KAPITEL VIER
Elizabeth Martin
Nicht weiter überraschend schlief ich nach einem langen und anstrengenden Tag tief und fest. Ich hörte nicht, wie Frank nach Hause kam. Allerdings war ich immer eine Frühaufsteherin gewesen, und ich erwachte wie üblich gegen sechs Uhr morgens.
Mein Instinkt war, aus dem Bett zu springen und mich an meine Hausarbeit zu begeben. Es war ein eigenartiges Gefühl, das nicht zu müssen, weil jemand anders sich darum kümmerte. Ich drehte mich also um und versuchte, noch einmal einzuschlafen, doch es war vergeblich. Nicht nur die Gewohnheit drängte mich zum Aufstehen, sondern auch der Lärm, der durch das Fenster drang, welches ich unten einen Spaltbreit offen stehen lassen hatte. Ich hörte die Geräusche der Großstadt, die zum Leben erwachte. Karren und Fuhrwerke rollten lärmend vorüber, und Arbeiter auf dem Weg zu ihren Arbeitsstätten riefen sich Grüße zu. Es bemühte sich noch nicht einmal jemand, leise zu sein. Dann hörte ich einen lauten Ruf: »Miii-hilch! Frische Miii-hilch direkt von der Kuuu-huh!«
Zu meinem Erstaunen folgte dem Ruf ein klagendes Muhen. Eine Kuh, mitten im modernen London? Ich wickelte mich aus den Laken, rannte zum Fenster, schob es nach oben, so weit es ging und beugte mich hinaus.
Und tatsächlich, unten auf der Straße stand eine Kuh, gehalten an derbem Zaumzeug von einem Jungen. Es war ein niedergedrücktes Tier mit stumpfem Fell und Rippen, die hervorstanden wie die Drähte eines Toasthalters. Ich beobachtete, wie ein junges Mädchen mit einer übergroßen Morgenhaube und Schürze und einem bauchigen Krug in den Händen die Kellertreppe unseres Hauses hinaufeilte. Sie sprach zu einer Frau, die neben der Kuh stand und einen kleinen dreibeinigen Hocker in der Hand hielt. Die Frau stellte den Hocker neben die Kuh, setzte sich darauf und begann, das Tier zu melken. Die Milch spritzte in ein Metallgefäß, das eine Art Messbecher zu sein schien. Als er voll war, erhob sich die Frau wieder und goss den Inhalt des Messbechers in den Krug, den das Mädchen ihr hinhielt. Eine Münze wechselte den Besitzer. Die Dienerin trug den Krug vorsichtig wieder hinunter in das Souterrain, und die Kuh mitsamt ihrer Begleitung trottete weiter. Einige Minuten darauf ertönte der Ruf »Miii-hilch! Frische Miii-hilch!« aus der nächsten Straße, gefolgt von dem schwermütigen Muhen des armen Tiers, das auf diese Weise herumgeführt wurde.
Ich wandte mich vom Fenster ab und schaute mich im Zimmer um. In einer Ecke war ein Toilettentisch, und ich schätzte, dass irgendwann heißes Wasser nach oben gebracht werden würde, doch ich hatte keine Ahnung wann. Jetzt noch einmal ins Bett zu gehen, kam überhaupt nicht in Frage. Ich beschloss, dass ich wenigstens nach unten gehen und das Haus erkunden könnte. Rasch zog ich mich an und trat leise hinaus in den Gang.
Niemand war hier oben bereits unterwegs oder, soweit ich sehen konnte, im Erdgeschoss. Die Diener mussten alle im Souterrain sein, aus dem ich die Dienerin mit dem Krug hatte kommen sehen. Sie frühstückten wahrscheinlich gerade. Salon und Speiseraum waren leer. Ein weiteres kleines Zimmer im hinteren Teil des Hauses ließ mich vermuten, dass dort später am Vormittag das Frühstück serviert wurde. Fleischtabletts, Untersetzer für heiße Schüsseln und ein Heißwasserbad standen auf einem langen Sideboard aus Eiche. Das letzte Zimmer im Erdgeschoss befand sich unmittelbar hinter der Eingangstür auf der rechten Seite, und ich hatte es noch nicht gesehen. Ich drehte den Knopf und drückte die Tür auf.
