KAPITEL ZWANZIG

Ben Ross

Ich platzte so ungestüm in Dunns Büro, dass der Superintendent erschrocken von seinem Platz aufsprang.

»Gütiger Himmel, Ross!«, rief er. »Was ist denn passiert, Mann?«

»Fletcher, Sir!«, sagte ich aufgeregt. »Ich brauche sofort einen Haftbefehl für Fletcher!«

»Fletcher? Was hat er denn jetzt wieder getan?« Dunn schaute mich stirnrunzelnd an. »Hören Sie, Inspector, der Mann war für mich genauso sehr ein Ärgernis wie für Sie, aber ich glaube kaum, dass das ausreicht, um ihn zu verhaften.«

»Er hat Madeleine Hexham ermordet«, entgegnete ich. »Ich bin absolut sicher. Und den Vorarbeiter Adams ebenfalls, ja, ja, er hat Adams ermordet.«

Bei diesen Worten öffnete Dunn den Mund, schloss ihn wieder, setzte sich auf seinen Stuhl, legte die breiten Bauernhände flach auf den Schreibtisch und sagte schließlich: »Reden Sie.«

Ich setzte mich auf die vorderste Kante des Stuhls vor seinem Schreibtisch, und die Worte sprudelten aus mir hervor. »Er hat uns von Anfang an behindert und versucht, uns zum Verlassen der Baustelle zu bewegen. Er hat die Entfernung der Leiche organisiert, bevor ich zum Tatort gelangen konnte. All das tat er nach außen hin im Namen der Eisenbahngesellschaft, doch ich glaube, in Wirklichkeit hat er es um seiner selbst willen getan und nicht, weil er Verzögerungen bei den Arbeiten verhindern wollte. Es war äußerst praktisch für ihn, sagen zu können, er würde nur die Interessen seiner Auftraggeber wahren. Jetzt, nachdem ich dies alles weiß, gibt es so viele Indizien, die meinen Verdacht hätten erwecken müssen, dass es mir beinahe peinlich ist, ihn nicht gleich in den Kreis der Verdächtigen aufgenommen zu haben. Ich wusste natürlich, dass der Täter jemand sein musste, der sich auf der Baustelle einigermaßen auskannte. Irgendwie ist es Fletcher, der ständig durch das Bild lief, wenn ich das so sagen darf, der ständig zugegen war und lautstark protestierte; irgendwie ist es ihm gelungen, mich von sich als möglichem Täter abzulenken. Mörder suchen normalerweise Anonymität und trachten danach, sich vor uns zu verstecken.

Ich nehme an, erst als Lizzie – ich meine Miss Martin …«

Dunns buschige Augenbrauen gingen in die Höhe, doch er schwieg.

»… erst als Miss Martin mir erzählte, dass Fletcher und Mrs Parry sich kannten und dass er sie mehrfach zu Hause besucht hatte, fing ich an, ihn mit anderen Augen zu sehen, wenn Sie so wollen. Plötzlich war er ebenfalls im Bild, und was mich störte, war die Tatsache, dass er nicht mit einem Wort erwähnt hatte, dass er Madeleine gekannt hatte, sehr wahrscheinlich von seinen Besuchen bei Mrs Parry. Er spekulierte darauf, dass es nicht herauskommen würde. Er schätzte, Mrs Parry würde nicht erzählen, dass sie ein Interesse an den Bauarbeiten in Agar Town hatte. Niemand möchte als Slumvermieter verschrien sein, und nachdem Madeleines Leichnam dort gefunden worden war, gefiel Mrs Parry der Gedanke noch weniger, dass die Menschen sie mit jener Gegend in Verbindung bringen könnten. Deswegen konnte Fletcher ziemlich sicher sein, dass sein Name nicht von ihr erwähnt werden würde. Doch er wusste nichts von Miss Martin, und es muss ein rechter Schock für ihn gewesen sein, als sie an jenem Tag ins Speisezimmer kam und ihn beim Mittagessen mit ihrer Arbeitgeberin vorfand. Er wusste nicht, dass sie es mir erzählen würde, doch ihm war klar, dass sie es irgendwann erwähnen könnte und dass es schließlich an meine Ohren dringen würde.

