KAPITEL SECHS
Nachdem Inspector Ross gegangen war, dauerte es noch eine ganze Weile, bevor Tante Parry, die zwei volle Gläser Madeira getrunken hatte, sich in ihr Schlafzimmer zurückzog, um sich hinzulegen und von Nugent mit einer Cologne-Kompresse massieren zu lassen. Zuvor jedoch erklärte sie sich in großer Länge und mit Nachdruck bezüglich des Themas Madeleine Hexham.
Es tat ihr selbstverständlich leid zu erfahren, dass sie so ein furchtbares Ende genommen hatte, doch was sollte man anderes erwarten? Dr. Tibbett hatte von Anfang an Recht gehabt. Das Mädchen war in schlechte Gesellschaft geraten und hatte bekommen, was es verdiente. Was würde nur Mrs Belling sagen? Sie würde höchst verlegen reagieren und – was sonst? – ihrer Freundin in Durham die Schuld dafür geben, welche Madeleine auf Mrs Bellings Bitten im Namen ihrer Freundin Mrs Parry hin gesucht, gefunden und nach London geschickt hatte. Mrs Bellings Freundin hatte eine sehr schlechte Menschenkenntnis an den Tag gelegt, indem sie diese Person empfohlen hatte. Allein der Gedanke, dass sie, Tante Parry, dieses Mädchen unter ihrem Dach aufgenommen und dass sie ihr jede Freundlichkeit erwiesen hatte …! Nein, kein Zweifel, die Dame in Durham würde ihrerseits Tante Parry sämtliche Schuld zuweisen, um ihre eigenen Fehler zu überdecken, weil sie kein strengeres Auge auf Madeleine gehabt hatte.
Was Tante Parry nicht sagte, ich mir aber dachte, war, dass ihr Erguss mich sehr an die ›Reise nach Jerusalem‹ erinnerte, die Kinder so gerne auf Feierlichkeiten spielen. Jeder sucht einen Platz, und keiner will überrascht werden, wenn der Pianist plötzlich aufhört zu spielen. Jetzt hatte die Musik für die arme Madeleine angehalten, und alle, die sie gekannt hatten, stürzten sich auf den nächsten freien Stuhl.
Schließlich erhob sich Tante Parry aus ihrem Sessel. »Ich hoffe nur, du wirst mir nie so viel Kummer bereiten, Elizabeth«, ermahnte sie mich.
»Nein, bestimmt nicht, Tante Parry«, versicherte ich ihr und spürte, wie ich bei meinen Worten errötete. Ich mochte es nicht, wenn man mich vor etwas warnte, das ich gar nicht zu unternehmen vorhatte. Als wäre ich so hohlköpfig, mit einem Bewunderer durchzubrennen, der es so wichtig fand, seine Identität geheim zu halten, dass keine Menschenseele sein Gesicht kannte!
Nachdem ich diesen Gedanken gedacht hatte, schalt ich mich sogleich innerlich dafür, dass ich in die Falle getappt war. Auch ich hatte damit Madeleine selbst die Schuld an ihrem Unglück gegeben. Wer auch immer der Mann gewesen sein mochte, er hatte die Gabe besessen, sie zu überzeugen. Madeleine hatte ihm geglaubt. Wie sollte ich von vornherein ausschließen können, dass ich in ihrer Situation nicht ähnlich gehandelt hätte? Trotzdem, ich wollte gerne glauben, dass ich scharfsinnig genug war, um einen Schwindler zu entlarven.
Tante Parrys Gesichtsausdruck war milder geworden, und sie tätschelte meinen Arm. »Aber du bist Josiahs Patenkind, und dein Papa war ein ehrbarer Mann, ein Arzt und Heiler obendrein. Die Umstände sind ganz andere. Nun, dies ist uns allen eine Lektion, denke ich.«
Nachdem sie gegangen war, zog ich mich fluchtartig in den Schutz meiner eigenen Kammer zurück und setzte mich hin, um das Gewirr von Gedanken zu entflechten, die sich in meinem Schädel gegenseitig jagten. Madeleines Tod hatte dazu geführt, dass ich eine eigenartige Begegnung gehabt hatte. Natürlich hatte ich ihn nicht wiedererkannt. Wie auch? Alles lag mehr als zwanzig Jahre zurück, und wir waren beide Kinder gewesen. Doch ich erinnerte mich an die Ereignisse und die Umstände unserer ersten Begegnung, als läge sie nicht länger als eine Woche zurück.
Der Vorfrühling in jenem Jahr damals war kalt und feucht gewesen. Im Laufe der Nacht hatte es stark geregnet, wenn ich mich recht entsann, und der Lärm der gegen das Glas meiner Scheibe prasselnden Tropfen hatte mich vom Einschlafen abgehalten, während ich mit der Decke bis über beide Ohren in meinem Bettchen gelegen hatte. Endlich war ich in einen unruhigen Schlaf gefallen, nur um kurze Zeit später von dem schweren Messingtürklopfer in Form eines Fuchskopfs wieder geweckt zu werden, der ungeduldig an unsere Haustür hämmerte, gefolgt von drängenden Faustschlägen auf die Holzpaneele.
Ich setzte mich im Bett auf und glaubte zuerst, es wäre Donner. Doch dann hörte ich eine Stimme unten rufen: »Doktor! Doktor Martin! Bitte, kommen Sie schnell, Sir! Sie werden gebraucht!«
Ich krabbelte aus dem Bett und auf den Fenstersims und spähte nach draußen. Mein Kinderzimmer lag ganz oben in unserem Haus, einem alten, schmalen Gebäude, in dem die Zimmer übereinandergestapelt waren wie Bauklötze. Es war kurz vor Einbruch der Morgendämmerung, und tief unten konnte ich das schwankende Licht einer Laterne im Zwielicht erkennen, die einen winzigen Kreis in ihr gelbes Licht tauchte. Eine undeutliche Gestalt hielt die Laterne. Ich hatte keine Angst, weil diese Art von frühmorgendlichen oder nächtlichen Besuchen nicht selten vorkam. Mein Vater war der beliebteste Arzt in der Gemeinde. Der andere war der alte Dr. Fray, und von ihm war allseits bekannt, dass er nie vor dem Frühstück nach draußen kam, nicht einmal für einen Notfall – es sei denn, die Oberschicht war betroffen. Zusätzlich war mein Vater der gerichtlich bestellte Leichenbeschauer und wurde zu allen möglichen Fällen hinzugezogen. Ein Bote in den frühen Morgenstunden brachte meist Nachricht von einem bereits leblosen Opfer einer Schlägerei in einem Bierlokal oder einem toten Vagabunden, der am Straßenrand gefunden worden war, und selten die Kunde von den medizinischen Bedürfnissen einer schwangeren Frau, die in den letzten Wehen lag. Mit meinen kaum acht Jahren war ich mir dessen bereits sehr deutlich bewusst.
Wenn ich als ein etwas altkluges Kind erscheine, dann liegt das daran, dass ich eines war. Meine Mutter war gestorben, als ich drei gewesen war, und seither war ich in der gemeinsamen Obhut meines Vaters, unserer Haushälterin Mary Newling und meines Kindermädchens Molly Darby aufgewachsen, einem molligen, gleichgültigen, jungen Ding. Ich war schon immer durch unser Haus gestreift, die schmalen Stufen hinauf und hinunter, und hatte mich in den zahlreichen Winkeln und Erkern versteckt. Den größten Teil der Zeit war ich unbemerkt geblieben und ohne Aufsicht. Auf diese Weise hatte ich Unterhaltungen belauscht, die nicht für meine Ohren gedacht gewesen waren, und Informationen erlangt, die ganz und gar nicht für eine Person meines zarten Alters geeignet waren.