Zwei augenblicklich vertraute Gerüche stiegen mir in die Nase: Buchleder und kalter Zigarrenrauch. Dies musste die Bibliothek sein, in die sich Frank und Dr. Tibbett nach dem Abendessen zurückgezogen hatten. Der Raum lag im Dunkeln; also nahm ich mir die Freiheit, die schweren Vorhänge beiseitezuziehen und das morgendliche Sonnenlicht hereinzulassen. Es war ein kleines Zimmer mit Bücherregalen auf allen Seiten und einem schweren, mit Leder überzogenen Schreibtisch in der Mitte, vor dem ein Sessel stand. Zwei bequemere Ohrensessel, ebenfalls lederbezogen, standen zu beiden Seiten des Kamins. Mich gelüstete danach, einen genaueren Blick auf die Bücher zu werfen, und ich stellte mir vor, wie ich mich in einen der Ohrensessel zurückzog, um zu lesen – falls Mrs Parry mir lange genug frei gab dazu.
Über dem Kamin hing das Porträt eines attraktiven Mannes mit dichtem dunklem Haar und einer Aura des Wohlstands. Irgendetwas an seinem Gesicht kam mir vertraut vor, und ich erinnerte mich vage an einen Besucher in unserem Haus, als ich noch sehr jung gewesen war, vielleicht sechs Jahre oder so.
Ich wusste, dass ein Besucher kommen würde, lange bevor er eintraf, weil Mary Newling ununterbrochen in ihrer Küche stand und Speisen vorbereitete. Kessel mit Suppe wurden täglich neu aufgekocht, um zu verhindern, dass sie sauer wurde. Es gab einen wunderbaren Kuchen, ein Monster seiner Art, dicht gespickt mit Trockenfrüchten und verziert mit gerösteten Nüssen. Ich durfte nicht von ihm naschen unter Androhung der Strafe, kein einziges Stück davon zu bekommen, wenn er später angeschnitten wurde. Fliegen surrten über dem Fleischtresor, in dem eine große rosige Schweinskeule in ihrem eigenen Blut auf den Tag der Ankunft des Besuches wartete, um zum Bäcker geschickt zu werden, der sie in seinem Ofen garen würde, sobald er mit seinen Broten fertig war. Es war eine Stimmung wie Weihnachten, selbst wenn dieser Feiertag noch Monate in der Zukunft lag.
Ich war während der Ankunft des Besuchers in meine Kinderstube verbannt, und alles, was ich von ihm sehen konnte, war sein Kopf, als er aus dem zweisitzigen Ponywagen stieg, der geschickt worden war, um ihn abzuholen. Molly Darby, mein Kindermädchen, lehnte neben mir aus dem Fenster und sah zu ihrer großen Enttäuschung nicht mehr von ihm als ich. Später wurde ich nach unten gerufen in unser kleines Wohnzimmer, um dem Fremden vorgestellt zu werden. Molly straffte meine Kleider, glättete mein Haar und instruierte mich: »Benimm dich wie eine Lady, Miss!«
Es war ein guter Rat, den ich leider unmöglich befolgen konnte, weil ich nicht die geringste Ahnung hatte, wie sich eine Lady in Gesellschaft benahm. Niemand hatte es mir je beigebracht.
Ich sprang unter großem Lärm die Holztreppe hinunter und platzte brennend vor Neugier ins Zimmer. Doch dann blieb ich wie angewurzelt stehen, als ich vor mir den großen Mann mit dem traurigen Gesicht erblickte, der ganz in Schwarz gekleidet war. Für einen Augenblick war ich völlig verwirrt. Doch seine Augen sahen mich freundlich an, und mein Anflug von Schüchternheit legte sich wieder.
»Wen haben wir denn da?«, fragte er. »Du bist also die kleine Miss Martin. Es ist mir eine Ehre, deine Bekanntschaft zu machen.«
»Ich bin Miss Martin«, informierte ich ihn, indem ich die mir dargebotene Hand ergriff und fest schüttelte. »Aber meistens werde ich nur Lizzie genannt, wissen Sie? Wenn ich älter bin, werde ich Miss Martin sein und eine Haube mit Kirschen darauf tragen, wenn ich in die Kirche gehe.«
Mein Vater, der am Kamin saß, gab ein leises Stöhnen von sich, doch der Besucher kicherte.
»Du musst ihr und mir vergeben, Josh«, sagte mein Vater. »Sie ist ein wildes, kleines Ding und eine komplette Ignorantin; doch das ist meine Schuld.«
Ich sah eine Karaffe aus geschliffenem Glas mit Gläsern auf einem kleinen Beistelltisch. Ich wusste, dass sie einen teuren Wein enthielt und nur bei ganz besonderen Gelegenheiten hervorgenommen wurde. Ich dachte, dass die Gesichtsfarbe meines Vaters rosiger war als für gewöhnlich, doch das kam vielleicht daher, dass er am Feuer saß.