Ich glaube, zuerst hat er Madeleine an einem anderen Ort versteckt, nicht in Agar Town, wahrscheinlich in irgendeinem Privathaus. Seinem eigenen vielleicht. Er ist ein Mann mit Vermögen und plant, sich entsprechend zu verheiraten, und ich wage zu behaupten, dass er bereits daran gedacht hat, sich ein Haus zu kaufen. Nach einer Weile wurde es zu gefährlich, Madeleine noch länger dort gefangen zu halten, und er brachte sie nach Agar Town. Ich glaube, er hatte zu diesem Zeitpunkt schon beschlossen, dass sie sterben musste. Aber er konnte das nicht ohne Hilfe tun, und die Person, deren Hilfe er in Anspruch nahm, war der Vorarbeiter Adams.«

Ich hatte meine Erklärungen in hastigem Ton vorgetragen, weil ich fürchtete, Dunn könnte mich unterbrechen, doch er machte keine diesbezüglichen Anstalten, und ich konnte endlich langsamer reden und die nächsten Punkte gelassener angehen.

»Fletcher kannte Adams wahrscheinlich von früheren Begebenheiten und wusste, dass der Mann keine Skrupel hatte, solange das Geld stimmte. Von Adams Standpunkt aus betrachtet brachte es ihm Vorteile, Fletcher zu helfen, sollte es auf dieser oder irgendeiner anderen zukünftigen Baustelle Schwierigkeiten geben. Was auch immer in Zukunft geschehen würde, Fletcher würde ihn schützen. Er musste nicht fürchten, jemals entlassen zu werden, solange Fletcher die Bauarbeiten leitete. Sie wären aneinandergekettet und mussten sich gegenseitig schützen. Wie auch immer … irgendwie wurde Madeleine nach Agar Town geschafft, wahrscheinlich in betäubtem Zustand. Das würde erklären, warum sie während der letzten Tage ihres Lebens keine Nahrung mehr zu sich genommen hat. Ich kann das alles zwar noch nicht beweisen, Mr Dunn, Sir, doch ich bin fest davon überzeugt, dass ich mehr oder weniger richtig liege.«

»Mehr oder weniger reicht aber nicht«, grollte der Superintendent.

»Ich habe mit Constable Biddle gesprochen, Sir«, sagte ich und berichtete, was der Constable mir erzählt hatte. »Fletcher sah, wie Biddle in den Keller klettern wollte, wo er, wie ich glaube, Madeleine vor ihrem Tod versteckt und schließlich ermordet hat. Er konnte nicht sicher sein, ob wir nicht im hellen Tageslicht den ein oder anderen Hinweis finden würden. Vielleicht hatte er etwas verloren oder etwas fallen gelassen oder vergessen. Er durfte das Risiko nicht eingehen. Also eilte er zu der Stelle, in der Hoffnung, Biddle davon überzeugen zu können, sein Vorhaben aufzugeben und wieder nach oben zu steigen. Doch Biddle war fest entschlossen, den Keller in Augenschein zu nehmen, und Fletcher geriet in Panik. Er reagierte instinktiv und richtete es so ein, dass der junge Constable stürzte. Es war töricht, doch falls Biddle sich verletzte und von der Baustelle abgezogen werden musste, würde man dem Constable die Schuld geben, und Fletcher wäre wieder einmal davongekommen.«

»Panik«, sagte Dunn nachdenklich. »Es wäre in der Tat töricht, so etwas zu tun, doch wenn Fletcher in Panik geriet, könnte es so gewesen sein.«

»Ja, Sir. Letztendlich hätte mich sein Verhalten in Limehouse endgültig misstrauisch machen müssen«, fuhr ich fort. »Ich glaube, Adams wurde gierig und erwähnte auf die ein oder andere Weise, dass Fletcher nicht vergessen sollte, dass er ihm etwas schuldete. Er forderte ihn auf, seine Dankbarkeit in Form des ein oder anderen Geschenks zu demonstrieren, wahrscheinlich Geld. Vielleicht kam Fletcher auch zu der Erkenntnis, dass er Adams nicht trauen konnte und dass der Vorarbeiter sterben musste. Er arrangierte ein Treffen in Limehouse am Freitagabend. Fletcher ging verkleidet zu dem Treffen. Sie tranken gemeinsam. Fletcher hielt sich zurück und sorgte dafür, dass Adams reichlich Alkohol zu sich nahm. Vielleicht hat er ihm sogar ein Betäubungsmittel ins Bier geschüttet. Ich wünschte wirklich, Carmichael hätte diese verdammte Autopsie durchgeführt!

