KAPITEL SIEBZEHN

Ben Ross

Adams wurde nicht aus dem Fluss gezerrt, sondern am Ufer gefunden, im grünlichen stinkenden Schlamm. Er war zusammen mit alldem anderen Treibgut angeschwemmt und von den Straßenjungen entdeckt worden, die bei Ebbe entlang der Ufer nach Verwertbarem suchten.

Obwohl es keinen unmittelbaren Hinweis auf eine faule Geschichte gab und Tod durch Ertrinken nichts Ungewöhnliches war, war Adams als möglicher Zeuge im Zusammenhang mit einer Mordermittlung von der Polizei gesucht worden, und daher wurde mit einiger Dringlichkeit eine Obduktion des Toten erbeten.

Morris und ich waren in dieser Angelegenheit am Montagmorgen unterwegs in Richtung Fluss und Wapping Station.

»Ist das zu glauben?«, begann Morris. »Wir haben bald Juni! Hören Sie, Sir, merken Sie sich meine Worte, wir werden Nebel kriegen, noch bevor der Tag richtig angefangen hat.«

Die Luft ringsum wurde in der Tat bereits dicker, und wir marschierten, so schnell wir konnten, in der Hoffnung, mit unserer Aufgabe fertig und wieder zurück in unserem Büro zu sein, bevor es noch schlimmer wurde. Es war unmöglich vorauszusagen, wie viel Zeit uns blieb, bevor sich der Nebel wie ein dichter gelber Schleier über die Stadt legen würde. Der Londoner Nebel ist unberechenbar. Er lauert in irgendeiner Ecke, zeigt sich als Dunstschwaden über dem Fluss oder in der Ecke eines Parks, und dann, bevor man sich’s versieht, ist er aus seinem Versteck gekommen wie ein Oktopus auf der Jagd und hält die Stadt in seinen zahlreichen Armen fest.

Wir wurden von einem Sergeant der Flusspolizei begrüßt, einem raubeinigen, braungebrannten, wettergegerbten Seebären, der aussah, als wäre er aus Schiffsdielen gezimmert. Die Atmosphäre war eine unangenehme Mischung aus übelriechenden Dämpfen, die vom Fluss aufstiegen und sich mit dem verrauchten Himmel über der Stadt vereinten, mit sämtlichen Zutaten einer echten Londoner Waschküche. Der Kälteeinbruch hatte dazu geführt, dass mehr Haushalte am vorangegangenen Abend ihre Kamine entfacht hatten. Die Luft trug den Geruch von Bilgewasser und Teer und einen Hauch von Salz in sich und verriet uns, dass das offene Meer nicht sehr weit entfernt war und fragte, warum wir Landratten uns am Ufer herumtrieben, wo wir doch zu fernen Ländern unterwegs sein konnten. Möwen kreisten über unseren Köpfen, einige sichtbar, andere bereits in Nebelschwaden verschwunden. Ihre Schreie mischten sich mit der Botschaft des Windes. Ich fragte mich, was sie so weit die Flussmündung hinaufgetrieben hatte. Raues Wetter draußen auf dem Meer vielleicht?

»Kein schöner Morgen, Gentlemen!«, begrüßte uns unser Führer und rieb sich die Hände. Er schien nicht allzu missmutig deswegen zu sein und war es wohl gewohnt, bei jedem Wetter draußen und auf dem Fluss unterwegs zu sein. Sein Humor wurde mitnichten durch die Tatsache beeinträchtigt, dass er uns zum Leichenschauhaus der Flusspolizei führte, wo die Unglücklichen hingebracht wurden, die aus ihrem nassen Grab geborgen worden waren. Der Tote war bereits obduziert worden.

Ich wünschte, der gute alte und verlässliche Carmichael hätte die Arbeit getan, doch es war ein Chirurg, den ich noch nicht kannte. Wenigstens blieb uns auf diese Weise die Gesellschaft von Carmichaels unangenehmem Assistenten erspart. Der Chirurg war ein kleiner, stämmiger und jähzorniger Bursche, der den Eindruck erweckte, in ständigem Hader mit der Welt ringsum zu leben, und er interpunktierte seine Worte mit streitlustigen »Hey! Hey!«-Rufen, als hätte ihm jemand die Stirn geboten.

»Ertrunken!«, verkündete er knapp als Antwort auf meine Frage nach der Todesursache.

»Kein Zweifel?«, fragte ich unklugerweise.