Also bestand keine Gefahr, dass jemand kommen und mich in mein Bett zurückschicken würde. Ich konnte hören, wie Molly in ihrem Bett auf der anderen Seite des Treppenabsatzes friedlich vor sich hin schnarchte. Der Besucher hätte die Haustür einschlagen können, und sie hätte nicht einmal gezuckt.
Ich mühte mich ab, das Fenster nach oben zu schieben, doch meine Arme waren zu kurz, und es gelang mir nur, es kaum einen Zoll breit zu öffnen. Das Grau der frühen Dämmerung kroch bereits über die Gipfel der Berge am Horizont, und durch den Spalt im Schiebefenster hörte ich die Stimmen, die in der kühlen, frischen Luft klar und deutlich zu verstehen waren. Mein Vater war nach unten gegangen, um die Tür zu öffnen, und unterhielt sich mit jemandem. Ich hörte ihn sagen: »Ich komme sofort. Laufen Sie schon mal nach hinten, bitte, und sagen Sie dem Stallburschen, dass er das Pony vor den Einspänner spannen soll?«
In diesem Augenblick ritt mich ein kleiner Teufel. Kein großer, böser, nur ein winziger Kobold, der um diese frühe Stunde die Daumen drehte und nichts Besseres zu tun hatte. Ich beschloss, dass ich meinen Vater begleiten würde. Das würde aufregend werden. Alllerdings würde es überhaupt nicht zur Diskussion stehen, falls ich fragte; also würde ich nicht fragen. Ich wusste, dass der Stallbursche einige Minuten benötigen würde, um das Pony ins Geschirr zu spannen, das noch neu und unvertraut und als Ersatz für unser altes Tier gekauft worden war. Das alte war eine Mähre gewesen, die nichts dagegen gehabt hatte, wenn kleine Mädchen auf ihren Rücken geklettert waren, und die aus freien Stücken rückwärts zwischen die Deichsel getreten war. Doch sie war zu alt geworden, und Vater hatte sie auf eine hübsche Farm geschickt, wo sie ihr Gnadenbrot bekam – oder jedenfalls hatte er mir das erzählt. Insgeheim wusste ich, dass das nicht stimmte und dass das Tier zum Pferdemetzger gegangen war. Trotzdem, ich wollte meinem Vater kein Unbehagen bereiten, indem ich ihn wissen ließ, dass ich schockiert und wütend war; also hatte ich so getan, als würde ich seine gut gemeinte Lüge glauben.
Ich hatte mich damals kurz gefragt, ob es stimmte, dass wir nach dem Tod in den Himmel kamen, oder ob auch wir Menschen zu irgendwas wie einem Pferdemetzger gebracht wurden, und ich tadelte mich auf der Stelle, weil der Himmel in der Bibel stand. Ich hatte Beerdigungen beigewohnt und wusste, dass es ernste und feierliche Angelegenheiten waren, bei denen viel und inbrünstig über die Hoffnung auf Wiederauferstehung und ewiges Leben geredet wurde. Leider stand in der Heiligen Schrift nichts über Ponys.
Ich hatte genickt und gesagt, dass ich hoffte, der Bauer würde dem Pony manchmal Karotten zu fressen geben, weil es sie so sehr gemocht hatte. Mein Vater war sehr erleichtert gewesen, dass ich nicht in Tränen ausgebrochen war, und sagte ja, er wäre sicher, der Bauer würde dem Tier Karotten geben. Es war ein frühes Beispiel in meinem Leben, das mir zeigte, wie Menschen wider besseres Wissen eine Lüge akzeptierten, weil die nackte Wahrheit viel zu widerwärtig ist. Als ich älter wurde, sah und begriff ich, wie häufig das der Fall ist. Der Fall der Karotten war außerdem ein mahnendes Beispiel dafür, wie man, sobald man anfängt, eine Lüge zu erzählen, gezwungen ist, diese immer weiter auszuschmücken. Und bevor man sich versieht, ist das Ganze zu einem richtigen Ärgernis geworden.
In diesem Augenblick jedoch war ich nur damit beschäftigt gewesen, möglichst schnell in meine Kleider zu schlüpfen. Anziehen war eine komplizierte Angelegenheit, und normalerweise hatte ich die Hilfe von Molly. Natürlich konnte ich Molly unmöglich rufen. Es gelang mir, meine Schlüpfer und einen Petticoat anzulegen sowie ein Kleid, doch Molly hatte meine Stiefel mitgenommen, um sie sauberzumachen; also schob ich die nackten Füße in ein paar völlig ungeeignete Morgenschuhe aus Satin, wickelte mir einen gehäkelten Wollschal um die Schultern und eilte die Hintertreppe hinunter.
Nun stand ich vor dem Problem, das Haus zu verlassen. Die Vordertür war entriegelt worden, zugegeben, doch es war riskant, diesen Weg zu nehmen. Ich konnte zu leicht entdeckt werden. Die Hintertür würde noch versperrt sein, und ich wusste, dass meine Finger nicht kräftig genug waren, um den schweren Riegel zurückzuziehen. Als ich am Fuß der Treppe angekommen war, hörte ich ein klapperndes Geräusch aus der Küche auf der Rückseite des Hauses. Irgendjemand stand im Begriff, mir die Arbeit abzunehmen. Ich spähte durch die Tür und sah, dass Mary Newling von dem Tumult wach geworden war und die Tür öffnete. Sie bot einen beeindruckenden Anblick in ihrem voluminösen Nachtgewand mit dem Plaid-Tuch über den Schultern, das Haar ein Wald von verknoteten Stofffetzen. Diese lenkten mich für den Augenblick ab, und ich fragte mich, warum sie versuchte, sich Locken ins Haar zu machen, wo sie es doch normalerweise unter einer Haube verborgen trug.
Sie zerrte die Tür auf und rief in den Hof hinaus: »Was ist passiert?«
»Der Doktor wird in der Grube gebraucht!«, antwortete eine Stimme aus dem Dunkel.
»Gütiger Gott!«, rief Mary. »Hat es eine Explosion oder einen Einsturz gegeben?«
»Weder noch, Missus. Sie haben nur einen Toten gefunden.«
Nur einen Toten? Selbst ich begriff, dass er damit meinte, es hätte nur einen einzigen Toten gegeben. Wenn die Stützen in den Minen nachgaben oder das Schlagwetter sich entzündete und zu einer Staubexplosion führte, kamen die Leichen im Dutzend nach oben – falls sie überhaupt je geborgen wurden. Die meisten Männer arbeiteten noch immer mit traditionellen Lampen und offenem Feuer. Molly Darby hatte meine kindliche Phantasie zum Frösteln gebracht mit Schauergeschichten von Männern, Frauen und Kindern, die in den Kohlenflözen begraben waren, wo sie gearbeitet hatten. Mollys Vater und ihre drei Brüder arbeiteten in der Grube, und ihre eigene Mutter war in jungen Jahren mit schweren Körben voll Kohle auf dem Rücken durch die engen Passagen gekrochen, bis sie nach einem Unfall gelähmt gewesen war. Es war Molly, die mir die Ironie erklärte, dass, nachdem die Sicherheitslampe von Sir Humphrey Davy erfunden worden und in allgemeinem Gebrauch war, die Männer gezwungen worden waren, in noch tieferen und noch gefährlicheren Tunneln zu arbeiten.