Wie dem auch sei, Adams wurde irgendwie in den Fluss gestoßen oder ist gestolpert oder gefallen, und entweder war er zu betrunken, um sich ans Ufer zu retten, oder Fletcher stand dabei und stieß ihn mit einer Stange oder einem Paddel immer wieder zurück und drückte ihn unter Wasser. Anschließend ging er im Vertrauen auf den Nebel, der an jenem Abend am Fluss herrschte, und auf die natürliche Neigung der Anwohner, den Blick von allem abzuwenden, was die Polizei in die Gegend bringen könnte, wieder nach Hause.

Er glaubte, er hätte sich des Mannes entledigt. Doch als er am nächsten Morgen zur Baustelle kam, stellte er zu seinem Entsetzen fest, dass ich dort war und nach Adams fragte. Als ich ihm sagte, dass ich beabsichtigte herauszufinden, warum Adams verschwunden war, und zu ihm nach Hause zu fahren, sah Fletcher sich in einer Zwickmühle. Er wollte nicht so bald nach Limehouse zurück, doch falls er sich mir nicht anschloss, würde er nicht erfahren, was ich herausfand. Also kam er mit. Im Nachhinein betrachtet war sein Verhalten mehr als eigenartig. Er jammerte unablässig und sorgte sich um seine Sicherheit; doch als wir dort angekommen waren, führte er mich durch die Straße und blieb zielsicher vor der Pension stehen, als wäre er schon häufiger dort gewesen. Er hielt sich das Taschentuch vors Gesicht, kaum dass die Wirtin uns öffnete, und behielt es die ganze Zeit über dort, angeblich wegen des Gestanks, der im Haus herrschte, doch in Wirklichkeit, weil er fürchtete, dass die Wirtin ihn trotz seiner Verkleidung am Vorabend wiedererkennen könnte. Aber mehr noch als das war es sein Verhalten gegenüber dem Bettler.«

»Bettler?«, fragte Dunn. »Was für ein Bettler?«

»Ein Krüppel, Sir. Ein selbsternannter ehemaliger Soldat, der angeblich König und Vaterland gedient hatte. Er wartete bei der Kutsche auf uns und bettelte Fletcher um Almosen an. Fletcher hatte zuvor sehr gezögert, Mrs Riley, der Wirtin von Adams, auf meine Bitte hin zwei Shilling zu geben, und beschwerte sich auf dem Rückweg zur Kutsche unablässig darüber. Doch dann kam der Bettler, und er gab ihm bereitwillig noch mehr Geld. Woher diese plötzliche Großzügigkeit? Dann fielen mir die Worte des Bettlers wieder ein …«, ich räusperte mich und rezitierte sie, so gut ich mich erinnerte. »›Sie sind ein feiner Gentleman, nicht wahr, Sir? Sie sind kein Polyp. Ich versuche doch nur, Leib und Seele beisammenzuhalten. Das verstehen Sie doch sicher, Sir, nicht wahr?‹«

»Ah«, sagte Dunn leise. »Sie glauben, dass der Bettler Fletcher entweder wiedererkannt hatte oder dass Fletcher mit seinem schlechten Gewissen fürchtete, es könnte so sein.«

»Genau das glaube ich, Sir.«

Dunn lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und legte die Fingerspitzen zusammen. Ich wartete ungeduldig. Endlich sprach der Superintendent wieder.

»Wir können ihn nicht auf bloße Mutmaßungen hin verhaften, ohne jegliche Beweise. Sie mögen durchaus Recht haben, Ross, doch Fletcher gehört zu der Sorte, die einen guten Anwalt haben, und wenn wir unsere Anklage nicht beweisen können, stecken wir nicht nur in Schwierigkeiten, sondern machen uns obendrein auch noch lächerlich!« Er fuhr sich mit einer Hand durch das widerborstige Haar. »Denken Sie nur an die Herren von der Presse!«, sagte er grimmig.