»Zweifel? Zweifel?«, bellte er. »Die Lunge ist voll mit Flusswasser! Wie kann es da einen Zweifel geben?«

»Ich meinte«, verbesserte ich mich hastig, »ob es vielleicht auch noch andere Verletzungen gibt?«

»Keine, die mit einem Sturz ins Wasser und Zusammenstößen mit festgemachten Booten oder Treibgut inkonsistent wären.«

»Ah. Also keine Verletzungen, die vor dem Tod verursacht wurden? Es hat beispielsweise keinen Kampf gegeben?«

»Hey! Hey!«, rief der Chirurg, und seine Augen quollen vor Zorn aus dem Schädel. »Nein, Sir, keine.«

Ich war entschlossen, mich nicht einschüchtern zu lassen. »Keine Schwellungen im Gesicht? Keine abgeschürften Knöchel?«, beharrte ich.

»Sind Sie taub, Sir?«, brüllte der Chirurg. »Ich sagte keine, und es gibt keine! Der Bursche war stockbetrunken, eine Mischung aus Weingeist und Bier. Er torkelte nach Hause und fiel in den Fluss. Das passiert andauernd. Ist es nicht so, Sergeant?«

Diese Frage galt dem Seebären von der Flusspolizei neben mir, der eifrig nickte. »Aye, aye, die ganze Zeit. Kein Hinweis, dass er gesprungen wäre, Sir. Kein Abschiedsbrief in seiner Kleidung. Sieht auch überhaupt nicht nach dieser Sorte aus. Meiner Erfahrung nach sind die meisten Springer arme Frauen, die ihr Leben nicht mehr ertragen, oder Mädchen, die verführt und im Stich gelassen wurden, sowie ruinierte Geschäftsleute und unglückliche Spieler.«

»Ganz recht!«, schnappte der Chirurg. »Ein Arbeiter, zweifellos auf seine Weise ein ehrlicher Bursche, aber dem Alkohol verfallen, wie es bei allen Arbeitern der Fall ist. Was seine Knöchel angeht, sehen Sie selbst.« Er hielt eine Hand des Toten in die Höhe, damit ich sie in Augenschein nehmen konnte. »Eine Haut wie Leder, aber unverletzt über den Knöcheln. Kein Faustkampf. Die Nägel sind abgekaut«, fügte er beiläufig hinzu und ließ die Hand des Toten wieder fallen.

»Die Nägel sind abgekaut?«, fragte ich verblüfft.

»Hey! Hey! Muss ich alles zweimal sagen?«, heulte der Chirurg. »Manche Leute kauen ihre Fingernägel ab! Nerven. Schlechte Angewohnheit. Sollte eigentlich bereits im Kindesalter wieder aufhören.«

Ich öffnete den Mund zu einem Kommentar, doch dann verkniff ich mir meine Bemerkung angesichts meiner Gesellschaft. Ich wandte mich an den Mann von der Flusspolizei. »Wer hat den Toten identifiziert?«

»Ein Gentleman namens Fletcher, Sir, einer seiner Vorgesetzten, wenn ich recht informiert bin. Er war sehr betroffen. Wir mussten ihn ins Nebenzimmer führen und ihm einen Schluck Brandy geben, damit sich seine Nerven wieder beruhigten.«

»Der Kerl war ein Narr!«, bellte der Chirurg. »›Kommen Sie schon‹, hab ich zu ihm gesagt, ›das ist doch nur einer Ihrer Arbeiter und kein naher Verwandter! Haben Sie noch nie einen Toten gesehen, hey! Hey!‹«

»Er sagte, er hätte sehr wohl schon Tote gesehen«, warf der Flusspolizist ein, »aber keinen, der im Fluss gelegen hätte.«

»Und dieser Tote war im Fluss«, fuhr der Chirurg fort. »Ich wies diesen Fletcher darauf hin, dass er noch nicht sehr lange im Wasser gelegen hatte. ›Er ist in einem guten Zustand, kaum aufgedunsen und alles. Die Krabben hatten noch keine Gelegenheit, viel an ihm zu nagen, nur ein Teil des linken Augapfels fehlt.‹ Da wurde dieser Fletcher ganz grün im Gesicht!«

»Wir mussten ihm einen weiteren Schluck Brandy geben«, sagte der Flusspolizist.