Obwohl unsere Gemeinde eine kleine Minenstadt im Kohlerevier von Derbyshire war, sahen wir die Bergleute selbst nur selten in der Stadt. Sie und ihre Familien lebten in eigenen Siedlungen, beengten Zweckbauten in der Nähe der Gruben, die Molly mir einmal genauer beschrieben hatte. Wenn sich eine Person im Bett umdrehte, erklärte sie fröhlich, dann fiel der Bursche im Haus nebenan hinaus! Hinter jedem Haus stand ein Schweinestall, und der sorgfältig gemästete Bewohner wurde zu Beginn des Winters geschlachtet. Sein haltbar gemachtes Fleisch bildete bis zum nächsten Frühling den Großteil der Nahrung der Familie. Die Bergleute mussten ihre Lebensmittel nach dem Willen ihrer Arbeitgeber in einem eigenen Laden bei der Mine einkaufen und zahlten dort mit Gutscheinen, die in anderen Geschäften der Stadt nicht akzeptiert wurden. Diese Gutscheine hatten den Spitznamen ›Truck‹, erzählte Molly und fügte hinzu: »Das hindert die Arbeiter daran, ihren Lohn in den Pubs zu vertrinken.« Gleichzeitig verstärkte es die Isolation der Familien von den übrigen Bewohnern der Stadt, die ihrerseits keine Veranlassung hatten, die Bergarbeitersiedlungen zu besuchen.
Als Ergebnis war eine Art abergläubischer Ehrfurcht entstanden. Bergleute galten als zähe und genügsame Spezies, nicht ganz Mensch, ausgestattet mit geheimnisvollen Kräften und unverwüstlich, die tief in die Erde hinunterstiegen zu Orten, an denen sich die meisten Menschen zu Tode gefürchtet hätten. Mary Newling seufzte von Zeit zu Zeit, wenn die Unterhaltung auf die Gruben zu sprechen kam, und äußerte ihre Meinung, dass es ein gefährliches Leben war und niemand gezwungen werden sollte, seinen Lebensunterhalt damit zu verdienen, wie ein Maulwurf in ewiger Dunkelheit umherzukriechen.
Diesen Worten folgten im Allgemeinen ein Grollen über die Preise von guter Kohle für den Wohnzimmerkamin und böse Kommentare darüber, dass einer der örtlichen Minenbosse sich soeben von seinen Gewinnen ein Herrenhaus hatte bauen lassen.
Mary hatte die Anstellung von Molly Darby als mein Kindermädchen nicht gutgeheißen. Mein Vater hatte es dennoch getan in dem Bemühen, der Familie Darby zu helfen. »Der Doktor lässt sich von seinem guten Herzen zu Entscheidungen verleiten, die sein gesunder Menschenverstand nicht zulassen würde!«, schniefte Mary. »Und das nicht zum ersten Mal! Merke dir meine Worte, Kind, es wird auch nicht das letzte Mal sein!«
All das hatte zur Folge, dass ich unbedingt eine Mine mit eigenen Augen sehen wollte, einen jener verbotenen Orte. Nicht, um in die Dunkelheit hinunterzusteigen – so weit ging es dann doch nicht –, aber gewiss, um sie von oben zu sehen. Ich mochte die Dunkelheit nicht besonders und war stets froh, wenn ich des Nachts Mollys Schnarchen auf der anderen Seite der Treppe hörte. Trotzdem war ich entschlossener denn je, mich in den Einspänner zu schmuggeln. Mary hatte sich von der Hintertür abgewandt und sie wieder geschlossen, ohne sie erneut zu verriegeln. Ich versteckte mich in einer Nische, als sie vor sich hin murmelnd an mir vorbeistampfte und die Treppe hinaufstieg. Sie begegnete meinem Vater, der auf dem Weg nach unten war, und die beiden unterhielten sich kurz. Das war meine Chance.
Ich rannte durch die Küche, öffnete die Tür einen Spaltbreit und drückte mich hindurch. Wir hatten keinen Garten, nur einen gepflasterten Hof. Auf der anderen Seite stand ein primitiver Stall mit einer Kammer darüber, in welcher der Stallbursche schlief. Im Hof herrschte geschäftige Aktivität. Es wurde zunehmend heller draußen. Ich konnte sehen, wie der Stallbursche und ein weiterer Mann, wahrscheinlich der, der die Botschaft aus der Mine überbracht hatte, sich mit dem neuen Pony abmühten, das nicht zwischen die Deichselstangen wollte. Es war ein ausnehmend hübsches Tier mit weißen Fesseln und einem unberechenbaren Temperament. Es mochte es nicht, in den frühen Morgenstunden aus einem warmen Stall nach draußen in die Kälte gezerrt zu werden, und es machte keinen Hehl aus seinen Gefühlen. Es trat aus und traf den fremden Mann am Bein. Der Fremde stieß eine Serie von Verwünschungen aus, einschließlich einer Reihe von Worten, die ich noch nie zuvor gehört hatte. Ich merkte sie mir, auch wenn mir bewusst war, dass sie nicht zu meinem Gebrauch gedacht waren. Nichtsdestotrotz, ich war ein Kind mit einem scharfen Gehör.
Jetzt war mein Augenblick gekommen. Ich hielt mich in den Schatten, huschte am Außenrand des Hofs entlang bis zum Stall und kletterte ungesehen in den Einspänner. Dort angekommen zog ich die dicke wollene Reisedecke, die immer im Wagen lag, über mich und kauerte mich damit unter die Sitzbank aus Holz.
Der Einspänner schaukelte heftig, als das Pony endlich zwischen den Deichselstangen stand, zum Teil mit Hilfe von guten Worten, zum Teil unter Einsatz von Gewalt. Mein Vater traf auf dem Hof ein, und der Einspänner schaukelte erneut, als er auf den Bock stieg und die Zügel packte. Ich fragte mich, ob der Bote ebenfalls einsteigen und sich neben ihn setzen würde. Falls ja, würde ich mit ziemlicher Sicherheit entdeckt werden. Doch das geschah nicht, und mein Vater rief dem Pony zu, schnalzte mit den Zügeln, und los ging es.
Es war sehr kalt. Ich hatte nicht darüber nachgedacht, wie sehr ich frieren würde. Bei meinem Lauf über den Hof war ich durch Pfützen gestapft, die vom nächtlichen Regen übrig geblieben waren, und meine Satinpantoffeln hatten sich mit Wasser vollgesogen. Bald spürte ich, dass ich keine Strümpfe anhatte. Mein gehäkelter Umhang nutzte nur wenig; er hatte einfach zu viele Löcher. Ich zitterte bereits jetzt vor Kälte und fürchtete ernsthaft, dass ich auf dem besten Weg war zu erfrieren. Ich versuchte, mich in die Decke zu kuscheln und sie fester um mich zu ziehen, als mein Vater einen lauten Ruf ausstieß.
»Was zur Hölle …?«
Die Decke wurde weggerissen, und da kauerte ich vor ihm. Wir waren noch immer recht schnell unterwegs, und der Einspänner schwankte und schaukelte. Mein Vater zügelte das Pony nicht, sondern schnappte nur: »Was machst du hier, Lizzie?«
»Ich wollte mit dir kommen«, sagte ich.
»Pah!« Ich fühlte, dass er einige der Worte benutzen wollte, die ich vorhin auf dem Hof aufgeschnappt hatte, doch er hielt sich zurück. »Nun, jetzt musst du bleiben, wo du bist. Ich kann nicht wieder umkehren!«
»Mir ist kalt!«, sagte ich unklugerweise.
»Dann wirst du eben frieren. Wickel dich in die Decke, und reiß dich zusammen.«
Ich wusste, dass er sehr böse auf mich war. Ich hatte jedoch weniger Angst, als dass es mir leid tat, und das sagte ich ihm auch.