»Aber Sir …!«

»Langsam, Ross, langsam«, unterbrach Dunn mich freundlich, doch auf eine Weise, die mich innehalten ließ. »Sie sind ein äußerst vielversprechender junger Beamter, Ross, und ich möchte nicht, dass Sie die zweifellos exzellente Karriere, die noch vor Ihnen liegt, durch einen dummen und vor aller Augen sichtbaren Fehler ruinieren. Sie haben Ihren gegenwärtigen Rang in jungen Jahren erreicht, und ich würde gerne sehen, wie Sie noch weiter aufsteigen. Also hören Sie mir zu. Es gibt mehr als eine Art, eine Katze zu häuten. Nach dem, was Sie mir über den Zwischenfall mit Constable Biddle erzählt haben, gerät Fletcher bei jeder unerwarteten Entwicklung leicht in Panik. Gehen Sie, finden Sie Fletcher, und bitten Sie ihn höflich, aber bestimmt, sofort zum Scotland Yard zu kommen, weil wir mit ihm über den Fall sprechen möchten. Er mag Verdacht schöpfen, doch er wird sich nicht weigern. Schließlich war er beinahe täglich aus freien Stücken hier, um uns das Leben schwer zu machen. Es würde sehr merkwürdig aussehen, sollte er sich jetzt weigern. Sobald wir ihn hier haben, fangen wir damit an, ihn über Adams’ Verschwinden zu befragen, über die Gewohnheiten des Mannes und vor allem darüber, in welcher Beziehung Fletcher zu ihm stand. Wie lange hat er ihn schon gekannt? Hat er sich je außerhalb der Arbeit mit ihm getroffen? Sobald wir ihn richtig nervös gemacht haben, wenden wir uns Mrs Parry zu und erkundigen uns, wie gut er mit ihr bekannt ist und wie häufig er sie am Dorset Square besucht hat. Warum hat er das uns gegenüber nie erwähnt? Ist er sicher, dass er der Toten dort nie begegnet ist? Er weiß, dass wir in einer Position sind, seine Aussagen bei Mrs Parry zu überprüfen. Wenn er zugibt, dass er sie kannte, fragen wir ihn, warum er nichts gesagt hat. Hat er ihren Leichnam nicht erkannt? Sie war nicht so entstellt, als dass man sie nicht mehr hätte erkennen können. Hat er gewusst, dass Mrs Parry ihre Gesellschafterin bei der Polizei als vermisst gemeldet hat? Entweder wird er an dieser Stelle die Fassung verlieren und brechen, oder er wird halsstarrig an seinen bisherigen Aussagen festhalten und uns möglicherweise sogar mit seinem Anwalt drohen, in der Hoffnung, dass wir ihn gehen lassen. Wir halten Männer bereit, die ihn beschatten, weil er, merken Sie sich meine Worte …« Bei diesen Worten beugte sich Dunn mit einem wölfischen Grinsen vor. »… weil er die Hosen voll hat, und ich glaube, wenn er schuldig ist, wird er versuchen zu fliehen. Und dann haben wir ihn!«

»Das ist sehr riskant, Sir!«, wagte ich zu protestieren.

Dunn schüttelte den zerzausten Schopf. »Nein, nein. Er wird fliehen wollen. Ich bin ein alter Hase, Ross, und ich erlebe das nicht zum ersten Mal. Er hat darauf gesetzt, dass wir nie auf den Gedanken kommen würden, ihn für den Mörder zu halten. Doch genauso, wie er die Worte dieses Bettlers in Limehouse dahingehend interpretiert hat, dass er erkannt worden ist, und Constable Biddles Neugier dahin, dass der Junge irgendwas unten im Keller gesehen hat, wird er unsere Worte dahingehend deuten, dass wir ihn im Visier haben. Er wird versuchen, seine Haut zu retten. Ich denke, das ist unsere einzige Chance, ihn zu fassen – wir müssen ihn genügend verängstigen, sodass er die Nerven verliert und versucht zu fliehen.«

Dunn lehnte sich wieder auf seinem Stuhl zurück. »Nun, Mr Ross, worauf warten Sie noch? Sie sollten sich besser auf den Weg machen und diesen Fletcher suchen. Und sagen Sie ihm, dass wir ihn ganz dringend hier im Scotland Yard zu sprechen wünschen.«  