»Und wie lange war er Ihrer Meinung nach im Wasser?«, fragte ich den Chirurgen. »Er wurde seit Samstagmorgen vermisst, als er nicht zur Arbeit erschien, und laut der Aussage seiner Wirtin ging er am Abend zuvor, also am Freitag, aus und kam nicht wieder zurück.«

»Die Leiche wurde bei Niedrigwasser gefunden, früh am heutigen Morgen«, sagte der Flusspolizist. »Die Ratten waren noch nicht an ihm; deswegen schätze ich, dass er noch keine Stunde an Land gelegen hat. Es war Glück, dass er überhaupt angeschwemmt wurde, sonst hätten wir warten müssen, bis die Gase ihn an die Oberfläche treiben lassen. Das kann eine Weile dauern, insbesondere, wenn eine Leiche sich in irgendeinem Hindernis unter der Wasseroberfläche verfängt.«

»Meiner Meinung nach ist er am Freitagabend ins Wasser gefallen«, sagte der Chirurg. »Auf dem Nachhauseweg, wie ich bereits sagte.«

»Wie war das Wetter am Fluss in der Nacht von Freitag auf Samstag?«, wandte ich mich an den Sergeant von der Flusspolizei. »Wenn ich mich recht entsinne, hat es irgendwann frühmorgens geregnet.«

»Das ist richtig, Sir. Aber vorher hatten wir dichten Nebel, der wie eine Decke über dem Fluss lag, bis der Regen kam und ihn wegspülte. Man musste schon vorsichtig sein, wenn man entlang der Kais unterwegs war. Ein falscher Schritt, und man tritt ins Nichts und landet im kalten Nass der guten alten Themse. Sie lässt einen nicht mehr so ohne weiteres gehen.«

»Sehen Sie?«, sagte der Chirurg. »Sind Sie jetzt zufrieden, hey? Hey!«

»Nun«, sagte ich zu Morris, als wir uns auf den Rückweg zum Scotland Yard machten. »Ich bin nicht zufrieden. Was halten Sie von dieser Sache, hey, hey?«, fügte ich säuerlich hinzu.

Morris kicherte. »Es war, was wir erwartet hatten, Sir. Zum Glück wurde die Leiche so schnell an Land gespült. Manchmal dauert es eine ganze Weile, wie der Sergeant von der Flusspolizei gesagt hat. Dann wird eine Identifizierung problematisch.«

»Kauen Sie auf den Fingernägeln, Morris?«

»Nein, Sir. Ich habe es getan, als ich ein kleiner Junge war. Aber die Schule, die ich besucht habe, wurde von einer ältlichen, verwitweten Lady geführt, die sehr streng war. Sie wurde fuchsteufelswild, wenn sie eines von uns Kindern beim Nägelkauen erwischte. Wir mussten die Hand ausstrecken, gleichgültig ob Junge oder Mädchen, und Zack! gab es eins mit dem Lineal auf die Finger! Das tat verdammt weh!«

Eine große, unfreundlich dreinblickende Seemöwe landete auf einem Pfosten in der Nähe und beäugte uns böswillig. Morris schien sich an ihr zu stören.

»Glauben die Seeleute nicht, dass diese Biester die Seelen der toten Seefahrer mit sich tragen?«, fragte er. »Oder war das ein anderer Vogel?«

»Ich denke, es ist der Sturmvogel«, sagte ich. »Auch wenn ich alles andere als eine Kapazität auf diesem Gebiet bin. Aber wenn ein Vogel wie dieser üble Geselle dort eine Seele in sich trägt, dann sicher die eines toten Piraten, den man am Galgen aufgehängt hat. Passen Sie auf Ihre Mütze auf, wenn er abhebt. Er ist wahrscheinlich ein verdammt guter Schütze.«

Die Möwe öffnete den bösartigen Schnabel und stieß ein misstönendes Kreischen aus.