»Es tut dir leid? Was hat denn leidtun damit zu tun?«, fragte er.
Ich konnte seine Frage nicht beantworten, doch der Gedanke machte mir sehr zu schaffen, dass ich etwas getan hatte, was ich nicht mit einer Entschuldigung aus dem Weg räumen konnte. Gab es so schlimme Sünden, dass sie niemals verziehen wurden, ganz gleich, wie reumütig man war und wie sehr man versuchte, seinen Fehler wiedergutzumachen?
Nun, nachdem ich mich ordentlich in die Reisedecke wickeln konnte, war die Kälte nicht mehr ganz so schlimm. Der Wind zerzauste mein Haar und ließ meine Ohren brennen, doch ansonsten war mir nicht mehr annähernd so kalt wie noch wenige Minuten zuvor. Außerdem gewöhnte ich mich zusehends daran.
Wir waren bereits aus der Stadt und auf einer Landstraße unterwegs. Es war ein eigenartiges Land ringsum. In der Ferne standen Hügel, die wie Pyramiden geformt waren. Ich rieb meine Nasenspitze zwischen den Fingern, um wieder etwas Gefühl hineinzubekommen, und als ich die Hand wegnahm, sah ich, dass sie schwarz verschmiert war. Der Schmutz konnte nur aus der Luft gekommen sein. Ich wollte meinen Vater fragen, wohin genau wir fuhren, was passiert war, und ob jemand gestorben war, und wenn ja, wer und wie es passiert war; doch ich beschloss, dass es unter den gegebenen Umständen besser war zu schweigen.
Außerdem würde ich, sobald wir erst angekommen waren, all diese Dinge selbst herausfinden.
Schließlich hielten wir vor einem langgestreckten flachen Gebäude an, das von Holzhütten umringt war. Hinter dem Gebäude ragte ein Ziegelschornstein in die Höhe. Ich schaute mich neugierig um. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Die Siedlung war viel größer, als ich sie mir vorgestellt hatte, beinahe selbst eine Stadt, geschäftig, schmutzig, unaufgeräumt, mit einer Vielzahl eigenartig geformter Gebäude, deren Zweck mir rätselhaft blieb, und alles geschwärzt von Kohlenstaub. Hinter den Häusern erhob sich eine weitere der merkwürdigen Pyramiden, ein riesiger, von Menschen gemachter Abraumhügel. Frauen und Kinder kletterten über ihn wie Ameisen und suchten mühselig nach kleinen Kohlenstückchen, die sie in die Sammlung von Eimern und Körben legten, welche sie bei sich trugen. Leute kamen und gingen in befremdlichem Durcheinander, einige in Eile, andere langsam und müde. Karren wurden von abgemagerten, schmutzigen Ponys gezogen, die niemals gestriegelt wurden, und in der Nähe stand eine Gruppe von Männern, die sich leise unterhielten. Ihre Gesichter waren schwarz von Kohlenstaub, genau wie ihre Kleidung. Ich wusste, dass sie wegen irgendetwas aufgebracht und wütend waren, und zugleich schienen sie von einer Aura der Hilflosigkeit umgeben zu sein. Was auch immer es sein mochte, sie konnten nichts daran ändern.
Mein Vater sprang mit einem knappen »Warte hier, Lizzie! Beweg dich nicht vom Fleck, hast du mich verstanden?« vom Wagen.
Ich hatte keine Zeit, ihm zu versprechen, dass ich bleiben würde, wo ich war, bevor er in dem Steingebäude verschwunden war.
Nun wurde mir bewusst, dass ich selbst ebenfalls der Gegenstand neugieriger Blicke war. Ich sah mich um und entdeckte einen dünnen, drahtigen Jungen in abgerissener Kleidung, der die Zügel des Ponys hielt – ein Auftrag, den mein Vater ihm vermutlich gegeben hatte. Er war nur wenig älter als ich, soweit ich das einschätzen konnte, und er musterte mich aufmerksam. Er ließ sich Zeit dabei und schien sich nichts aus der Tatsache zu machen, dass ich ihn dabei selbst beobachtete. Er hatte einen Schopf dunkler – oder vielleicht auch nur schmutziger – Haare, doch sein Gesicht war einigermaßen sauber. Seine Augen waren ebenfalls dunkel. Er hatte etwas Zigeunerartiges an sich. Hätte er mich einfach nur angestarrt – ›gegafft‹, wie Mary Newling es genannt hätte –, hätte ich das mit Gleichmut über mich ergehen lassen. Doch diese langsame, gründliche Art, studiert zu werden, machte mich irgendwie nervös.
Vielleicht zeigte ich dies, denn nun fragte er gelassen: »Und wer bist du?«
Die beiläufige Formulierung seiner Frage verärgerte mich noch mehr. Ich wusste, dass ich einen eigenartigen Anblick bieten musste, oben auf dem Einspänner mit einer Reisedecke um die Schultern und mit ungekämmtem Haar. Doch ich richtete mich stolz auf und verkündete von oben herab: »Ich bin Miss Martin. Dr. Martin ist mein Papa.«
»Oh, aye«, sagte mein Gesprächspartner im gleichen gleichmütigen Tonfall. »Und was macht Miss Martin hier zusammen mit ihrem Papa?«
»Das geht dich überhaupt nichts an!«, schnappte ich. »Du bist ein sehr unhöflicher Junge! Geh weg!«
Bei diesen Worten grinste er unverschämt. Er hatte ein breites Lächeln, von Ohr zu Ohr, und seine Zähne waren weiß und gleichmäßig. Das war ungewöhnlich. Die einzigen Jungen von dieser Sorte, die ich vorher gesehen hatte, Straßenkinder, hatten wenigstens einen, meist zwei oder mehrere Zähne bei Prügeleien verloren. Er machte keinerlei Anstalten zu verschwinden. Ich beschloss, seine Anwesenheit zu nutzen, um mir ein paar Informationen zu verschaffen. Außerdem wollte ich mich gegen ihn durchsetzen.
»Was ist das für ein Gebäude?«, fragte ich und deutete auf das große Steinhaus, in welches mein Vater gegangen war.
Meine Unkenntnis schien den Jungen zu überraschen. »Na, das sind die Büros, was denn sonst?«
»Und wer arbeitet dort?« Wenn er mich für unwissend hielt, dann sollte er eben. Ich wusste schließlich wirklich nicht, wie die Dinge hier in dieser Siedlung liefen.
»Leute mit hübschen sauberen Händen«, antwortete der Junge trocken. »Gehen nie runter in die Grube, aber wissen alles darüber, wie man andere zum Arbeiten runterschickt.«
Er schien zu einem plötzlichen Entschluss zu gelangen, kramte in seiner Tasche und zog einen kleinen mattgrauen Gegenstand hervor, den er mir reichte. »Hier, das kannst du haben, wenn du möchtest. Es bringt dir vielleicht Glück.«
»Es ist ein Stück Schiefer«, sagte ich, eifrig darauf bedacht, ihm zu zeigen, dass ich etwas wusste; doch dann erkannte ich, dass es mehr war als das. In die Oberfläche eingedrückt war das Bild eines kleinen Farns, so deutlich und so perfekt in jeder noch so winzigen Einzelheit, dass ich unwillkürlich einen ungestümen Ruf des Entzückens ausstieß, was dem Jungen ein noch breiteres Grinsen entlockte.
»Dann ist es also kein Schiefer, hm?«, fragte ich verwundert und nicht wenig verlegen, weil ich doch so erfreut gewesen war, es identifiziert zu haben.