Elizabeth Martin

Ich wäre wahrscheinlich mit dem Kopf zuerst aufgeschlagen und hätte mir sicherlich ein paar Knochen, wenn nicht sogar den Hals gebrochen, doch meine Hand, die in der leeren Luft ruderte, schlug gegen ein wackliges Geländer. Ich packte es mit der Verzweiflung eines ertrinkenden Mannes, der nach einem schwimmenden Stück Holz greift, und das rettete mich. Hinter und über mir wurde die Tür zugeschlagen, und ich hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte. Ich blieb in der Dunkelheit zurück und hielt mich an dem wackligen Geländer fest. Langsam lösten sich meine schwitzenden Finger, und ich sank auf die Stufen, wo ich sitzend nach Atem rang, in dem Bewusstsein, dass ich nur noch sehr wenig Zeit hatte.

Fletcher würde draußen im Nebel nach meiner Handtasche suchen. Mit ein wenig Glück würde es eine Weile dauern. Doch wenn das Glück auf Fletchers Seite war, würde er gleich zu Anfang über sie stolpern, und dann würde er sehen, dass das Tagebuch nicht in ihr war, und erkennen, dass ich ihn belogen hatte. Ich hatte das Tagebuch, und es war noch immer an meiner Person. Er würde zurückkommen, wütend über mein Täuschungsmanöver, und mein Schicksal wäre besiegelt.

Allmählich gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit, und ich stellte fest, dass sie nicht so vollkommen war, wie ich geglaubt hatte. Ein Lichtschimmer fiel von irgendwo herein, und ich konnte die Umrisse des Kellers unter mir erkennen. Vorsichtig stieg ich die restlichen Stufen nach unten, und ich sah, dass das Licht durch eine rechteckige Öffnung hoch über meinem Kopf kam und offensichtlich ein Kellerfenster war. Wie sollte ich es erreichen? Und falls ich es schaffte, konnte ich mich auch hindurchzwängen? Ich bewegte mich vorwärts und war noch keinen Schritt weit gekommen, als ich über etwas stolperte und nach vorne fiel. Ich riss die Hände hoch, um mich zu schützen.

Ich landete schmerzhaft und leicht schräg. Mein Sturz war von etwas aufgefangen worden, das sich anfühlte wie ein Berg Steine. Ich lag auf diesem Berg, und meine tastenden Finger entdeckten die verschiedensten Umrisse, einige größer, andere kleiner, von unregelmäßiger Form, doch mit glatter Oberfläche. Staub war von meinem Sturz aufgewirbelt worden und füllte meine Nase nun mit einem vertrauten Geruch. Kohle!

Jetzt wusste ich, was für eine Öffnung das war! Es war der Zugang zur Kohlenschütte, durch welche der Brennstoff ins Haus gebracht wurde. Wenn es mir gelang, dort hinaufzuklettern, war ich zwar vielleicht nicht imstande, nach draußen zu gelangen, aber wenigstens würde ich einen Passanten mit meinen Hilferufen alarmieren können. Aber andererseits … waren bei diesem grauenvollen Wetter überhaupt Fußgänger unterwegs? Oder war Fletcher der einzige Mensch draußen und rannte auf der Suche nach meiner Handtasche die Straße hinauf und hinunter? Und wenn es andere gab, würden sie meine Schreie hören, obwohl der Nebel jedes Geräusch verschluckte, und falls ja, würden sie herausfinden, woher die Rufe kamen?

Die Chancen standen für mich nicht gut, doch ich musste es riskieren. Zuerst musste ich mir jedoch Gedanken über das Tagebuch von Madeleine machen. Fletcher durfte es auf keinen Fall in die Finger bekommen.

Ich nahm es aus der Tasche und ging zu der Wand, wo der Kohlenberg lag, um es im hinteren Bereich des Haufens tief zwischen die Klumpen zu schieben. Dann bereitete ich mich auf meinen Kletterversuch vor.

