, sodass die Füße den Kopf berührten. Zum Stabilisieren des hoch gereckten Rumpfes bildeten die gestreckten Arme, deren Hände zusammengelegt waren, ein V. Sie sah ihm zu, wie er in einer langsamen, fließenden Bewegung die eingenommene Stellung beendete, in der sie die Übung shalabhaasana, die Heuschrecke, wiedererkannt hatte.
Zwar hatte Kritanu ihr einige Yoga-Grundstellungen oder asanas zur Konzentrationssteigerung und besseren Atmung beigebracht, aber Victoria war diese von ihm jetzt praktizierte Übung nie gelungen. Auch Tante Eustacia hatte es nicht geschafft.
»Ich hatte gestern Abend eigentlich noch einmal herkommen wollen«, fing sie an, aber er schüttelte bereits den Kopf.
»Du musst dich um so vieles kümmern, Kind. Ich weiß sehr wohl, wie schwierig das sein kann.«
Das wusste er in der Tat, denn er war mehr als fünfzig Jahre lang Tante Eustacias Lehrer, Gefährte und – wie Victoria erst vor kurzem erfahren hatte – Liebhaber gewesen.
Victoria legte ihre Hand auf seine glatten, gebräunten Finger und drückte sie. »Wann wird er begraben?«
Kritanu schüttelte den Kopf. »Wir begraben unsere Toten nicht. Sein Körper, der wie ein alter Wagen ausgedient hat, wird verbrannt werden. Seine Asche werde ich ins Konsilium bringen, wie er es sich gewünscht hätte.« Er richtete sich auf, und sie sah, dass er trotz der Trauer, die immer noch in seinem Blick lag, entspannter wirkte. »Aber ich wollte mit dir über die Fortsetzung deines Trainings sprechen. Die letzten paar Monate haben wir nicht viel gemacht, und ich fürchte, du bist langsam und schwach geworden – du greifst wieder auf vorhersehbare Bewegungen zurück.«
Victoria lächelte, obwohl sie aus unterschiedlichen Gründen viel lieber geweint hätte. »Ich habe Vorkehrungen getroffen, um in Tante Eustacias Haus umzuziehen. Das hätte ich eigentlich gleich nach meiner Rückkehr nach London tun sollen. Es war dumm von mir hierzubleiben.«
Kritanu nickte. »Dann werde ich meinen Neffen heute mitnehmen, damit du dir wenigstens darüber keine Gedanken zu machen brauchst. Und ich bin froh, dass du dann wieder bei mir bist. Wir werden deine ankathari-Fähigkeiten verbessern, denn du musst geschickter mit der Klinge werden. Die Mühe zahlt sich aus, wenn du mit Imperialen kämpfen musst.«
Imperialvampire waren die ältesten der Halbdämonen, von denen die meisten vor mehr als einem Jahrtausend erschaffen worden waren. Ihre Augen leuchteten rotviolett, und sie waren sogar noch schneller und stärker als Wächtervampire. Sie hatten Schwerter und konnten durch die Luft gleiten. Manche von ihnen konnten auch ihre Gestalt verändern oder allein nur mit ihrem Blick einem Menschen die Lebenskraft entziehen.
Victoria war bisher nur zweimal gegen Imperiale angetreten und hatte beide Male Hilfe gehabt. Es waren schreckliche, furchteinflößende Geschöpfe.
»Wann werde ich so weit sein, um mit qinggong zu beginnen?«, fragte sie.
Sie hatte gesehen, wie Max anmutig durch die Luft geschwebt war, sich immer wieder nach unten gestürzt hatte und gesprungen war, als hätte er Flügel. Sie war gerade erst Venator geworden, als sie ihn diese Fähigkeit vor zwei Jahren bei einem Kampf gegen einen Imperialen hatte einsetzen sehen. Max’ Kraft und Können hatte dem des Vampirs in nichts nachgestanden; es war fast ein Genuss gewesen, ihnen bei ihrem Kampf Schwert gegen Holzpflock zuzusehen. Ihre Füße hatten immer wieder den Boden gestreift, während sie in hohen Sprüngen durch die Nacht wirbelten und glitten.