Er zuckte mit den hageren Schultern. »Es ist Schiefer. Hier findet man jede Menge von diesen Steinen. Man spaltet sie auf, und wenn man ein wenig Glück hat, findet man so was im Inneren.«
Genau in diesem Augenblick kam mein Vater wieder aus dem Gebäude, begleitet von einem stämmigen Mann, der fast so breit wie groß war. Der Fremde trug einen zerknitterten Gehrock und, womöglich, um den Eindruck von Körpergröße zu erwecken, einen sehr hohen Seidenhut, der völlig fehl am Platze wirkte. Er hatte eine Tonpfeife im Mund, doch sie schien nicht zu brennen. Er kaute auf dem Mundstück, als wäre dies ihr einziger Zweck, was seinen streitlustigen Gesichtszügen eine zusätzliche grimmige Note verlieh. Ich wusste nicht, wer dieser Mann war, doch ich erinnere mich daran, dass mir sein Anblick nicht besonders gefallen hat. Allerdings wurde mir auch sogleich bewusst, dass er jemand war, der etwas zu sagen hatte. Die kohlenstaubverschmierten Bergleute, die sich miteinander unterhalten hatten, verstummten wie auf ein Signal hin und starrten ihn an; dann bewegten sie sich langsam und lautlos zur Seite und wandten ihm den Rücken zu.
»Ich bin weg!«, sagte mein Gesprächspartner dann auch prompt und verschwand. Das Pony und mich ließ er allein.
Ich hoffte, Inspector Ross würde sich heute bei seiner Suche nach dem Mörder von Madeleine Hexham als hartnäckiger erweisen und nicht in Deckung springen, wie es der schmutzige Junge von einst getan hatte.
Sie haben alle Angst vor diesem Mann, dachte ich damals bei mir. Er muss sehr wichtig sein. Und außerdem, so erkannte ich, sehr mächtig. Irgendwie mochte ich ihn plötzlich sogar noch weniger.
Mein Vater, so bemerkte ich voller Stolz, fürchtete sich ganz und gar nicht vor dem Mann mit dem großen Hut. Er ging forsch neben ihm her, und beide verschwanden in einer Hütte. Nach einer Weile kamen sie wieder hervor. Jetzt konnte ich sehen, dass es mein Vater war, der ärgerlich dreinblickte.
Seine Stimme durchdrang klar und deutlich die morgendliche Luft. »Dieses Kind war bei weitem noch keine zehn Jahre alt! Sie wissen genauso gut wie ich, dass es seit beinahe zwei Jahren gesetzwidrig ist, einen Knaben von weniger als zehn Jahren für die Arbeit unter Tage einzusetzen!«
In der Stimme meines Vaters lag so viel Wut, dass ich glaubte, es müsse den Großhut beeindrucken, doch der starrte meinen Vater nur unverschämt an und zuckte mit den breiten Schultern. Als er die Pfeife aus dem Mund nahm, um zu antworten, klang seine Stimme äußerst aggressiv.
»Die Eltern des Jungen haben mir gesagt, dass er zehn Jahre alt ist. Ich habe ihnen geglaubt. Sie wissen ja selbst, was für Zwerge diese Bergleute als Brut hervorbringen.«
Ich war überrascht von seinem Ton, weil mein Vater normalerweise von allen Leuten mit großem Respekt behandelt wurde. Wie kann er es wagen?, dachte ich empört bei mir. Wie kann er es wagen, in diesem Ton mit meinem Papa zu sprechen?
Zuversichtlich wartete ich darauf, dass mein Vater diesen Burschen zurechtwies, doch obwohl ich sehen konnte, wie wütend er war, klang seine Stimme sehr bestimmt und kalt, als er wieder sprach. Irgendwie machte mir das mehr Angst, als wenn er gebrüllt hätte.
»Ja«, sagte er. »Ich weiß, dass diese Kinder von schlecht ernährten Müttern geboren werden und dass sie selbst schlecht ernährt werden und daran gewöhnt sind, von frühester Kindheit an schwere, unangemessene Arbeit zu leisten. Kein Wunder, dass sie unter Rachitis und anderen Krankheiten leiden und dass ihre Körper verkrüppelt sind. Doch es ist völlig unmöglich, dass dieses Kind dort hinten …«, mein Vater deutete zu der Hütte hinter sich, »… dass dieses Kind dort hinten von irgendjemandem älter als höchstens sechs oder sieben Jahre geschätzt werden könnte.«
Bevor Großhut etwas darauf erwidern konnte, gab es einen Tumult, und zwei Männer kamen aus der Hütte, eine Bahre zwischen sich. Auf der Bahre lag ein kleines Bündel unter einer Decke. Einer der Männer stolperte auf dem unebenen Boden; die Bahre kippte, und die Decke rutschte zur Seite. Eine Hand glitt darunter hervor und baumelte über den Rand hinunter. Eine winzige Kinderhand.
Mein Vater setzte den Hut ab, doch Großhut schnaubte nur und behielt seinen lächerlichen Kopfputz fest an seinem Platz.
Ein Karren war herbeigebracht worden, und die Männer luden die Bahre darauf. Plötzlich durchdrang ein furchtbarer Schrei die Luft. Ich hatte noch nie zuvor solch einen Schrei vernommen und zuckte angstvoll zusammen. Auch das Pony erschrak und setzte sich vorwärts in Bewegung, weil der Junge nicht mehr da war, der es am Zügel gehalten hatte. Der Einspänner ruckte, und ich hatte kurz Angst, dass das Tier durchgehen und mich mit sich reißen würde. Ich packte die Zügel, zerrte mit aller Kraft daran, und zu meiner großen Erleichterung blieb das Pony stehen.
Eine Frau war aufgetaucht und rannte auf die Stelle zu, wo mein Vater, Großhut und die beiden Männer mit der Bahre standen. Sie wedelte mit den Armen und schrie unverständliches Zeug wie eine Irre, und ihr Mund war zu den groteskesten Formen verzerrt. Der Umhang, den sie trug, wie es arbeitende Frauen taten – über den Kopf und unter dem Kinn zusammengebunden –, löste sich und fiel in den Schmutz. Doch sie bemerkte es nicht einmal, obwohl ihre Kleidung ärmlich und schmutzig war. Ihr Gesicht war von tiefen Linien durchfurcht wie das einer alten Frau, doch nach der Art und Weise, wie sie rannte, musste sie noch recht jung sein. Sie erreichte den Karren, kletterte hinauf und warf sich auf den kleinen Leichnam auf der Bahre, während sie unablässig weinte und an der Decke zerrte, um das Gesicht des Toten freizulegen. Ich erkannte, dass es die Mutter des kleinen Jungen sein musste, und beobachtete das Geschehen mit wachsendem Entsetzen.
»Davy! Davy!«, weinte sie. »Ich bin es, Mum! Wach auf, mein Junge, und sprich mit mir!«
Großhut wandte sich mit einem Ausdruck des Abscheus zur Seite. Die Männer, welche die Bahre getragen hatten, traten zurück und schauten unbehaglich und verlegen drein. Mein Vater trat ein paar Schritte vor und versuchte, tröstende Worte zu der Frau zu sprechen, doch die kreischte nur noch lauter. Wenigstens drei weitere Frauen, die ähnlich aussahen wie die Kindsmutter, tauchten von irgendwo auf, und es gelang ihnen, die jammernde Frau vom Karren zu ziehen. Jetzt nahmen die Männer den Karren wieder in die Hände und zogen ihn davon. Die Frauen folgten ihnen und stützten die trauernde Mutter in ihrer Mitte.
Als sie außer Sicht, aber nicht außer Hörweite waren, setzte mein Vater seinen Hut wieder auf und wandte sich zu Großhut um.