Mein Rock würde meine Anstrengungen hoffnungslos behindern. Jetzt war nicht die Zeit für Sittsamkeit. So schnell ich konnte, stieg ich aus meinem Kleid, dem Petticoat und dem Korsett, wobei ich mir in der Eile mehr als nur einen Knopf und zahlreiche Haken abriss, die in die Dunkelheit sprangen und verschwanden. Endlich war ich bis auf Unterhose und Unterkleid ausgezogen und bereit, den Aufstieg zu wagen.

Zuerst hatte ich keinen Erfolg, weil die Kohle unter meinen Füßen immer wieder nachgab und ich wieder hinunterrutschte. Bald schwitzte ich und war den Tränen nahe vor Frust. Kohlenstaub stieg in dicken Wolken auf und füllte meine Nase und meine Lunge. Ich hustete und spuckte, und als ich mit aufgerissenem Mund nach Atem rang und sich der Staub auch noch auf meine Zunge und meinen Gaumen legte, würgte ich so lange, bis mein Mund vollkommen trocken war und ich selbst das nicht mehr konnte. Ich war am ganzen Leib zerschrammt von Kohlenbrocken und hatte mein Versagen vor Augen. Die Zeit und meine Kraft gingen mir aus.

Nachdem ich zum dritten Mal schändlich wieder zurückgerutscht war, setzte ich mich hin und zwang mich, über eine andere Strategie nachzudenken. Was, wenn ich wie ein Krebs auf allen vieren und seitwärts nach oben kletterte? Wäre mein Körpergewicht auf diese Weise nicht besser verteilt? Ich unternahm einen neuen Versuch, diesmal jedoch nicht direkt unter der Schüttöffnung. Stattdessen arbeitete ich mich von der Seite her nach oben. Kleinere Brocken lösten sich von dem Haufen und kullerten nach unten, und größere folgten ihnen mit ohrenbetäubendem Klappern, doch die Hauptmasse des Kohlenbergs blieb diesmal glücklicherweise stabil.

Trotzdem kam ich nur furchtbar langsam voran. Sicher war Fletcher jeden Moment zurück! Das Licht kam näher. Neben der Kohle konnte ich inzwischen auch den Nebel riechen. Die Luft war feucht. Endlich hatte ich die Spitze des Bergs erreicht! Oder wenigstens war ich so weit oben, wie es nur ging, mit genügend Kohle unter mir, um mich zu tragen. Die Schüttöffnung war eine Art Rinne im Pflaster, offen für die Luft, doch zu meiner Bestürzung mit einem stabilen Metallgitter verschlossen.

Ich drückte dagegen, aber es rührte sich nicht. Also packte ich es und benutzte es, um mich nach oben in die Rinne zu ziehen. Ich hielt mich mit einer Hand fest und schob die andere durch das Gitter nach draußen. Doch welche Chance hatte ich schon, dass irgendein Passant in diesem dichten Nebel meine winkende Hand unten am Boden sehen würde?

Ich saß voller Verzweiflung dort und klammerte mich am Gitter fest, um nicht zurück auf den Kohlenhaufen und von dort aus weiter zum Kellerboden zu rutschen. Wenn Fletcher zurückkam und die Handtasche, aber kein Tagebuch darin gefunden hatte, würde er mich zu zwingen versuchen, ihm zu verraten, wo es war. Vielleicht konnte ich ihn davon überzeugen, dass es doch im Haus von Tante Parry am Dorset Square lag? Oder würde er erraten, dass ich es unter dem Kohlenberg versteckt hatte? Wie dem auch sei, er würde sicher außer sich vor Wut sein.

Plötzlich hörte ich das Geräusch von Schritten über meinem Kopf auf der Straße. Er kam zurück!

Aber nein, es waren mehr als ein Paar Füße, das sich dem Haus näherte! Es waren andere Passanten dort oben unterwegs, trotz des Wetters!

»Hilfe!«, brüllte ich, so laut ich konnte, durch das Gitter. »Helfen Sie mir! Ich bin im Keller eingesperrt! Hilfe!«

Die Schritte stockten. Eine Männerstimme, verzerrt und gedämpft vom Nebel, rief etwas, das wie eine Frage klang.

Ein anderer Mann antwortete: »Ja, Sir …« und dann einige Worte, die ich nicht verstehen konnte.

Ich brüllte erneut verzweifelt um Hilfe. Meine Kehle war heiser von der Anstrengung, und meine Stimme versagte. Ich musste husten.