»Was ist daran zu vergeben?«, entgegnete Josh. »Sie scheint mir ein aufgewecktes Kind zu sein und sieht Charlotte sehr ähnlich.«
»Ja«, sagte mein Vater knapp. Ich dachte, dass er die Bemerkung lieber nicht gehört hätte, selbst wenn er mit dem Besucher einer Meinung war. Ich bemerkte einen Anflug von Schmerz, der über sein Gesicht huschte, und ich begriff, dass er an meine tote Mutter dachte. Ich ging zu ihm und ergriff seine Hand, und er küsste mich auf die Stirn.
Ich musste an die Worte des Besuchers von damals denken, während ich hier stand, weil ich meiner Meinung nach und dem Bild von meiner Mutter oben in meiner Kammer nach zu urteilen, ihr nicht gerade besonders ähnlich sah. Andererseits hatte ich sie nie kennen gelernt, und unser Besucher hatte sie allem Anschein nach gekannt.
Er musste mein Pate gewesen sein, Josiah Parry, der hier in Öl an der Wand hing. Ich nehme an, dass man mir damals seinen Namen gesagt hat, doch ich hatte ihn nicht behalten. Woran ich mich bis heute erinnerte, war, dass er mir bei seiner Abreise einen Shilling geschenkt und mir zugeflüstert hatte: »Versteck ihn gut, Lizzie, und spar dein Geld für die Haube mit den Kirschen.«
Der Shilling war ein kleines Vermögen für mich. Leider wurde er ausgegeben und nicht gespart, und ich habe nie eine Haube mit Kirschen besessen. Ich stand vor dem Porträt des Besuchers von damals und runzelte die Stirn. Mrs Parry hatte erzählt, dass ihr Mann uns nie in Derbyshire besucht hätte. Doch Josiah Parry war zumindest einmal dort gewesen. Hatte sie das etwa vergessen – oder wusste sie überhaupt nichts davon?
Auf dem Kaminsims stand eine kleine Uhr aus Elfenbein und Goldbronze, und daneben lag eine Schachtel mit Sicherheitsstreichhölzern. Zu Hause hatte Mary Newling immer die altmodischen Lucifers gekauft, und ich hatte diese Tradition fortgesetzt, als ich groß genug geworden war, um diesen Einkauf zu erledigen. Sie waren ein wenig preiswerter als die anderen.
Ohne Vorwarnung hörte ich, wie die Tür hinter mir klickte und jemand erschrocken ächzte. Ich drehte mich um und erblickte eine überraschte Dienerin mit einem Kehrblech und einem Handfeger.
»Verzeihung, Miss!«, sagte sie. »Ich habe nicht damit gerechnet, bereits jemandem zu begegnen.«
»Ich wollte sowieso gerade gehen«, sagte ich verlegen. »Ich bin nur nach unten gekommen, weil ich dachte, ich finde vielleicht jemanden, der mir heißes Wasser aufs Zimmer schicken kann.«
»Jawohl, Miss, ich werde dafür sorgen, dass es sogleich aufgesetzt wird.« Sie starrte mich noch immer völlig perplex an.
»Ich bin Miss Martin, die neue Gesellschafterin von Mrs Parry«, sagte ich zu ihr.
»Ja, Miss, das habe ich mir bereits gedacht.«
Einem Impuls folgend fragte ich: »Waren Sie schon hier angestellt, als Miss Hexham die Gesellschafterin von Mrs Parry war?«
»Ja, Miss.«
»Sie alle müssen sehr überrascht gewesen sein, als Miss Hexham so unerwartet das Haus verließ.«
»Ja, Miss. Aber Mrs Parry hat uns die Sachen gegeben, die Miss Hexham zurückgelassen hat.«
Mit ›uns‹ meinte sie wohl sämtliche Diener. Mir ging ein Bild durch den Kopf, wie sie sich über die Sachen meiner Vorgängerin hermachten. Es war kein freundlicher Anblick.
»Soll ich dann jetzt weitermachen?«, fragte die Dienerin und hielt ihr Kehrblech und den Handfeger hoch.