»Es wird eine gerichtliche Untersuchung zur Feststellung der Todesursache geben«, erklärte er knapp. »Sie haben mein Wort darauf. Ich werde dafür Sorge tragen, dass dieser Unfall nicht vertuscht wird.«
Großhut schien von den Worten meines Vaters noch immer unbeeindruckt zu sein. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, sagte er. »Die eigene Mutter dieses Jungen, die Frau, die dort geheult und gejammert hat – sie war es, die mir gesagt hat, der Junge wäre zehn Jahre alt. Ich habe ihr geglaubt. Es gibt keinen Leichenbeschauer in ganz England, der mir das Gegenteil beweisen kann.«
Mit diesen Worten wandte er sich ab und kehrte ins Minenbüro zurück. Mein Vater kam zum Einspänner. Er stieg hinauf, nahm mir die Zügel aus den Händen und pfiff dem Pony zu. Ich wusste, dass er immer noch wütend war, doch ich wusste auch, dass sich sein Zorn nicht gegen mich richtete, weil ich so unartig gewesen war, mich im Wagen zu verstecken. Er richtete sich gegen andere, größere und ernstere Ziele. Ich fühlte, dass er mich wahrscheinlich gar nicht wahrnahm. Als wir das Tor passierten, bildete ich mir ein, da den Jungen zu sehen, der mir den Glücksbringer geschenkt hatte; doch ich war mir nicht sicher, auch wenn ich mich umdrehte, um nach ihm zu suchen. Falls er tatsächlich dort gestanden hatte, war er bereits wieder verschwunden.
Wir waren schon auf halbem Weg nach Hause, bevor ich mich erkühnte zu sprechen. »Es war ein kleiner Junge, der gestorben ist«, sagte ich. »Ein sehr kleiner Junge, nicht wahr, Papa?«
Mein Vater schaute zu mir herab, und ich glaube, ihm wurde erst in diesem Moment bewusst, dass ich da war. »Oh, Lizzie …«, sagte er. Dann, unter Kopfschütteln: »Ja, in der Tat, ein sehr kleiner Junge. Ich glaube nicht, dass er so alt war wie du.«
»Was hat er in der Mine gemacht?«, fragte ich. »Er war doch sicher noch nicht groß genug, um nach Kohle zu graben, oder?«
Mein Vater zog an den Zügeln, und wir kamen zum Stehen. Die Sonne war inzwischen aufgegangen, und ihre Strahlen wärmten meine Schultern. Wir hatten das Gebiet der Mine hinter uns gelassen und die Vororte der Stadt noch nicht ganz erreicht. Wir befanden uns in einer hübschen Landschaft voll grüner Hügel, und die Schlackenhalden waren nur schwache Schatten am Horizont. Alles sah so sauber und friedlich aus, dass der Schmutz des Ortes, an dem wir eben gewesen waren, und die schreckliche Szene, die ich mit eigenen Augen gesehen hatte, kaum noch wirklich erschienen. Als wäre alles nur ein schlechter Traum gewesen.
»Er hat als Klapper gearbeitet«, sagte mein Vater. »Weißt du, was das ist, Lizzie?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Nun ja«, sagte mein Vater. »Wie soll ich dir das erklären? Warte. Die Luft unter der Erde ist sehr schlecht. Also muss irgendwie frische Luft zu den Arbeitern geführt werden. Deshalb graben sie zwei Belüftungsschächte.« Mein Vater gestikulierte mit den Händen und deutete zwei lange dünne Röhren an. »Frische Luft wird durch einen Schacht angesaugt und durch die Minengänge geführt, und die verbrauchte Luft wird durch den anderen Schacht nach draußen gedrückt. Um all das zu kontrollieren, existiert ein System von hölzernen Klapptüren. Sie werden von Kindern bedient, kleinen Jungen, die den ganzen Tag nur zu diesem Zweck dort sitzen.«
»Im Dunkeln?«, ächzte ich zutiefst entsetzt.
»Ja, Lizzie, im Dunkeln.«
»Ganz allein?«
»Ganz allein.«
Ich dachte an den kleinen Jungen, jünger als ich selbst, der gezwungen gewesen war, lange Stunden mutterseelenallein in der Dunkelheit tief unter der Erde zu hocken. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie viel Angst er gehabt und wie unendlich einsam er sich gefühlt haben musste. Ich fragte mich, ob es dort unten Ratten gegeben hatte.
»Warum ist er gestorben?«, flüsterte ich.
Mein Vater seufzte. »Ich habe ›Erschöpfung‹ auf den Totenschein geschrieben. Das hat Harrison ganz und gar nicht gefallen.«
»Harrison ist der Mann mit dem großen Hut und der Pfeife?«
»Ja. Er leitet die Mine und alles um sie herum. Er hat sich die größte Mühe gegeben, mir zu erklären, dass die Arbeit des Jungen nicht mühsam war und dass ›Erschöpfung‹ seiner Ansicht nach nicht die Ursache für seinen Tod wäre. Ich wies ihn darauf hin, dass Erschöpfung die verschiedensten Ursachen haben kann, darunter Hunger und Angst. Schwieriger nachzuweisen, aber genauso real ist der Verlust jeglicher Hoffnung. Ich glaube, das Kind starb, weil es keinen Grund mehr sah weiterzuleben. Doch das ist meine private Meinung und keine medizinische. Ich werde dem Gericht sagen, dass das Kind an Nahrungsmangel und allgemeiner Kraftlosigkeit gestorben ist.«
Plötzlich hämmerte er mit der geballten Faust auf das Geländer, an das die Zügel gebunden waren. »Es hätte nicht passieren dürfen! Seit zwei Jahren ist es gesetzlich verboten, einen Knaben von weniger als zehn Jahren – oder ein Mädchen oder überhaupt eine Frau, ganz gleich wie alt – unter der Erde arbeiten zu lassen! Harrison weiß das ganz genau!«
»Und?«, fragte ich. »Wird man Mr Harrison dafür bestrafen?«
»Was?« Mein Vater klang amüsiert, doch auf eine eigenartig freudlose Weise. »Nein, mein Kind, niemand wird bestraft werden. Harrison wird sagen, dass er nicht wusste, wie jung das Kind gewesen ist. Die Eltern werden entweder eingeschüchtert oder bestochen, sodass sie vor Gericht bestätigen, die Unwahrheit über das Alter ihres Sohnes gesagt zu haben. Ich bezweifle, dass es auch nur zu einer Geldstrafe kommen wird. Oder, falls die Besitzer der Mine bestraft werden, dann mit einer lächerlich geringen Summe. Aber es wird nicht wieder passieren! Ich werde dafür sorgen! Ich werde einen derartigen Wirbel veranstalten, dass Harrison trotz all seiner Sturheit und seines Mangels an Moralempfinden es nicht mehr wagen wird, noch einmal ein so junges Kind in die Grube zu schicken!«
Er wickelte die Zügel los und schüttelte sie, und das Pony setzte sich wieder in Bewegung. Der Glücksbringer war in meiner Tasche. Ich nahm mir vor, ihn meinem Vater in einem geeigneten Augenblick zu zeigen, doch das konnte noch eine ganze Weile dauern. Das Pony fühlte, dass es auf dem Rückweg in den behaglichen Stall war und trottete geschwind und mit aufgerichteten Ohren seines Weges, und bald waren wir wieder daheim.
