KAPITEL SIEBEN
Ben Ross
Ich erkannte sie in dem Augenblick, als ich sie erblickte. Sie wusste natürlich nicht mehr, wer ich war, bis ich es ihr sagte. Doch dann erinnerte sie sich an jenen Knaben bei der Grube. In dieser von Menschen wimmelnden Stadt hatte ich furchtbare Dinge gesehen, und mein Herz war oftmals schwer gewesen bei dem Gedanken an das Elend, unter dem so viele litten. Dass ich ausgerechnet jetzt, während mein Verstand um die Gewalt kreiste, die einem Menschen widerfahren war, und um die Schwierigkeiten der vor mir liegenden Aufgabe, Lizzie Martin begegnet war und herausgefunden hatte, dass sie sich an jenen Augenblick vor zwanzig Jahren erinnerte, hatte meine Stimmung auf eine Art und Weise beflügelt wie sonst nichts auf der Welt.
Doch es gefiel mir nicht, dass sie in jenem Haus war. Dem Haus, aus dem Madeleine Hexham in den Tod spaziert war. Madeleine Hexham war Gesellschafterin von Mrs Parry gewesen, der Besitzerin. Und nun war Lizzie Martin in Miss Hexhams Fußstapfen getreten. Ich erinnerte mich an die kleinen Kinderstiefel mit den leicht abgewetzten Sohlen und dem gewienerten Oberleder von damals, und ich hoffte inbrünstig, niemals ein Paar von Lizzies Stiefeln in den Händen zu halten und darüber zu spekulieren, welches Schicksal ihrer Eigentümerin widerfahren war, wie ich es bereits so oft bei anderen getan hatte.
Die Tatsache, dass wir Glück gehabt und die tote Frau beinahe sofort identifiziert hatten, war ein großer Ansporn für unsere Arbeit, obwohl, wie Morris bereits früh bemerkt hatte, es irgendjemanden geben musste, der sie vermisste. Erkundigungen auf Polizeiwachen in den inneren Stadtbezirken hatten ergeben, dass eine junge Frau, auf die die allgemeine Beschreibung passte, von einem gewissen Mr Francis Carterton (von dem ich inzwischen wusste, dass seine Freunde und Verwandten ihn Frank nannten) auf der Wache von Marylebone als abgängig gemeldet worden war. Und auf jenen Mr Carterton wartete ich am frühen Mittwochabend in meinem Büro. Ich hoffte, dass er die Tote zweifelsfrei identifizieren würde.
Die Tagschicht war bereits gegangen, und die Nachtschicht traf ein. Im Gebäude war alles ruhig. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und spitzte Bleistifte, um meine Konzentration zu schärfen. Bald hatte ich ein ganzes Bataillon in sauberer Linie auf dem Tisch liegen, doch ich war noch kein Stück weiter. Carterton mochte zwar die Identität der Toten bestätigen, doch das Rätsel ihres unerklärten Verschwindens war noch größer geworden. Sie war vor zwei Monaten als vermisst gemeldet worden und seit höchstens zwei Wochen tot. Die Beamten von Marylebone hatten nicht gerade Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt auf der Suche nach ihr. Sie hatten einige Erkundigungen in der Gegend eingezogen, doch niemand schien sich an etwas zu erinnern, geschweige denn, dass er präzise Informationen hätte liefern können. Der Superintendent der Abteilung hatte angemerkt, dass sie früher oder später schon auftauchen würde, lebend oder tot.
Ich war irritiert von der allem Anschein nach beiläufigen Art der beteiligten Beamten, doch ich war nicht sicher, ob ich es hätte besser machen können. Andauernd verschwinden Menschen in großen Städten. Nicht alle von ihnen sind Männer. Es war in gewisser Hinsicht schwieriger für eine junge Frau, ganz gewiss für jemanden von Miss Hexhams Hintergrund; nichtsdestotrotz verschwanden sie von Zeit zu Zeit. Das einzige signifikante Detail im Polizeibericht war, dass sie keinerlei persönliche Besitztümer oder Kleidung mitgenommen hatte. Der letzte Absatz des Beamten, der die Anzeige aufgenommen hatte, lautete denn auch mit einem Unterton von Resignation: »Flusspolizei benachrichtigt.«
Selbstmord. Das war es, was er vermutet hatte. Doch in Abwesenheit einer Leiche konnte er nicht sicher sein.