Ich hätte der jungen Frau keine Fragen stellen dürfen. Ohne Zweifel würde sie mein Interesse unten bei den anderen Dienstboten verkünden. Außerdem hielt ich sie von der Arbeit ab. Also fragte ich einfach, wie ihr Name lautete. Sie antwortete, sie hieße Wilkins. Ich dankte ihr und ließ sie mit ihrer Arbeit allein, während ich in mein Zimmer zurückkehrte. Bewohner, die früh am Morgen durch das Haus geisterten und dem Personal auf die Füße traten, waren offensichtlich ein richtiges Ärgernis. Ich musste lernen, länger zu schlafen.
Wilkins hatte ihr Versprechen nicht vergessen, wie mir rasch klar wurde. Ich war noch keine zehn Minuten wieder in meinem Zimmer, als ein Klopfen das Eintreffen des Mädchens mit der Haube ankündigte, das ich bereits früher gesehen hatte. Es mühte sich mit einer Kanne heißen Wassers ab. Aus der Nähe betrachtet war sie nicht älter als zwölf Jahre, höchstenfalls dreizehn. Sie war knochig gebaut und besaß das verkniffene Gesicht von Kindern, die schlecht ernährt aufwachsen und wahrscheinlich von Müttern auf die Welt gebracht worden waren, die selbst halb verhungert waren. Das Alter eines solchen Mädchens zu schätzen, fällt stets schwer.
»Hallo, wie lautet dein Name?«, fragte ich sie.
»Bessie, Miss«, antwortete sie und schob sich die Haube nach hinten, die beim Arbeiten tief in die Stirn gerutscht war.
»Oh«, sagte ich und nahm ihr die Milchkanne ab, bevor sie etwas davon verschütten konnte. Es war schwer, sich vorzustellen, wie ihre kleinen, dünnen Ärmchen den Eimer aus dem Souterrain die drei Stockwerke hinauf bis in mein Zimmer hatten tragen können. »Du heißt also Elizabeth, genau wie ich.«
Bei diesen Worten bekam ich einen genauso sprachlosen Blick zur Antwort wie bereits zuvor von Wilkins. Bessie runzelte die Stirn und verkündete, sie hätte nicht die geringste Ahnung, wer jemals Lizzie zu ihr gesagt hätte. Soweit sie wüsste, war ihr Name stets Bessie gewesen. Auf diesen Namen hatte man sie im Waisenhaus getauft.
Aha, also ein Kind von der Wohlfahrt. Wenigstens war es der Institution gelungen, sie von der Straße fernzuhalten, und sie war gründlich genug ausgebildet worden, um in die Dienste eines fremden Hauses zu treten.
»Ich habe dich schon einmal gesehen, Bessie«, sagte ich zu ihr, »von meinem Fenster aus. Du hattest gerade Milch gekauft.«
Bessie schniefte abfällig. »Ich halte nicht viel von Milch. Mrs Simms kauft sie immer, weil sie sehen kann, dass sie von einer Kuh stammt, und weil sie nicht gepanscht wurde. Es gibt auch noch einen Mann, der mit einem Karren und Milchkannen vorbeikommt, aber Mrs Simms sagt, dass sie ihm nicht vertraut.«
»Und warum magst du die Kuhmilch nicht, Bessie?«
»Sie stinkt«, antwortete Bessie. »Das kommt von dem, was sie den armen Tieren zu fressen geben. Salatstiele und Abfall von den Märkten meistenteils. Ich trinke diese Milch nie.«
Ich konnte mir gerade noch so ein Lachen verkneifen – ich wollte sie nicht verletzen. Trotz ihres verwahrlosten Äußeren schien sie mir eine sehr robuste und unabhängige kleine Person zu sein.
»Kannst du dich an deine Eltern erinnern, Bessie? An die Zeit vor dem Waisenhaus?«
»Nein«, antwortete Bessie einsilbig.
»Das tut mir leid«, sagte ich.
Bessies Miene hellte sich auf. »Ich wurde in einer Kirche gefunden. In einer Schachtel von Newman Pork Pies. Deswegen haben sie mir den Namen Newman gegeben. Ich hatte keinen anderen. Aber ich weiß nicht, warum sie mich Bessie genannt haben. Es könnte schlimmer sein, oder?«
Mit dieser philosophischen Feststellung verschwand sie durch die Tür.
Als ich schließlich zum zweiten Mal nach unten ging, war es bereits nach acht Uhr. Das Frühstück war in dem kleineren Speiseraum vorbereitet, genau wie ich angenommen hatte. Frank Carterton war bereits dort und aß mit großem Appetit und offensichtlich ohne jede Nachwehen von seinen nächtlichen Aktivitäten. Seine Stimmung hatte sich in der Tat bemerkenswert verbessert, seit ich ihn am vergangenen Abend zum letzten Mal gesehen hatte, und sein Anfall von Missmut war völlig vergessen.