»Sagen Sie mir, Sergeant«, fragte ich Morris, »hätten Sie unseren Toten, Jem Adams, als einen nervösen Mann bezeichnet?«

»Wohl eher nicht, Sir. Er hatte eher das Feingefühl eines Ochsen, wenn Sie mich fragen.«

»Ganz genau. Und doch hat er sich die Fingernägel abgekaut. Das lässt mich vermuten, dass er in jüngster Zeit unter außerordentlicher Anspannung gestanden hat, die ihn dazu brachte, zu einer Angewohnheit aus seiner Kindheit zurückzukehren. Nichts, womit er tagtäglich zu tun hatte und was er so ohne weiteres wegstecken konnte. Etwas völlig Außergewöhnliches, jenseits seiner Erfahrungen.«

»Nun ja«, sagte Morris. »Da war schließlich der Fund der Leiche auf der Baustelle und die Verzögerung der Arbeiten dort …«

Die Seemöwe flatterte unter plötzlichem Flügelschlagen von ihrem Pfosten auf, und sowohl Morris als auch ich zogen instinktiv die Köpfe ein, als sie über uns hinwegschoss. Hinterher taten wir beide so, als wäre nichts gewesen.

»Die Verzögerung der Arbeiten dort war nichts, weswegen sich Adams den Kopf hätte zerbrechen müssen«, sagte ich, »es sei denn, die Arbeiter unter seinem Kommando hätten sie verursacht. Doch dem war nicht so. Die Verzögerung wurde verursacht durch etwas, das außerhalb seiner Verantwortung lag. Fletcher ist der Baustellenleiter, und ihm mag es vielleicht schlaflose Nächte bescheren, doch von Adams’ Standpunkt aus wäre es eine willkommene Entschuldigung für alle anderen Fehler. Er konnte jedes Problem unter den Arbeitern auf die Entdeckung von Madeleine Hexhams Leiche schieben. Nicht, dass er an jenem ersten Morgen, als wir dort waren, sonderlich aus der Fassung gebracht gewirkt hätte. Nein, er hat über etwas anderes gebrütet, oder irgendetwas anderes hat sich seither ereignet, das ihn bedrückte und dazu veranlasste, wieder mit dem Nagelkauen anzufangen – einer Angewohnheit, die er längst abgelegt hatte.

Noch eine Sache. Der Chirurg hat von einer Mischung aus Weingeist und Bier gesprochen, die sich im Magen des Toten befunden hat. Wir wissen aus dem Mund von Mrs Riley, der Wirtin, dass Adams des Abends in Pubs verkehrt hat. Doch Mrs Riley hat auch gesagt, dass Adams nie sturzbetrunken nach Hause gekommen ist. Das lässt mich vermuten, dass er normalerweise keinen hochprozentigen Alkohol getrunken hat. Doch wenn wir glauben, was man uns eben in Wapping erzählt hat, dann hat er am Freitagabend so viel Bier und Schnaps in sich hineingeschüttet, dass er stockbetrunken war und den Heimweg nicht mehr gefunden hat und in die Themse gefallen ist. Klingt das nach den normalen Gewohnheiten von Jem Adams?«

»Nein, Sir.« Morris schüttelte den Kopf. »Denken Sie, dass er mit jemand anderem zusammen getrunken hat, Sir? Mit jemandem, der die Rechnung bezahlt hat? Es war Freitagabend und das Ende der Arbeitswoche. Ich wage zu behaupten, dass Adams nicht mehr viel Geld übrig hatte und auf den Zahltag wartete, den Samstag. Er hat nicht Nein gesagt, wenn jemand anders sich erboten hat, ihn einzuladen. Also versorgt dieser Jemand ihn mit Schnaps, den Adams normalerweise nicht zu sich nimmt, und macht ihn auf diese Weise betrunken.«

»Er bietet ihm an, ihn nach Hause zu begleiten, und an einer stillen Stelle, im Schutz des Nebels, stößt er ihn ins Wasser«, führte ich den Gedanken zu Ende.

»Er packt eine Latte oder irgendwas, das ihm gelegen kommt, und stößt ihn ins Wasser zurück, als er versucht, an Land zu gelangen«, schlug Morris vor. Seine Begeisterung wuchs, während wir das Bild des Tathergangs malten. »Kniet nieder und packt ihn bei den Haaren, um seinen Kopf unter Wasser zu drücken. Der Mann ist sturzbetrunken. Es kann nicht sonderlich schwer gewesen sein.« Morris vollführte die Pantomime eines Mannes, der einen anderen ertränkt.