Als mein Vater mich ins Haus führte, wurden wir erneut von den Tränen einer Frau begrüßt. Molly Darby saß auf der Treppe und hatte die Schürze vors Gesicht gedrückt. Sie weinte sich die Augen aus dem Leib, weil ich nirgendwo im Haus zu finden gewesen war und weil man ihr die Schuld dafür gab. Sie wurde auf das Heftigste von Mary Newling gescholten, die mit in die Seiten gestemmten Fäusten vor ihr stand und sie beschuldigte, ein faules, verschlafenes Ding zu sein, das der Doktor aus dem Haus scheuchen würde, sobald er wieder zurück war, sie würde schon sehen, und ohne jedes Zeugnis obendrein. Miss Elizabeth konnte überall sein und würde vielleicht nie wieder gesehen werden! Das arme kleine Kind war möglicherweise von Zigeunern entführt worden, in einen Gully gefallen oder von einem Karren überfahren worden! Die Fahrer dieser nächtlichen Karren waren beinahe immer betrunken, wie jedermann sehr wohl wusste.
»Holla, aber hier ist sie doch«, sagte mein Vater und schob mich nach vorn, um zu beweisen, dass ich von all diesen schrecklichen Szenarien verschont geblieben war.
Molly kreischte und sprang auf, um mich zu sich zu ziehen und an ihren gewaltigen Busen zu drücken.
»Oh, Sir! Oh, Miss Elizabeth! Wo hast du nur gesteckt? Ich schwöre, Sir, ich habe um Punkt sieben nach ihr gesehen, und sie war verschwunden! Ich habe nicht einen Laut gehört!«
»Bringen Sie sie nach oben, und machen Sie sie sauber«, sagte mein Vater müde. »Mary, seien Sie bitte so freundlich und machen Sie mir einen Tee.«
Ich blickte nach unten und sah, dass meine Hände und Kleider von einer dünnen Schicht Kohlenstaub bedeckt waren, wie er über den Minen ständig in der Luft hing. Vermutlich sah mein Gesicht genauso aus.
Während ich von Molly die Treppe hinaufgetragen wurde, rief mein Vater hinter uns her.
»Warten Sie!«
Wir blieben stehen. »Ja, Sir?«, fragte Molly ängstlich.
»Lizzie«, sagte mein Vater zu mir.
»Ja, Papa?« Ich war genauso nervös wie Molly, denn ich fürchtete, dass ich nun eine Strafe für meine Eskapade erhalten würde.
»Vergiss niemals, was du heute gesehen hast, mein Kind«, sagte mein Vater. »Vergiss niemals, hörst du, dass das der wahre Preis von Kohle ist.«
Sobald ich eine Gelegenheit fand, packte ich meinen versteinerten Farn zu meinen übrigen kindlichen ›Schätzen‹ in eine zerschrammte Lackschachtel. Ich wusste, dass ich nie vergessen würde, was ich an jenem Morgen erlebt hatte. Ich begriff die letzte Bemerkung meines Vaters nicht genau, doch von diesem Tag an hörte ich Mary Newling nie wieder über den Preis von guter Kohle für das Wohnzimmer oder überhaupt von Kohle klagen.
Mein Vater war ein gutherziger Mann und ein liebevoller Vater. Doch er hatte viele Dinge in seinem Kopf, und solange ich glücklich und gesund schien, machte er sich normalerweise keine Gedanken um mich. Nichtsdestotrotz musste meine Eskapade im Einspänner an diesem Morgen ihm einiges zu denken gegeben haben. Er erkannte, dass ich auf dem besten Weg war, zu einer kleinen Wilden heranzuwachsen. Kurz nach der Episode in der Mine verließ Molly Darby unseren Haushalt, um einen Bauern zu heiraten, und wurde durch eine Gouvernante ersetzt, Madame Leblanc. Es war typisch für meinen Vater, dass er diese Person hauptsächlich deswegen einstellte, weil sie verzweifelt nach einer Anstellung suchte und sofort anfangen konnte. Einmal mehr wurde sein gesunder Menschenverstand von seiner gutmütigen Natur überstimmt.
Ich kam bald dahinter, dass es nie einen Monsieur Leblanc gegeben hatte, und dass ›Madame‹ eine reine Höflichkeitsanrede war. Doch sie war tatsächlich Französin und behauptete, bereits vor vielen Jahren nach England gekommen zu sein, wo sie in einer sehr guten Familie als Gouvernante gearbeitet hätte. Unglücklicherweise war diese Familie inzwischen mit Sack und Pack nach Indien gezogen und konnte Madame Leblanc deswegen keine Referenzen ausstellen.
Ich hörte, wie Mary Newling in der Küche mit einem Besucher über sie redete. »Meine Güte … Gouvernante! Diese Person hat ihr Geld im Bett verdient, nicht im Schulzimmer! Vielleicht hat sie inzwischen ihr Aussehen eingebüßt, aber sie redet immer noch mit silberner Zunge daher! Der Doktor ist zu gutmütig, einfach viel zu gutmütig, und lässt sich von jeder Leidensgeschichte einwickeln!«
Ich merkte mir ihre Worte, auch wenn ich sie nicht verstand. Die arme Madame Leblanc hatte sicherlich schwere Zeiten hinter sich und war unendlich dankbar dafür, dass mein Vater sie errettet hatte. Sie war vielleicht eins fünfzig groß, eine winzige Person von einer Frau mit sehr dunklem rötlichem Haar. (Ich hörte Mary Newling erklären, dass dies ein Resultat von Henna sei.) Sie hatte tiefliegende dunkle Augen, winzige Hände und Füße und bewegte sich schnell und geschickt. Unglücklicherweise war ihre eigene Bildung eher lückenhaft. Sie konnte mich lehren, genauso gut Französisch wie Englisch zu schreiben und zu lesen und die Sprache fließend zu sprechen, doch das war auch schon so ungefähr alles, abgesehen von ein wenig einfacher Mathematik. Ihre Vorstellungen von Geographie waren eher vage, und die einzige ihr bekannte Geschichte war die französische. Diese bestand zur Gänze aus wildromantischen Erzählungen von Rittern und Königen, die ich mir nur zu gerne anhörte. Madame war eine Royalistin und dem Ancien Régime treu ergeben, und sie sprach mit Zorn und Verachtung über den Parvenü und einstigen Kaiser Napoleon Bonaparte und noch wütender über die niederträchtigen Orleanisten. Als die Erhebung von 1848 Louis-Philippe vom Thron vertrieb, den er achtzehn Jahre zuvor usurpiert hatte, war ihre Befriedigung angesichts dieser Tatsache immens. »Besser eine Republik als dieser Verräter Orleans, ma chère Elizabeth!«
Als uns die Nachricht erreichte, dass in einem weiteren Umsturz in Frankreich Louis-Napoleon, der Neffe des alten Monsters Bonaparte, an die Macht gekommen war und sich selbst zum Kaiser der Franzosen erklärt hatte, war dies leider mehr, als Madame Leblanc ertragen konnte. Sie tröstete sich großzügig mit einer Flasche Brandy und verlor unglücklicherweise auf dem Sofa im Wohnzimmer das Bewusstsein, wo sie früh am nächsten Morgen mit der leeren Flasche neben sich von Mary Newling gefunden wurde, die den Kamin säubern und das Feuer anzünden wollte. Dieser Lapsus konnte nicht ignoriert werden, und so verließ Madame Leblanc unser Haus. Es tat mir leid, sie gehen zu sehen, denn ich hatte sie sehr lieb gewonnen. Ich hatte keine Freundinnen in meinem eigenen Alter, und Madame war mehr als eine Gouvernante gewesen: eine Kameradin, die stets Zeit gehabt hatte, um mir zuzuhören.