»Guten Morgen!«, begrüßte er mich beinahe überschwänglich. »Sie sind eine Frühaufsteherin, wie ich sehe. Tante Julia werden Sie allerdings nicht vor Mittag hier unten sehen, glauben Sie mir.« Er deutete auf die Fleischtabletts, die inzwischen mit ein paar kalten Keulen beladen waren. »Ich fürchte, ich habe das beste Fleisch bereits gegessen, und Sie werden feststellen, dass der Rest ziemlich dürftig ist. Aber an diesem Knochen dort ist noch jede Menge gekochter Schinken. Andernfalls kann ich auch Mrs Simms’ ausgezeichnete Omeletts empfehlen.«
»Der Schinken reicht sicher«, sagte ich.
»Ich schneide Ihnen ein paar Scheiben ab«, bot er mir an, sprang auf, packte das Fleischmesser und begann, große Mengen Fleisch vom Knochen zu schneiden, bis ich ihn bat aufzuhören.
»Ich versuche, mir über die Haushaltsführung klar zu werden«, sagte ich zu ihm, als wir beide saßen und er erneut anfing zu essen. »Also die Simms, Mann und Frau, sind in der Stellung von Butler und Köchin …«
»Mrs Simms ist die Haushälterin«, sagte Frank undeutlich. »Sie besteht darauf, so genannt zu werden. Sie führt den Haushalt, und sie kommandiert den armen alten Simms herum. Ein richtiger Drache, unsere gute Mrs Simms.«
Die Vorstellung amüsierte mich nicht wenig, dass der leidenschaftslose und unglaublich würdevolle Butler von einem Drachen von Frau herumkommandiert wurde. Ich war neugierig, Mrs Simms kennen zu lernen, und fragte mich, ob sie je ihre Küche verließ.
»Es gibt außerdem zwei Dienstmägde«, fuhr Frank mit vollem Mund fort. »Die Namen weiß ich leider nicht.«
»Ich bin einer von ihnen bereits begegnet. Sie heißt Wilkins.«
»Dann wissen Sie bereits mehr als ich. Wilkins also, hm? Ich wette ein Pfund gegen einen Penny, dass die andere Perkins heißt. Das sind meiner Erfahrung nach typische Namen für Dienstmägde.«
»Und ein Küchenmädchen, ein Waisenkind namens Bessie.«
»Der kleine Pilz!«, rief Frank aus und legte Messer und Gabel nieder. »Sie meinen sicher das dürre Balg, das ich hin und wieder aus dem Souterrain flitzen sehe. Sie trägt eine zu große Haube und eine weiße Schürze und sieht aus wie ein Pilz, dem Beine gewachsen sind – das ist etwas, woran nicht einmal Mr Darwin gedacht hätte. Also heißt sie Bessie der Pilz.«
»Nicht Pilz. Bessie Newman«, verbesserte ich ihn. »Sind das alle?«
»Alle bis auf Nugent, eine weitere furchterregende Frauensperson. Aber kein schlechter Mensch, beileibe nicht.«
Ich war ein wenig verärgert ob Franks arroganter Art, über das Personal zu sprechen, das sich um das Wohlergehen seiner Tante und seiner eigenen Person kümmerte. Doch ich hielt ihm zugute, dass er es nicht besser wusste und seine Worte nicht unfreundlich gemeint waren.
Die Tür öffnete sich, und ein bezauberndes Aroma von Kaffee eilte Simms voraus, der sich, nachdem er die silberne Kanne hingestellt hatte, bei mir erkundigte, ob ich eine heiße Mahlzeit aus der Küche wünsche.
»Danke, nein«, sagte ich. »Der Schinken reicht für heute Morgen vollkommen aus.«
Er reichte mehr als aus. Ich hatte alle Mühe, meinen Teller leer zu essen. Frank hatte mir eine großzügige Portion aufgelegt, und ich hatte das Abendessen von gestern noch nicht ganz verdaut. Frank hingegen aß, als hätte er seit einer ganzen Woche nichts mehr bekommen.
»Es gibt keine Nieren, Simms, wie ich annehme, oder doch?«, fragte er den Butler sehnsüchtig.
»Ich werde Mrs Simms sogleich danach fragen, Sir.«
Nachdem der Butler gegangen war, warf ich einen Blick auf die große Standuhr in der Ecke des Zimmers. »Um wie viel Uhr müssen Sie im Foreign Office an Ihrem Schreibtisch sein, Mr Carterton?«, fragte ich.