Jetzt hatten wir einen Leichnam, allerdings nicht den einer Selbstmörderin. Sie hatte sich gewiss nicht selbst den Schädel eingeschlagen oder versucht, ihre Überreste unter einem verrotteten Teppich in einem Abrisshaus in Agar Town zu verstecken. Konnte es sein, dass wir auf einer falschen Spur waren? War die tote Frau Madeleine Hexham oder war sie jemand anders, der ihr nur ähnlich sah? Die Kleidung, in der unsere Tote gefunden worden war, passte jedenfalls zu dem, was Madeleine laut Beschreibung zum Zeitpunkt ihres Verschwindens getragen hatte. Seit meinem Besuch am Dorset Square hatte ich weitere Informationen erhalten, doch anstatt den Nebel des Ungewissen zu lichten, hatte er sich weiter verdichtet. Da war zum einen der ominöse Brief, von dem Mrs Parry gesprochen hatte. Hatte Madeleine Hexham ihn aus freien Stücken geschrieben, oder war sie vielleicht gezwungen worden? Wenn der Brief doch nur aufbewahrt worden wäre! Er hätte uns wenigstens so viel verraten können. Alles sah mehr und mehr danach aus, als hätte ich entsetzlich Recht gehabt und als wäre das Opfer in den Wochen zwischen seinem Verschwinden und seinem Tod irgendwo festgehalten worden. Ich war nicht sicher, wie viel Licht Carterton auf die Sache werfen konnte, wenn überhaupt.
Ich hatte eine Nachricht ans Foreign Office geschickt und ihn gebeten, zu mir nach Scotland Yard zu kommen. Ich schätzte, dass es ihm so herum lieber war, als wenn ich ins Foreign Office gegangen wäre und Neugier bei seinen Kollegen geweckt hätte. Obwohl ich keine Uniform trug, wusste ich, dass man mich sofort als Polizeibeamten erkannt hätte, genauso wie bei meinem Besuch mit Morris auf der Baustelle in Agar Town. Ob reich oder arm, ehrbar oder kriminell, Angestellter beim Foreign Office, Diener, Butler oder Bauarbeiter – sie alle erkannten einen Gesetzeshüter, sobald er auch nur in Sicht kam, und keiner mochte es besonders, einen in seiner Nähe zu haben.
Ich war neugierig auf Frank Carterton. Als er schließlich an meine Tür klopfte und eintrat, entsprach er im Großen und Ganzen dem, was ich mir vorgestellt hatte: ein schicker junger Gentleman und typischer Stadtmensch. Frauen fanden ihn wahrscheinlich attraktiv und begehrenswert. Er hatte eine kultivierte Jungenhaftigkeit, die beim schwachen Geschlecht wohl Entzücken hervorrief und bei mir augenblicklich Feindseligkeit. Seine Kleidung entstammte den Händen geschickter Schneider und hatte sicherlich eine hübsche Stange Geld gekostet. Ich hatte nicht gewusst, dass das Foreign Office seine jüngeren Beamten so fürstlich entlohnte, doch möglicherweise verfügte er über weitere, private Einnahmequellen. Seine Tante, bei der er wohnte, litt jedenfalls nicht unter Geldsorgen. Langfristig hatte er Aussichten auf ihr Erbe; daran zweifelte ich nicht. Mehr als einmal waren Morde begangen worden, um derartige Hoffnungen zu erhalten.
»Hören Sie!«, fing er an, warf seinen Stock und den Hut auf den Tisch und setzte sich unaufgefordert. »Das ist eine widerliche Geschichte, Inspector. Ich nehme an, es besteht nicht der geringste Zweifel daran, dass es sich bei der Toten um Madeleine Hexham handelt, oder?«
»Es ist in der Tat eine unangenehme Geschichte«, stimmte ich ihm zu. »Und wir nehmen mit einiger Bestimmtheit an, dass es sich bei der Toten um Madeleine Hexham handelt, ja.«
»Mit einiger Bestimmtheit? Die Polizei redet wie die Anwälte! Sie wollen nie, dass man ihren Namen unter etwas setzt, ohne dass sie sich ein Türchen offen halten, um sich notfalls herauszuwinden.«
Ich nahm Cartertons Erfahrungen mit Anwälten interessiert zur Kenntnis. Ich war nicht gänzlich anderer Ansicht als er, doch ich fragte mich unwillkürlich, wo er seine Erfahrungen gesammelt hatte.