Kritanu bedachte sie mit einem väterlichen Lächeln. »Wenn du willst, können wir morgen damit anfangen. Aber ich muss dich warnen – es wird Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte dauern, bis du die Technik wirklich beherrschst. Im Gegensatz zu anderen Kampftechniken wird qinggong nicht von der vis bulla verstärkt. Wie erfolgreich ein Mensch qinggong einzusetzen vermag, beruht eher auf der Macht und Kraft seines Geistes.«
Aber Max hatte diese Fähigkeit beherrscht und sie bestimmt nicht mehr als ein Jahrzehnt trainiert. Victoria wusste, dass sie es auch lernen konnte.
»Ich sehe, dass du mir nicht glaubst.« Kritanu nickte freundlich. »Qinggong ist eine Kampfkunst aus China, sie wurde nicht von den Venatoren entwickelt. Wenn du willst, können wir morgen anfangen, und zwar so wie alle, die diese Fähigkeit gelernt haben.«
Vor ihrem inneren Auge sah Victoria sich plötzlich mit einem Pflock in der Hand über Tische und Stühle hüpfen, und ihre Lippen verzogen sich bei der Vorstellung, dass ihre Mutter sie zufällig dabei beobachten könnte, zu einem Lächeln. Natürlich wäre Lady Melly auch längst in Ohnmacht gefallen, wenn sie gesehen hätte, wie ihre Tochter bei Kämpfen zuschlug, herumwirbelte und sich abrollte.
»Wir werden einen großen Weidenkorb mit Steinen füllen«, erklärte Kritanu. In seinen Augen war ein belustigtes Funkeln zu sehen, als wüsste er, was sie gerade dachte. »Du wirst üben, auf dem schmalen Rand des Korbes zu gehen, ohne dabei herunterzufallen. Das tust du so lange, bis du es perfekt beherrschst. Dann werden wir einen Stein herausnehmen. Und dann wirst du wieder so lange üben, bis du es perfekt kannst.«
»Und dann«, fuhr er fort und hob einen Finger, als wolle er der Frage, ob sie vom Sofa hüpfen solle, zuvorkommen, »entfernen wir einen weiteren Stein. Und wieder wirst du auf dem Rand balancieren. Wir setzen das so lange fort, bis der Korb leer ist und du immer noch auf ihm gehen kannst.«
Victoria starrte ihn an, während ihr allmählich klar wurde, was er da beschrieben hatte. »So hast du es Max gelehrt?« Wie sollte es jemand schaffen, auf dem Rand eines leeren Weidenkorbes zu balancieren, ohne dass dieser zusammenbrach oder umkippte?
Sein blauschwarzes Haar glänzte. »Genau. Wie ich schon sagte, Victoria, es beruht auf der Kraft deines Geistes … nicht auf Muskelkraft oder Schnelligkeit.«
Sie nickte zurückhaltend. »Ich mache es.«
Licht fiel in den kleinen Raum, als die Tür geöffnet wurde. Beide drehten sich um und sahen Sebastian am anderen Ende des Mittelgangs stehen. Sonnenstrahlen fielen von hinten auf sein goldblondes Haar. Dann trat er weiter in den dunklen Raum und schloss die Tür hinter sich.
»Ich hatte mich schon gefragt, wohin du verschwunden bist«, sagte er. »Es war reiner Zufall, dass ich gerade aus dem Fenster guckte und noch ein Stückchen von deinem Kleid bemerkte, als du hier hereingeschlüpft bist.«
»Sag nicht, dass es dir gelungen ist, dich dem Klammergriff meiner Mutter zu entwinden.« Als Victoria ihn dabei beobachtete, wie er durch den Mittelgang auf sie zukam, erinnerte sie sich plötzlich daran, wie sie es damals selbst getan hatte … um sich neben Phillip vor den Altar zu stellen.
Plötzlich spürte sie, wie ihr Hals brannte. Sie schluckte krampfhaft und merkte, dass sie heftig blinzeln musste. Er kam auf sie zu, um sich neben sie vor den Altar zu stellen. Wollte er Phillips Platz einnehmen? Er hatte sehr deutlich gemacht, dass er es gerne wollte. Zumindest im Schlafzimmer.