»Aber warum, Morris? Warum?«

»Adams hat uns belogen, Sir. Oder sagen wir, er hat die Informationen nicht herausgerückt, die er besaß. Und Informationen hatte er. Was auch immer es war, er dachte darüber nach und kaute sich darüber die Fingernägel ab, bis er zu einem Entschluss kam, was zu tun war.«

»Und dann«, sagte ich leise, »ging er wie ein Narr damit zu dem Mörder, in der Hoffnung, einen finanziellen Vorteil daraus zu schlagen. Vielleicht nur deswegen, weil es das Ende der Woche war, wie Sie angemerkt haben, und er seinen gesamten Lohn bereits ausgegeben hatte und kein Geld mehr besaß für ein Pint. Doch unser Mörder hat bereits einmal getötet, und man kann nur einmal gehängt werden. Es gibt also nichts, was ihn daran hindern könnte, ein zweites Mal zu morden. Erpressung, Morris. Da haben wir unser Motiv. Ich könnte darauf schwören, auch wenn wir nichts von alledem beweisen können. Ich wünschte, ich hätte einen Grund, eine zweite Autopsie zu verlangen, diesmal durchgeführt von Carmichael. Aber ich habe keinen Grund, Herrgott noch mal!«

Die Seemöwe – oder eine, die ganz genauso aussah wie die erste – war zurückgekehrt und landete flatternd ein Stück von uns entfernt. Ich glaubte, etwas Vertrautes an ihrem missmutigen Gesichtsausdruck zu erkennen, und fragte mich kurz, ob es, falls sie eine arme Seele in ihrer nach Fisch stinkenden Brust beherbergte, die von Adams war.

Ich kehrte zum Scotland Yard zurück und klopfte an Dunns Tür.

»Ah, Ross«, sagte der Superintendent und schob die Papiere auf seinem Schreibtisch beiseite. »Sie sollten sich mit, äh …«, er kramte einen bekritzelten Notizzettel hervor, »… Inspector Watkins … Sie sollten sich mit Watkins von der St. James Division in Verbindung setzen. Er besitzt einige Informationen über Ihren Dr. Tibbett, die möglicherweise von Interesse sein könnten.«

»Tibbett?«, rief ich. »Ich mache mich sofort auf den Weg! Allerdings sollte ich Ihnen zuvor sagen, dass ich soeben aus Wapping zurückkomme und fürchte, dass der Zeuge Jem Adams endgültig für uns verloren ist.«

Dunn wusste genau, was ich damit meinte. »Hat man die Leiche gefunden?«

»Ja, Sir. Der Chirurg sagt, er wäre ertrunken. Seine Leiche wurde bei Niedrigwasser am Ufer gefunden. Er war offensichtlich betrunken, als er in den Fluss gestürzt ist. Keine weiteren Verletzungen.«

»Sehr schade«, sagte Dunn. »Nun ja, da kann man nichts machen, schätze ich.«

»Mit Verlaub, Sir – ich denke, trotz der Ergebnisse der Autopsie, dass jemand nachgeholfen hat. Ich bin sicher, dass Adams von jemandem eingeladen wurde, der die Rechnung bezahlt hat. Nachdem Adams sturzbetrunken war, hat unser Unbekannter ihn nach Hause begleitet und ihn in einem geeigneten Moment in den Fluss gestoßen. Allerdings habe ich keinerlei Beweise für diese Theorie.«

»Dann sollten Sie besser welche suchen«, lautete Dunns Kommentar.

Ich ging zu Morris und beauftragte ihn, ein paar Männer zu organisieren und in den Pubs am Fluss in der Gegend, wo die Leiche von Adams gefunden worden war, Erkundigungen einzuziehen, ob jemand am Freitagabend Adams gesehen hatte und falls ja, in wessen Begleitung.

»Das ist, als würden wir eine Nadel in einem Heuhaufen suchen, Sir«, sagte Morris trübselig.

»Ich weiß, Sergeant, ich weiß. Wenn die anderen Gäste Adams gesehen haben, werden sie es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht sagen. Trotzdem bleibt uns nichts anderes übrig, als zu fragen. Wir haben eine kleine Chance. Selbstverständlich wäre es möglich, dass unser Killer sich in einer Verkleidung mit Adams getroffen hat. Es ist sogar sehr wahrscheinlich. Wenn wir also eine Beschreibung erhalten, dann führt sie uns vielleicht noch weiter von der richtigen Spur weg. Aber auf diese Weise können wir wenigstens sicher sein, dass Adams nicht allein getrunken hat, und wenn sein Begleiter für alle ein völlig Fremder war, deutet dies auf ein faules Spiel hin, ganz gleich, was der Chirurg von Wapping dazu sagt. Also geben Sie sich Mühe, Morris.«

Und mit diesen Worten machte ich mich auf den Weg in die Gegend von Picadilly.