»Ich darf Ihnen verraten«, fuhr Carterton fort, »dass meine Vorgesetzten im Foreign Office alles andere als erbaut sind.« Er schob seinen Stuhl zurück und musterte meinen Schreibtisch mit finsterer Miene. »Ich musste es leider melden. Morgen steht es in jeder Zeitung und in jedem Klatschblättchen.«
Ich fragte mich, wie viel von seiner Unbill von der Nachricht über Miss Hexhams Ermordung herrührte und wie viel aus der Sorge, dass Spekulationen und neugieriges Interesse von Zeitungen seine eigenen Zukunftsaussichten beeinträchtigen könnten. Der Eindruck, den ich im Moment gewann, war, dass Letzteres wichtiger war für Carterton. Das machte es mir leichter, ihn nach dem zu fragen, was mir durch den Kopf ging. Ich musste mir nicht länger Gedanken wegen seiner Gefühle machen. Ich zog im Gegenteil sogar eine perverse Befriedigung aus der erwarteten Antwort auf meine nächste Frage.
»Die Kleidung stimmt sicherlich mit der Beschreibung der Kleidung der Vermissten überein, und wir haben ein Taschentuch mit den passenden Initialen bei der Toten gefunden. Dennoch würden wir es zu schätzen wissen, wenn Sie sich überwinden könnten, einen genaueren Blick auf die Tote zu werfen und ihre Identität zu bestätigen.«
Wie ich erwartet hatte, reagierte er entsetzt. Er starrte mich offenen Mundes und aus weit aufgerissenen Augen an. »Einen Blick auf sie werfen?«, ächzte er. »Sie meinen, die … die Überreste ansehen?«
Ganz genau, mein stolzer Lackaffe, dachte ich bei mir. Laut verlieh ich meinem Bedauern Ausdruck, dass ich ihm solche Unannehmlichkeiten bereitete.
»Ich kann Sie nicht zwingen, Sir, es zu tun. Doch in Angelegenheiten wie diesen müssen wir, nun ja, absolut sicher sein, und tatsächlich könnte jeder irgendwie in den Besitz ihres Kleids gekommen sein. Es gibt genügend Frauen mit der gleichen Statur. Ich kann wohl kaum Mrs Parry bitten, die Identifizierung vorzunehmen, oder? Die verschwundene Miss Hexham scheint keine Verwandten zu haben, oder falls doch, dann leben sie weit weg von hier. Wenn ich richtig verstanden habe, kam sie aus der Gegend von Durham, sehr weit oben im Norden, und dort jemanden zu finden und nach London zu rufen …«
»Ja, ja!«, schnappte er. »Ich verstehe Ihr Problem. Es ist mir klar, dass Sie meine Tante nicht bitten können, die Tote zu identifizieren. Ich bin der … der einzige Mann im Haus; also ist es meine Aufgabe. Ist sie … Ist sie …«, er brach ab. »Ist sie stark entstellt?«, stieß er schließlich hervor.
»Recht stark, Sir, fürchte ich. Sie ist seit etwa zwei Wochen tot, vielleicht ein wenig kürzer.«
»Zwei Wochen? Aber sie wird schon viel länger vermisst! Hören Sie, sind Sie sicher, dass diese arme Frau Madeleine Hexham ist? Das ergibt doch keinen Sinn!«
Sein Gesicht hatte sich zornig gerötet. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Die Fakten verwirrten ihn genauso sehr wie mich. Seine natürliche Reaktion war, dass wir einen Fehler gemacht und ihn unnötigerweise herbestellt hatten. Er war im Foreign Office in Verlegenheit gebracht worden. Selbst wenn sich alles als Hirngespinst herausstellte, würde es in diesen geweihten Hallen des Anstands nicht vergessen werden. »Ah, der junge Carterton!«, würden die Kommentare noch viele Jahre lauten. »Da gab es doch mal Ärger wegen einer toten Frau, die die Polizei nicht identifizieren konnte, nicht wahr?«
Vielleicht, dachte ich bedauernd, war es gar nicht so eigenartig, dass niemand die Polizei in seinem Leben haben wollte. Wir rührten das Wasser auf, und es wurde niemals wieder richtig klar.