»Oh, ich denke, wir sollten uns mit Vornamen anreden«, sagte er. »Du nennst mich Frank, einverstanden? Du bist das Patenkind meines Onkels Josiah, und damit sind wir immerhin so etwas wie Cousin und Cousine, oder nicht?«
»Einverstanden«, sagte ich.
»Was meinen Schreibtisch angeht, so habe ich heute Morgen frei, damit ich meinen Schneider besuchen kann.«
»Den Schneider besuchen?«, fragte ich und konnte meine Verblüffung nicht verbergen.
»Ja. Ich brauche einen Satz Garderobe für Russland, weißt du? Anschließend muss ich zu meinem Schuhmacher. Man hat mir geraten zu warten, bis ich dort bin, bevor ich Winterstiefel kaufe. Wenn man im Winter auf die Jagd geht, benötigt man offensichtlich Filzstiefel. Klingt eigenartig, nicht wahr? Aber Ledersohlen bleiben am Eis kleben. Jedenfalls erzählen mir das alle.«
»Ich schätze, ich würde Sie zu gerne in Ihren Filzstiefeln im russischen Schnee auf der Jagd sehen, Mr … äh, Frank«, sagte ich trocken. Ich konnte nicht anders. Das Bild wollte so ganz und gar nicht zu dem jungen, verwöhnten Mann passen, der mir gegenüber am Frühstückstisch saß.
»Man kann auf die Bärenjagd gehen«, informierte er mich. »Ich freue mich schon jetzt darauf.«
»Bären? Was willst du denn mit einem Bären anfangen, solltest du einen erlegen?«
»Essen, wieso? Es heißt, Bärensteaks würden ganz ausgezeichnet schmecken. Genauso wie Bärensuppe, aber das kann ich mir nicht vorstellen. Bärensteaks schon viel eher.«
Ich legte Messer und Gabel nieder, zum einen Teil, weil ich beim besten Willen nichts mehr hinunterbekam, und zum anderen, weil ich mir diesen Unsinn nicht länger anhören wollte.
»Frank?«, fragte ich ihn. »Dürfte ich eine Bitte äußern?«
»Selbstverständlich, zu deinen Diensten.« Ich glaubte zu erkennen, wie sein Blick trotz seiner höflich-gefälligen Art ein wenig misstrauisch wurde.
»Danke sehr. Es ist Folgendes … Mir ist durchaus bewusst, dass es dich amüsiert, Dr. Tibbett und manchmal auch deine Tante Julia zu necken, aber lass bitte diese albernen Versuche, auch mich auf den Arm zu nehmen. Du bist ohne Zweifel ein absolut vernünftiger Mensch.«
Er lehnte sich zurück und musterte mich aufmerksam. »Du bist äußerst scharfsinnig, Elizabeth Martin.«
»Ich sage, was ich denke; das ist alles.«
Da ich ihm nun schon einmal gesagt hatte, dass ich offen war, beschloss ich weiter vorzupreschen. »Ich frage mich beispielsweise, wie lange du schon gewusst hast, dass du nach St. Petersburg versetzt wirst. Es kommt mir ein wenig eigenartig vor, dass du es deiner Tante ausgerechnet im Beisein von zwei Gästen, einer davon eine Fremde, erzählen musstest. Ich hätte geglaubt, dass man so etwas unter vier Augen bespricht. Oder wolltest du vielleicht ihre erste, möglicherweise recht gefühlsbetonte Reaktion vermeiden?«
Ich fragte mich, ob ich zu offen gewesen war. Frank hätte allen Grund gehabt, sich gegen meine Frage zu verwahren, doch er lächelte nur.
»Ah, du hast einen verdammt hellen Kopf auf den Schultern, und einen gut aussehenden noch obendrein.«
»Hör auf damit!«, befahl ich augenblicklich. »Ich bin nicht hübsch. So viel sehe ich in jedem Spiegel.«
»Ich habe nicht gesagt, dass du hübsch bist«, entgegnete er. »Nein, du bist nicht hübsch, nicht im herkömmlichen, leeren Sinn des Wortes. Du bist attraktiv – ja, ich denke, das ist der richtige Ausdruck. Du hast ein intelligentes, äußerst ausdrucksstarkes Gesicht. Was das betrifft, möchte ich dir einen Rat geben: Du solltest deine Gefühle hier in diesem Haus für dich behalten. Ich mag ja hin und wieder den Narren spielen, doch das ist nur eine Maske, weißt du?«
Bevor ich etwas darauf erwidern konnte, kehrte Simms mit einer Schüssel gehackter und scharf gewürzter Nieren zurück. Frank machte sich prompt darüber her, als hätte er an diesem Tag noch nichts gegessen.