In der Vine Street herrschte große Geschäftigkeit. Aus dem Eingang zur Polizeiwache drang schrilles Geschnatter, das meiste von Frauen zweifelhaften Charakters, die laut protestierend darauf beharrten, respektable Bürgerinnen zu sein, die ungerechtfertigt von den Constables auf dem Nachhauseweg oder während einer Besorgung festgenommen worden seien. Unter ihnen befanden sich auch zwei junge Mädchen, die ich auf kaum mehr als zehn Jahre schätzte. Doch das war bereits alt genug, um sie auf die Wache zu bringen. Sie waren in schmuddelige Kleidung gehüllt, und ihre Gesichter waren kantig, ihre Leiber mager. Sie standen dicht beieinander und beobachteten die Vorgänge ringsum mit nervösen Blicken. Ich war wütend, dass sie hier waren, nicht nur wegen der Art, wie sie von ihren Familien ausgenutzt und an Männer verkauft wurden, die begierig auf ihre Dienste waren, sondern auch, weil ein Polizeirevier nicht der richtige Ort war, an den man derart unglückliche Opfer der Gesellschaft verbringen sollte, um sie einer Strafe zuzuführen.

Watkins war ein Mann von etwa vierzig Jahren mit einer gelblichen Hautfarbe und einer weltverdrossenen Aura. Er empfing mich, als wäre mein Besuch eine weitere Bürde auf seinen überlasteten Schultern. Er lauschte leidenschaftslos, während ich den Zweck meines Besuchs erläuterte und sagte, dass er meines Wissens imstande sei, mir ein paar Informationen über einen gewissen Dr. Tibbett zukommen zu lassen.

»Ja, ich kann Ihnen etwas über einen Dr. Tibbett verraten«, antwortete er. »Ob es allerdings der gleiche Dr. Tibbett ist, werden Sie schon selbst herausfinden müssen. Das Ganze ist zwei Jahre her. Es gibt mehrere teure Freudenhäuser in diesem Bezirk. An jenem speziellen Abend stolperte ein neuer Kunde eines dieser Etablissements auf dem Korridor über den ermordeten Leichnam einer der Frauen, die dort arbeiteten. Sie war halb ausgezogen und schlecht versteckt hinter ein paar Vorhängen. Der unglückliche Kunde war sozusagen ein Novize in derartigen Etablissements. Wäre er erfahrener gewesen, und hätte er einen klareren Kopf behalten, würde er gemacht haben, dass er von dort verschwindet, so schnell er nur konnte. Stattdessen und zu unserem Glück geriet er in Panik und rannte schreiend auf die Straße hinaus, bevor die Bordellwirtin ihn daran hindern konnte. Dort lief er durch Zufall direkt in eine Polizeistreife. Sie kamen sofort ins Haus und hinderten jeden anderen Gast daran, es zu verlassen. Sie können sich vorstellen, welchen Aufruhr sie damit verursachten.«

Watkins erlaubte sich ein schwaches Grinsen.

Ich konnte es mir in der Tat sehr gut vorstellen. Nach außen hin respektable Männer in allen möglichen Berufen, die sich vor Angst in die Hosen machten und auf jede nur erdenkliche Weise versuchten, das Etablissement zu verlassen, ohne ihren Namen und ihre Adresse zu nennen.

»Tibbett war unter ihnen?«, vermutete ich.

»Das war er. Ich wurde zum Tatort gerufen, und ich habe ihn persönlich vernommen. Ich erinnere mich sehr gut an ihn. Ich habe noch nie zuvor so viel hochgestochene Rhetorik und Bombast gehört. Er bestritt vehement, als Kunde in jenem Etablissement gewesen zu sein, und wehrte sich mit allen Mitteln gegen die Aufnahme seiner Personalien. Er sagte, er wäre lediglich zu Forschungszwecken dort gewesen, weil er die organisierte Unmoral in London im Hinblick auf eine Kampagne untersuchen wollte, welche zum Ziel hätte, die betroffenen jungen Frauen zu bessern und aus diesem Sumpf zu erretten. Ich sage Ihnen, Mr Ross, unter diesen Umständen hört man so gut wie jede Ausrede, doch das verschlug mir die Sprache!«