Sie zuckte zusammen, als sie merkte, dass Sebastian an ihre Seite getreten war. Aber im Gegensatz zu einer Hochzeitszeremonie griff er nicht nach ihrer Hand, um seine warmen Finger um sie zu legen, sondern erwiderte: »Es war ganz schön schwer, von ihr loszukommen – aber nicht, weil sie plötzlich so einen Narren an mir gefressen hätte, sondern weil sie mich lahmlegen wollte, um mich von dir fernzuhalten. Sie hat Rockley losgeschickt, um nach dir zu suchen.«
»Hm. Ich hatte eigentlich gehofft, dass es eine größere Qual für dich wäre«, meinte sie und verdrängte die Gedanken, die sie so aus der Fassung gebracht hatten. »Es wäre dir nur recht geschehen, nach der Vorstellung, die du da drinnen gegeben hast.«
Er bedachte sie mit einem strahlenden Lächeln. »Qual? Aber, ma chère, das brauchst du doch nicht deiner Mutter zu überlassen. Du bist selbst sehr gut darin.« In seinen Augen lag ein Strahlen, das sie aus der Fassung brachte … und dafür sorgte, dass sich ihr Bauch in angenehmer Weise zusammenzog. Sie konnte die körperliche Anziehungskraft, die Sebastian auf sie ausübte, noch immer nicht zügeln.
Victoria spürte die Wärme, die ihr in die Wangen stieg, und richtete ihren Blick wieder auf Kritanu. Als hätte er dadurch einen Anstoß bekommen zu sprechen, richtete er seine Aufmerksamkeit auf Sebastian. »Du und Victoria habt mehr gemeinsam als die Tatsache, dass ihr beide geborene Venatoren seid.«
»Aber natürlich. In uns beiden strömt das Blut der Gardella – aber wie ich dir schon mal gesagt habe, meine Liebe« – Sebastian drehte sich kurz zu Victoria um – »kommt es bei mir von der mütterlichen Seite. Der Gardella-Name liegt in meinem Stammbaum so weit zurück, dass du dir keine Gedanken darüber zu machen brauchst, ob unsere Zweige sich kreuzen könnten. Wir sind überhaupt nicht nah verwandt.« Er trug eine fröhliche Miene zur Schau, doch seine Augen … sie waren ganz dunkel vor Sorge.
»Aber das habe ich gar nicht gemeint«, erklärte Kritanu mit seiner deutlichen Aussprache. »Ich spreche von Giulia.«
Schweigen.
Victoria sah Sebastian an, dessen Miene jetzt eine seltsame Mischung aus Ärger und Verdruss zeigte. Als er nichts sagte, drehte sie sich zu Kritanu um. Auch er schwieg und musterte Sebastian nur mit erwartungsvollem Blick.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Noch ein Geheimnis, Sebastian? Hast du etwa immer noch welche auf Lager?«
Er schwieg einen Moment lang. Als er schließlich wieder sprach, klang seine leise Stimme angespannt. »Max war vor Jahren Angehöriger der Tutela.«
»Das ist kein Geheimnis für mich.« Zwar hatte Max Victoria die Male gezeigt, die er aus den Tagen bei der Tutela davongetragen hatte, aber ansonsten hatte er ihr wenig erzählt. Und auch von Wayren hatte sie nicht mehr erfahren, als Max die Venatoren verließ, nachdem er Tante Eustacia getötet hatte.
»Er hat seinen Vater und seine Schwester der Tutela ausgeliefert«, sagte Sebastian.
»Ich weiß darüber Bescheid. Es war ein schrecklicher Fehler, aber er hatte versucht, sie zu beschützen – sie waren krank und sein Vater war alt und lag im Sterben«, erwiderte Victoria mit gelassener Stimme. »Max war jung, und die Tutela agierte schlau und gerissen …«
»Dann weißt du also auch, dass die Tutela seinen Vater umbrachte und er zuließ, dass die Vampire Giulia in eine Untote verwandelten.«
»Giulia?« Victoria hatte das Gefühl, als hätte sich ihr Bauch geöffnet, und alle Eingeweide quollen heraus.
»Giulia«, fuhr er mit dieser seltsam gepressten Stimme fort, »war der erste Vampir, den ich tötete, nachdem ich meine vis bulla erhalten hatte. Sie war meine … ich liebte sie. Max’ Schwester.« Dann sah er sie ruhig mit leeren goldenen Augen an, während sich sein Mund zu einem freudlosen Lächeln verzog. »Du siehst also, Victoria, dass Kritanu Recht hat. Du und ich haben vieles gemeinsam. Wir mussten beide denjenigen, den wir am meisten liebten, zur Hölle schicken.«