Als wir wieder allein waren, fragte ich ihn: »Warum soll ich meine Gefühle für mich behalten? Würde es mich vielleicht einfältig aussehen lassen?« Und bevor er antworten konnte, fügte ich einem plötzlichen Gedanken folgend hinzu: »Hat das vielleicht etwas mit Madeleine Hexham zu tun?«
Frank hörte auf zu essen und lehnte sich einmal mehr zurück. Sein Gesichtsausdruck wurde nachdenklich. »Unter uns gesagt, man wusste nie so recht, was Maddie Hexham dachte. Sie gab nie eine Meinung zu irgendwas von sich. Sie spielte völlig vorhersehbar Karten. Ich habe nie gesehen, dass sie ein Buch gelesen hätte, abgesehen von irgendwelchem Mist aus der Leihbücherei. Ich vermute, Tante Julia fand sie ziemlich langweilig.«
»Warst du überrascht, als Madeleine verschwand?«
»Ich war verärgert, weil Tante Julia mich zur Polizeiwache geschickt hat, um unsere braven Gesetzeshüter über Maddies unerklärliches Verschwinden zu informieren. Ich war nicht wirklich überrascht, als Tante Julia den Brief erhielt, in dem Maddie uns gestand, dass sie durchgebrannt war. Ich führte es auf diese Schundliteratur zurück, die sie immer las. Es ging ständig nur um diese Themen. Maddie war eine recht hübsche Person – oder wäre es mit ein wenig mehr Leben in den Gesichtszügen gewesen; doch wie ich bereits sagte, falls sie überhaupt ein Gehirn besaß, dann machte sie keinerlei Anstalten, es zu gebrauchen. Selbst in ihrem Brief verriet sie uns herzlich wenig. Weder wohin sie gegangen war noch mit wem. Vielleicht fürchtete sie, wir könnten versuchen, sie zur Rückkehr zu bewegen, doch das hätten wir sicher nicht getan. Tante Julia fühlte sich verraten, und Dr. Tibbett war in seinem Element und beschwor die ewige Verdammnis auf sie herab.«
Frank schob ein Stück Niere auf seinem Teller umher. Vielleicht hatte selbst er inzwischen sein gastronomisches Limit erreicht. »Hör zu«, sagte er. »Ich kann einfach nicht anders, als den alten Tibbett hin und wieder auf den Arm zu nehmen. Er ist kein Dummkopf, und man darf es nicht übertreiben. Und Tante Julia will ich eigentlich nicht necken. Sie war immer gut zu mir.«
»Glaubst du, dass Dr. Tibbett als Mann für deine Tante geeignet ist, oder war das auch nur eins von deinen Spielchen? Du scheinst die Vorstellung recht amüsant zu finden.«
Frank lachte auf. »Hör zu«, sagte er. »Gestatte mir, dir eine Tasse Kaffee einzuschenken. Dort im Kännchen ist Milch.«
Ich erinnerte mich an das, was Bessie über die Milch gesagt hatte, und spähte mit bösen Befürchtungen in das Kännchen. Der Inhalt hatte eine blau-graue Färbung, doch ich konnte nichts riechen, nicht, ohne die Nase über die Öffnung zu halten, und das durfte ich nicht in Franks Beisein. Also beschloss ich, meinen Kaffee schwarz zu trinken.
Frank stemmte die Ellbogen auf die Tischplatte, verschränkte die Hände unter dem Kinn und fixierte mich mit einem für seine Verhältnisse sehr ernsten Blick.