Die Schritte näherten sich rasch. Dann waren sie über mir.

»Hier unten!«, krächzte ich. »Ich bin hier unten!« Ich schob meine Hand durch das Gitter nach draußen.

Zu meiner unbeschreiblichen Erleichterung hörte der Mann mich diesmal und fand auch die Stelle, wo ich meine Hand nach oben streckte.

Er musste sich auf den Bürgersteig gekniet und das Gesicht auf das Gitter gepresst haben, denn plötzlich war seine Stimme ganz nah an meinem Ohr.

»Wer sind Sie?«

Die Stimme klang vertraut, doch ich hatte nicht die Zeit darüber nachzudenken, wem sie gehörte. »Oh, Sir!«, ächzte ich. »Mein Name ist Elizabeth Martin, und ich werde gegen meinen Willen in diesem Keller gefangen gehalten! Der Hausbesitzer kehrt gleich zurück und …«

»Oh mein Gott, Lizzie! Sind Sie das wirklich?«, rief die Stimme, und ich wusste, dass sie Ben Ross gehörte. »Wie zum Teufel sind Sie denn in diesen Keller gekommen? Sind Sie verletzt?«

Meine kalte Hand, die ich durch das Gitter streckte, wurde von einer starken Männerhand gepackt, die Wärme und neues Leben durch meine Adern sandte.

»Oh, Ben«, weinte ich los. »Sie sind keine Fata Morgana, Sie sind es wirklich!« Ein Gefühl von unendlicher Erleichterung breitete sich in mir aus. Ben ist da, dachte ich, jetzt wird alles wieder gut. Doch eine Sekunde später wich der Gedanke neuer Nervosität und Angst. Ben war da, doch der mörderische, verzweifelte Fletcher war ebenfalls noch dort draußen … Zu meiner Angst um mich selbst kam nun die Angst um Ross hinzu. Vielleicht schlich sich Fletcher in diesem Moment von hinten durch den Nebel an ihn heran …

Ben rüttelte mit der freien Hand heftig an dem Gitter, und ich hörte, wie er seinem Begleiter etwas zurief. »Morris, kommen Sie her! Helfen Sie mir! Verdammt, dieses Ding ist verschlossen!«

»Er ist irgendwo dort draußen, Ben!«, rief ich nach oben. »Jetzt ist keine Zeit, um mich zu befreien oder zu erklären, wie ich hierhergekommen bin! Sie müssen aufpassen! Fletcher ist der Mörder! Er ist der Mann, den Sie suchen!«

»Ich weiß, Lizzie, ich weiß«, antwortete Ben grimmig. »Hat dieser Mistkerl Ihnen etwas angetan, Lizzie? Falls ja, dann schwöre ich …«

»Nein, nein, er hat mich nur eingesperrt, das ist alles.«

Unter mir geriet der Kohlenhaufen in Bewegung und verdichtete sich. Ich glitt nach unten, und hätte Ross nicht meine Hand gepackt, wäre ich noch weiter gerutscht. Seine Finger umschlossen die meinen und zerrten mich wieder nach oben zum Gitter. Mein Arm schmerzte, wie seiner inzwischen sicherlich auch, und bald würde ich nicht mehr imstande sein, mich festzuhalten oder er mich.

»Er sucht Madeleines Tagebuch!«, ächzte ich. »Ich habe es gefunden und war unterwegs zu Ihnen, um es Ihnen zu bringen! Er wird es nicht finden, weil es nicht in meiner Handtasche ist! Ich habe ihm gesagt, es wäre dort drin, und habe sie im Nebel weggeworfen! Das Tagebuch ist in Sicherheit. Ich habe es hier im Kohlenhaufen versteckt! Ben, was auch immer passiert, Sie müssen das Tagebuch im Kohlenhaufen suchen!«

»Lizzie, nur Mut! Wir holen Sie da ganz schnell raus!«, antwortete er. »Sergeant Morris ist bei mir, und wir brechen die Tür auf.«

»Ich kann warten!«, rief ich zurück. »Jetzt, da ich weiß, dass Sie hier sind. Sie müssen Fletcher fassen, Ben! Er ist gefährlich! Seien Sie vorsichtig!«

»Ich weiß. Ich hätte es von Anfang an wissen müssen! Wo ist er? Auf der Straße, sagen Sie? Ich kann nichts sehen in diesem verdammten Nebel.«

»Er ist sicher bald zurück«, rief ich nach oben.