»Haben Sie den Mörder gefunden?«

»Haben wir. Es war ein Bursche namens Phelps. Er war Stammgast in diesem Freudenhaus und hatte immer nach dem gleichen Mädchen gefragt. Wie es hin und wieder geschieht, wenn ein Mann ein regelmäßiger Kunde bei der gleichen Prostituierten ist, wurde er ein wenig besitzergreifend und entwickelte ein gewisses Maß an Eifersucht. Phelps war ein Geschäftsmann und auf seinem Gebiet einigermaßen erfolgreich, doch er war gehemmt in Gegenwart von Frauen. Er hatte angefangen, sich einzubilden, dass diese Prostituierte ihn mehr mochte als ihre anderen Kunden, und er hatte ihre professionellen Worte der Freude, wenn er sie besuchen kam, als echte Zuneigung interpretiert. Er wollte, dass sie das Bordell verließ, und ihr eine Wohnung einrichten, doch sie weigerte sich. Vor jenem fatalen Abend hatte sie mit den anderen Mädchen über Phelps geredet und ihnen erzählt, dass sie ihn eigentlich überhaupt nicht mochte und sein Verhalten eigenartig fand, hartnäckig und ein wenig bedrohlich. Als Phelps schließlich einsah, dass sie nicht mit ihm kommen würde, geriet er in Rage und erdrosselte sie.«

»Erdrosselte sie?«, fragte ich rasch.

»Ja, erdrosselte sie«, wiederholte Watkins ein wenig irritiert. »Er war nur allzu begierig darauf, uns alles zu erzählen. Wie nicht anders zu erwarten, bedauerte er später seine Bereitwilligkeit zu einem Geständnis und versuchte, alles zu widerrufen. Der Richter und die Geschworenen ließen es ihm aber nicht durchgehen, und er wurde zum Galgen verurteilt. Es war ein ziemlich trauriger Fall, glauben Sie mir. Phelps war ein einsamer Mann, und die Gesellschaft dieser Mädchen war die einzige weibliche Gesellschaft, die er je gekannt hatte.«

Watkins zeigte einen Funken von Interesse. »Ist Tibbett in Ihren Mordfall verwickelt?«

»Das weiß ich nicht. Bisher kann ich lediglich sagen, dass ich reichlich Verdächtige, aber keinerlei Beweise habe. Doch das, was Sie mir über Tibbett erzählt haben, klingt äußerst interessant.«

»Geben Sie mir Bescheid, falls Tibbett Ihr Mann ist«, sagte Watkins. »Ich empfand ihn als grässlichen, alten Hochstapler.«

Als ich die Wache in der Vine Street verließ, war der Nebel noch dichter geworden, als ich befürchtet hatte. Die wirbelnden Schwaden hatten einen kränklichen Gelbton, als wären sie vollgesogen mit Nikotin, und sie hüllten alles und jeden ein, raubten einem den Atem und betäubten die Sinne. Fußgänger eilten vorbei, hustend und mit Schals vor den Gesichtern, einige auch nur mit Taschentüchern in dem vergeblichen Bemühen, den alles durchdringenden Gestank abzuwehren. Droschken fuhren in dem gleichen langsamen Tempo vorbei wie die Fuhrwerke der Brauereien. Die Luft roch faul. Verzerrte Geräusche hallten körperlos durch die Luft, ohne dass man ihren Ursprung hätte erkennen können. Es war, als wäre ich von Geistern umgeben.

Inmitten dieser Umgebung, während ich in Richtung Scotland Yard eilte, so schnell ich konnte, hörte ich meinen Namen rufen. Ich blieb stehen, schaute mich vergeblich nach dem Rufer suchend um und fühlte mich schließlich veranlasst, selbst zu rufen: »Ja? Wer ist da? Hallo?«

»Ich bin es, Inspector Ross!«, antwortete eine Stimme, die zwar nicht vertraut war, doch die ich erst vor kurzer Zeit gehört hatte. Eine Gestalt materialisierte im Zwielicht, und ich sah, dass es der Assistent von Carmichael war, ausgerechnet.