»Du weißt wahrscheinlich, dass Tante Julia die zweite Frau von Onkel Josiah war.«
»Ich wusste es nicht mit Sicherheit, aber ich habe mir schon so etwas gedacht«, erwiderte ich. »Da wäre auf der einen Seite der Altersunterschied. Außerdem hat sie mir erzählt, dass Josiah Parry meinen Vater nie besucht hätte. Ich hingegen erinnere mich an mindestens einen Besuch, als ich noch sehr jung war. Also denke ich, dass Tante Parry entweder nichts davon gewusst oder es vielleicht vergessen hat. Wie dem auch sei, mein Patenonkel war allein zu Besuch. Ich erinnere mich, dass er sehr traurig wirkte und nie lächelte, obwohl er sehr freundlich zu mir war. Vielleicht war er in Trauer, vielleicht um seine erste Frau?«
»Ich wusste es!«, sagte Frank bewundernd. »Du bist scharfsinnig! Ich hatte Recht! Ich muss aufpassen, was ich sage. Du erinnerst dich an alles und kommst hinter jedes Rätsel.«
»Ich bin eine Fremde«, verteidigte ich mich. »Es ist doch nur natürlich, dass ich sorgfältig zuhöre und versuche, hinter die Dinge zu steigen, wenn ich kann.«
»Nun ja, ich will dir etwas über meine Tante Julia erzählen. Du wirst erkennen, dass die Dinge nicht ganz so sind, wie sie zu sein scheinen. Meine Mutter und ihre Schwester waren die Töchter eines Landgeistlichen. Ich glaube, das ist einer der Gründe, warum Tante Julia die Gesellschaft von Dr. Tibbett genießt. Es frischt ihre Erinnerungen an den geistlichen Haushalt ihrer Kindheit auf. Mein Großvater hatte nichts außer seiner Pfründe, um seine Familie zu ernähren, und sie waren so arm wie Kirchenmäuse – bitte, entschuldige den Ausdruck. Meine Mutter brannte mit meinem Vater durch, und ich muss leider sagen, dass er auch kein guter Versorger war. Tante Julia wollte nicht in die gleiche Falle tappen. Ich bin nicht sicher, wie sie Onkel Josiah kennen gelernt hat, doch er war ein Witwer und wohlhabend, und sie hatte nicht vor, ihn wieder von der Angel zu lassen. Versteh mich nicht falsch – sie war ihm eine exzellente Ehefrau. Sie interessierte sich für seine geschäftlichen Angelegenheiten, möglicherweise auch, weil ihr bewusst war, dass sie ihn überleben könnte. Tante Julia trägt eine Maske, Elizabeth. Sie tut so, als würde sie sich für nichts außer Whist und ihre eigene Bequemlichkeit interessieren, doch ihr größtes Interesse ist, sicherzustellen, dass immer genügend Mittel für diesen Komfort zur Verfügung stehen. Deswegen finde ich den Gedanken so amüsant, dass sie Dr. Tibbett heiraten könnte. Er glaubt es jedenfalls. Ich hingegen weiß, dass es nicht so ist. Sie würde niemandem die Kontrolle über ihr Geld anvertrauen, verstehst du? Tibbett wird irgendwann herausfinden, dass er sich mit den zwei Abenden die Woche, dem Whist-Spiel und seiner Rolle als Verkünder aller Weisheit abfinden muss. Ich glaube, er wird sie akzeptieren, sobald er es merkt. Wie ich bereits sagte, Tibbett ist kein Dummkopf.«
»Führt denn die Firma meines Patenonkels immer noch Stoffe aus dem Fernen Osten nach England ein?«
Frank schüttelte den Kopf. »Das war mit seinem Tod vorbei. Doch er hatte noch eine Reihe anderer geschickter Investitionen getätigt. Er hat große Mengen Immobilien gekauft, bevor er starb. Die Pacht sicherte ihm ein regelmäßiges Einkommen. Meine Tante hat das Vermögen weiter vermehrt. Sie besitzt eine ganze Menge Häuser. Vor Kurzem hat sie einen Teil davon mit hohem Gewinn verkauft. Die Eisenbahngesellschaft braucht sie für den neuen Bahnhof, weißt du?«
»Ja, ich weiß«, räumte ich ein. »Ich … Wir, das heißt die Kutsche, ist gestern auf dem Weg hierher an der Baustelle vorbeigekommen.«
»Tante Julia hatte Häuser dort. Die Eisenbahngesellschaft hat einen guten Preis für jedes Objekt in diesem Bereich geboten, nur um anschließend alles abzureißen«, sagte Frank in vertraulichem Tonfall. »Ich glaube, Tante Julia war mehr als zufrieden mit dem Gewinn, den sie beim Verkauf gemacht hat.«
Ich war verblüfft über diese Neuigkeiten. Dann fiel mir der Karren mit seiner traurigen Fracht wieder ein. Ich überlegte, ob ich ihn erwähnen sollte. Doch vielleicht glaubte Frank dann, ich hätte einen Spleen für das Makabre, und so hielt ich den Mund.
Frank erhob sich und warf seine zusammengeknüllte Serviette auf den Tisch. »Ich muss jetzt gehen. Ich habe viel zu tun heute … du weißt schon.«
Er ließ mich allein und höchst nachdenklich zurück.