Ich war inzwischen vierzehn, und mein Vater beschloss, sich selbst um meine weitere Ausbildung zu kümmern. Er kam jedoch nie wirklich dazu, das zu tun, wegen seiner anderen Verpflichtungen. So bildete ich mich selbst, indem ich jedes Buch verschlang, das ich in die Finger bekam.
Die arme Madame Leblanc, jetzt, wo ich an sie dachte … Was wohl aus ihr geworden war, nachdem sie unser Haus verlassen hatte? Wie ähnlich meine Umstände nun den ihren waren, auf der Suche nach einem Dach über dem Kopf und einer Anstellung! Es war unwahrscheinlich, dass sie nach uns eine weitere respektable Position gefunden hatte. Vielleicht hatte sie damit geendet, dass sie von Tür zu Tür hausieren ging und kleine Anhänger und Schreibwaren verkaufte.
Doch das Leben ging weiter. Mary Newling blieb bei uns, bis das hohe Alter sie in den Ruhestand zwang und zu einer verwitweten Schwester zu ziehen. Fortan nahm ich die Stelle der Haushälterin meines Vaters ein, und eine Magd ging mir zur Hand. Der Tod meines Vaters kam plötzlich und unerwartet, doch er war friedlich. Er sagte, er wäre müde und wollte früh zu Bett gehen. Er wachte nie wieder auf. Fast die ganze Stadt nahm an seiner Beerdigung teil. Mir oblag es, seine Angelegenheiten zu regeln.
Sie waren in einem furchtbaren Durcheinander. Rasch wurde offensichtlich, dass mir nichts bleiben würde als bittere Armut. Viele der ärmeren Patienten meines Vaters hatten nie ihre Rechnungen bezahlt, und er hatte sie nie deswegen unter Druck gesetzt. Er hatte vielen im Gegenteil ausgeholfen und ihnen Geld gegeben, während sie unfähig gewesen waren zu arbeiten. Was bedeutete, dass kein Geld da war, um seine eigenen Schulden zu begleichen. Unter den Aufzeichnungen über Gelder, die er im Laufe der Jahre ausgegeben hatte, befand sich ein eigenartiger Verweis auf regelmäßige wöchentliche Summen, die an zwei Frauen namens Mrs Ross und Mrs Lee gegangen waren, doch ich fand keinerlei Hinweise darauf, dass er die beiden Damen wegen irgendeiner Krankheit behandelt hätte. Warum er ihnen über einen so langen Zeitraum Geld hatte zukommen lassen, war mir ein Rätsel. Wäre Mary Newling noch am Leben gewesen, hätte ich sie fragen können, doch sie war ein paar Jahre zuvor gestorben. Zumindest dieses Rätsel war an diesem Tag von Inspector Ross gelöst worden.
Zum damaligen Zeitpunkt fand ich keine Zeit, um mir darüber den Kopf zu zerbrechen, da offensichtlich wurde, dass ich das Haus würde verkaufen müssen, um die Schulden zu bezahlen. Dies tat ich denn auch. Ich beglich die offenen Rechnungen, stattete die Magd mit einer kleinen Summe sowie einem glänzenden Zeugnis aus und sagte ihr, dass es mir zwar leid täte, doch mehr könnte ich nicht für sie tun.
»Das ist schon in Ordnung, Miss«, war ihre Antwort.
Doch ich sah, dass sie die Summe für sehr gering und mich für äußerst geizig hielt. Sie wusste nicht, dass ich jeden Penny brauchte, bis ich eine Möglichkeit gefunden hatte, mich selbst zu ernähren. Bis dahin zog ich in ein möbliertes Zimmer im Haus einer verwitweten Nachbarin, Mrs Neale, die für Unterkunft und Essen nur wenig Geld von mir verlangte. Sie kannte mich fast mein ganzes Leben lang. Ich wusste, dass sie mir ihre Hilfe zum Teil aus Sorge um mich, zum Teil aber auch deswegen angeboten hatte, weil ihr der Gedanke peinlich war, dass die Tochter von Dr. Martin nicht wusste, wohin sie sonst gehen sollte.
Ich konnte mir gut vorstellen, welchen Tratsch meine Umstände in der Stadt hervorriefen und welche Vorwürfe sich über dem Kopf meines armen Vaters häuften. Ich war sicher, er hätte mich nie aus Gedankenlosigkeit in solch bitteren Umständen zurückgelassen. Er war einfach noch relativ jung gewesen, erst siebenundfünfzig Jahre alt, und hatte geglaubt, bei bester Gesundheit zu sein. Er hatte nicht damit gerechnet, dass der Tod so früh an seine Tür klopfen würde. Er hatte angenommen, dass noch genügend Zeit war, um einige Vorkehrungen für meine Zukunft zu treffen – oder vielleicht hatte er geglaubt, ich würde heiraten; wie dem auch sei, nichts von alledem hatte sich verwirklicht.
Ich brauchte diese Blicke von Mitleid und Besorgnis nicht, die sich jedes Mal auf mich richteten, wenn ich über die Straße ging. Niemand machte sich die Mühe, sie zu verbergen. Ich glaubte auch nicht, dass Mrs Neale mich für alle Zeiten unter ihrem Dach beherbergen wollte. Sie erging sich bereits in Andeutungen. Ich musste weg, doch wohin sollte ich gehen? Dank Madame Leblancs erratischen Fähigkeiten als Lehrerin ermangelte es mir an jeglichen Kenntnissen, die für junge Damen als notwendig erachtet wurden. Der Beruf der Gouvernante, stets eine Zuflucht für junge Frauen in meiner Lage, war mir verschlossen. Für kurze Zeit trug ich mich mit dem Gedanken, Unterricht in Französisch zu geben, doch es gab niemanden in unserer Stadt, der die Sprache lernen wollte.
Voller Verzweiflung schluckte ich meinen Stolz herunter und schrieb jene wenigen Bekannten meines Vaters an, die vielleicht in einer Position waren, mir bei der Suche nach einer Beschäftigung zu helfen. Zu meiner Überraschung und Freude erhielt ich eine positive Antwort von der Witwe meines Patenonkels Josiah Parry. Mrs Parry schrieb, dass sie betrübt sei, vom Tod meines Vaters zu hören, und annahm, dass ich mich zurzeit in einer Zwangslage befinde, da mein Vater niemals Sinn für Geld gehabt hätte. Falls ich wünschte, nach London zu kommen und bei ihr zu wohnen, könnte ich dies tun. Sie sei auf der Suche nach einer Gesellschafterin, sagte sie, und in der Lage, mir ein Dach über dem Kopf und Verpflegung anzubieten sowie ein angemessenes Gehalt, über das wir sprechen könnten, sobald wir uns kennen gelernt hätten. Ich könnte sofort anfangen.
Es stand völlig außer Frage, dass ich annehmen würde, selbst wenn ich die Lady nie zuvor gesehen hatte und mich erst später dunkel an mein Zusammentreffen mit jenem traurigen Gentleman erinnerte, der mir damals einen Shilling geschenkt hatte.
Es war ein Sprung ins Unbekannte, doch ich hatte keine andere Wahl.
Und so kam es, dass ich ein, zwei Tage nach meinem neunundzwanzigsten Geburtstag eine Fahrkarte von meinen mageren Ersparnissen kaufte und mich auf die Reise nach London machte. Und hier in London war ich völlig unversehens mit jemandem aus meiner Heimat und meiner Vergangenheit zusammengetroffen.
Ich nahm den versteinerten Farn aus meiner Lackschachtel und fragte mich, ob der Talisman wohl auf irgendeine magische Weise für dieses unerwartete Wiedersehen verantwortlich war, und was es für meine Zukunft bedeuten mochte – egal ob gut oder schlecht.