»Ich bin es, Sir, Scully«, sagte er, als ich seinen Gruß nicht erwiderte. »Sie kennen mich, Sir. Ich bin der Gehilfe von Dr. Carmichael.«

Der Nebel kroch mit feuchten, kalten Fingern hinten in meinen Mantelkragen und an meinem Rückgrat nach unten – oder war es Scullys Gegenwart, die dieses Gefühl verursachte? Ich hatte vorher nicht einmal seinen Namen gekannt, doch selbstverständlich kannte ich sein teigiges Gesicht und die Art, wie er sich bewegte, als würde er über dem Boden schweben. Was zum Teufel hatte er hier zu suchen, und wieso hatte er mich erkannt? Wie hatte er mich überhaupt sehen können, wo ich ihn nicht sehen konnte? Hatten seine Augen die Gabe, das Zwielicht zu durchdringen, im Gegensatz zu den meinen?

»Was bringt Sie an einem solchen Tag in diese Gegend?«, erkundigte ich mich gereizt.

»Glauben Sie mir, Sir, ich wäre bestimmt nicht draußen, wenn ich nicht arbeiten müsste«, erwiderte er. »Ich wage zu sagen, dass es bei Ihnen das Gleiche ist, Sir.«

»Ja, sicher. Verzeihen Sie bitte, aber ich habe es eilig«, sagte ich, wandte mich ab und setzte mich wieder in Bewegung.

»Vielleicht bleiben die Bösewichter ja bei diesem Wetter in ihren Schlupflöchern, Inspector Ross, wie?«, rief Scully mir hinterher.

Vielleicht aber auch nicht, dachte ich mürrisch. Der dichte Nebel bot jedem Deckung, der unerkannt bleiben wollte.

Anonymität verschleiert Geheimnisse. Was hatte Scully nach draußen in den Nebel getrieben? Andererseits hatte selbst die aufrechteste Säule der Gesellschaft ihre Geheimnisse, über die sie eifersüchtig wachte. Wie jener alte Halunke Tibbett, der sich einbildete, mich tadeln zu können, als er mich bei meiner Unterhaltung mit Lizzie gesehen hatte, und seinerseits des Nachts durch die Bordelle zog und sich Gott weiß welchen perversen Vergnügungen hingab. Watkins’ Informationen waren eine richtige Offenbarung gewesen, dachte ich, während ich meinen Weg zum Scotland Yard fortsetzte. Dennoch musste ich darauf achten, mich nicht von meiner persönlichen Abneigung auf eine falsche Fährte führen zu lassen und in eine Sackgasse zu geraten. Watkins’ Bericht über den Mord im Bordell und Dr. Tibbetts Anwesenheit unter den Kunden hatte mich erschüttert, doch die unglückselige Prostituierte war stranguliert und nicht erschlagen worden. Ein mehrfacher Mörder tötet nicht unbedingt immer auf die gleiche Weise, doch häufig ist es so. Er hat eine Methode gefunden, die für ihn funktioniert, und er bleibt dabei. Bei dem früheren Mord jedoch hatten vielleicht die Umstände eine besondere Rolle gespielt. Hätte er wild auf die Prostituierte eingeschlagen, hätte sie vielleicht noch Zeit gefunden, laut genug zu schreien, um Aufmerksamkeit zu erregen. Beim Strangulieren war das sicher nicht der Fall. Andererseits – warum hatte der Mörder die arme Miss Hexham dann nicht ebenfalls stranguliert?

Wie verlockend es auch sein mochte, diese schmutzige, doch nicht ungewöhnliche (und auf ihre Weise erbärmliche) Geschichte von der dunkleren Seite des Lebens in London mit dem Mord an Madeleine Hexham zu verbinden, den ich gegenwärtig untersuchte, es konnte auch unnötige Komplikationen hervorrufen. Tibbett erschien mir jedoch als eine Gemeinsamkeit, und bei einer Arbeit wie der meinen geht man Gemeinsamkeiten grundsätzlich nach.

Was, wenn ich den Mord an Madeleine Hexham und der Prostituierten zunächst einmal beiseiteließ und mich stattdessen auf den rätselhaften Tod von Jem Adams konzentrierte? Wie passte Tibbett dort rein? Wäre er das Risiko eingegangen, sich mit Adams in einem billigen Pub zu treffen und mit ihm zusammen zu trinken, wo er offensichtlich ein Fremder war und selbst in Verkleidung auffallen musste? Seine beeindruckende Gestalt und sein auffallendes Verhalten zusammen mit der silbernen Mähne würden gewiss in Erinnerung bleiben. Nein, das schien unmöglich. Andererseits ist ein verzweifelter Mann erfinderisch, und ein Mann, der nichts mehr zu verlieren hat, geht höhere Risiken ein … abgesehen davon gab es solche Dinge wie Perücken.