»Lizzie!« Ross’ Stimme wurde noch drängender. »Morris und ich werden uns in der Nähe der Vordertür verstecken und ihn schnappen, sobald er ins Haus zurückkehren will. Warten Sie hier.«

Aufmunternd drückte er ein letztes Mal meine Hand, dann ließ er mich los. Ich hörte, wie er sich erhob und sich gemeinsam mit Morris entfernte.

Ich wusste, dass sie mich nicht im Stich lassen würden, und doch fühlte ich einen Teil meiner früheren Verzweiflung zurückkehren, kaum dass ich wieder allein war. Ich hatte meine gesamte Kraft verausgabt. Ich konnte mich nicht mehr am Gitter festhalten. Die Kohle unter mir geriet ins Rutschen. Ich stieß einen unkontrollierten Schrei aus und schlitterte inmitten einer Kaskade von Brocken zum Kellerboden zurück. Ich wurde am ganzen Leib von kleinen und großen Kohlestückchen getroffen, und Staub füllte meine Nase und meinen Mund. Ich war halb betäubt, als ich auf dem Boden ankam.

Ich war kaum wieder bei Sinnen und auf den Beinen, als ich oben auf der Straße Geräusche vernahm. Stimmen gerieten in einen heftigen Streit. Es gab eine Rauferei, und dann ertönte eine durchdringende Polizeipfeife, ohne Zweifel die des tapferen Sergeant Morris.

Die Rauferei ging noch ein paar Sekunden weiter, bis ich schließlich wieder die Stimme von Ben Ross oben am Gitter vernahm.

»Lizzie, alles in Ordnung? Wo sind Sie?«

»Hier unten!«, rief ich zu ihm hinauf. »Ich bin abgerutscht und wieder auf dem Fußboden. Haben Sie Fletcher geschnappt?«

»Oh ja, das haben wir«, sagte Ross mit zufriedener Stimme. »Wir haben ihn. Warten Sie noch ein paar Minuten, und wir holen Sie da raus.«

Erleichterung überschwemmte mich, und meine Knie gaben nach. Ich sank zu Boden. Nach einer kurzen Weile ertönte eine Serie heftiger Schläge oben an der Tür zur Kellertreppe, und dann flog sie auf. Eine Männergestalt stand in der Öffnung und polterte die Treppe hinunter.

»Lizzie! Lizzie! Wo zum Teufel stecken Sie? Sind Sie verletzt?« Ross kam atemlos unten in meiner Zelle an.

Es gelang mir, mich aufzurappeln. Ich rannte ihm entgegen. »Ich bin einigermaßen unverletzt. Ich … ah, ich bin ja so froh, Sie zu sehen!«

Ich streckte ihm die Hände entgegen, und er nahm sie und drückte sie fest, während er sie zu sich zog und ich mich an seiner Brust wiederfand.

»Sie können sich gar nicht vorstellen, wie überglücklich ich bin, Sie gefunden zu haben, Lizzie! Der Gedanke, vielleicht nicht rechtzeitig hier zu sein, und dass Sie in der Hand dieser Bestie waren! Aber durch puren Zufall und Biddles Geschichte … Nein, der Gedanke ist unerträglich! Sie sind in Sicherheit, und das ist alles, was zählt.«

»Oh, Ben«, murmelte ich in seinen Mantel.

»Sir?«, rief Morris von oben herab. »Ist alles in Ordnung dort unten, Sir? Ist die Lady in Sicherheit?«

»Ja, Gott sei Dank!«, rief Ben nach oben.

Unsere gemeinsame Reaktion auf das Eintreffen einer dritten Partei war, dass wir uns blitzartig voneinander lösten. Ross blickte über die Schulter in Richtung der Stelle, von der die Stimme des Sergeants gekommen war, zögerte und sah mich rasch an. »Hören Sie, Lizzie, dürfte ich vorschlagen, dass Sie sich wieder anziehen, bevor jemand anders hier herunterkommt?«