»Der Arzt, der den Leichnam untersucht hat, sagt, dass längstens zwei Wochen seit dem Eintreten des Todes vergangen sind«, erklärte ich und flüchtete mich damit in bekannte Fakten. Er konnte nicht dagegen argumentieren. »Wir haben noch keine Erklärung für diese Tatsache, doch unser Ziel ist es, am Ende eine zu finden. Zuerst jedoch müssen wir absolut sicher sein, dass es sich um die richtige Person handelt.«
Carterton fuhr sich nervös mit der Hand über den Mund. »Ich verstehe. Wäre sie seit acht Wochen oder länger tot, wäre es sinnlos, sie anzusehen, um nicht zu sagen abstoßend. Selbst bei zwei Wochen … Was gewinnen Sie dadurch, dass ich mir die Tote ansehe? Wenn sie bis zur Unkenntlichkeit entstellt ist …«
Ich ignorierte das Flehen in seiner Stimme und seinen Ausdruck. »Oh, ich hoffe doch, dass es nicht so schlimm ist. Aber ich darf nicht mehr dazu sagen, Sir. Ich darf Sie nicht beeinflussen.«
»Wurde sie … Hat der Pathologe …?«
»Ja, Sir, aber Sie werden nichts von seiner Arbeit bemerken. Nur ihr Gesicht, Sir. Der Rest wird unter Tüchern verhüllt sein.«
Carterton sah zur Seite, schluckte mühsam und rieb sich erneut mit der Hand über den Mund. »Nun gut«, murmelte er schließlich. »Wann und wo?«
»In einem Leichenschauhaus, Sir. Wir können sofort hingehen. Ich habe darauf gebaut, dass ein Gentleman wie Sie der Polizei gerne behilflich sein würde, und habe Bescheid gegeben, dass man uns dort erwarten soll.«
»Selbstverständlich möchte ich der Polizei behilflich sein!« Er brüllte beinahe. »Aber … Ach, vergessen Sie’s! Gehen wir und bringen es hinter uns!«
Er stand auf, packte seinen Stock und seinen Hut, setzte den Hut in einer entschlossenen Bewegung auf und strich mit der flachen Hand über die Krone.
»Das ist ein sehr schöner Stock, Sir!«, bemerkte ich.
Es war tatsächlich ein sehr schönes Exemplar, mit einem silbernen Griff, in den ein Wappen eingraviert war.
Carterton sah mich ausdruckslos an, dann seinen Stock. »Oh. Der Stock. Er hat meinem verstorbenen Vater gehört, das Einzige, was er mir hinterlassen hat. Das hier …«, er deutete auf das Wappen, »das ist das Abzeichen seines Regiments.«
Ohne es zu bemerken, hatte er mir wertvolle Informationen über sich gegeben. Er hatte selbst nicht einen Penny außer seinem mageren Gehalt. Demzufolge war er vom Wohlwollen seiner Tante abhängig. Sie war es, die seine Kleidung bezahlt hatte, die teuren Stiefel und das Leinen. In seiner Situation war er verwundbar, nicht nur, was die Meinung seiner Vorgesetzten im Foreign Office anging, sondern auch in Bezug auf die Tante, die seine Rechnungen bezahlte.
Er wurde sichtlich düsterer und nervöser, als wir uns unserem Ziel näherten. Nachdem wir das Gebäude betreten hatten, wurde er sogar regelrecht streitlustig, womit er, wie ich vermutete, seine Angst verbergen wollte, und bewegte sich mit wenig überzeugender Großspurigkeit, wohl aus dem gleichen Grund.
»Kommen Sie. Wo ist sie?«, drängte er und schaute sich angewidert um. »Diesem Haus haftet ein unangenehmer Geruch an.«
»Das wird das Gas sein, Sir«, murmelte ich.
Das verwirrte und beunruhigte ihn – verständlicherweise – noch mehr, bis ich auf die Gasflamme deutete, die im Hintergrund leise zischte und einen schleichenden Gestank verbreitete.
»Oh«, sagte er. »Ja. Natürlich. Das Gas, richtig …«
Das Tageslicht war rasch verblasst, und auf unserem Weg hierher waren wir dem Laternenanzünder auf seiner Tour durch die Straßen der Stadt begegnet. Gasbeleuchtung draußen in den Straßen war ein Segen. Gasbeleuchtung im Haus ist meiner Meinung nach ein zweischneidiges Schwert. Der Haushalt der Parrys, so war mir aufgefallen, hatte Gasbrenner. Es war ein reiches Haus in der Hauptstadt der Nation. Meine eigene Wirtin konnte sich keinen Gasanschluss leisten und behalf sich mit Lampen und Kerzen, was mir durchaus recht war. Ich für meinen Teil betrachte Gasbrenner im Haus als ungesund und gefährlich obendrein. Ein Bergmann hingegen ist sich den Gefahren einer offenen Flamme nur allzu bewusst.
Carmichael war nicht da, doch sein unheimlicher Assistent erwartete uns. Er trug noch immer seine Metzgerschürze und stand in der Nähe des lakenbedeckten Leichnams, während er Carterton gehässig musterte. Meinem Blick wich er aus. Er wusste, dass er mich nicht beeindrucken konnte. Ich sah meinen Begleiter an. Carterton war so weiß wie eine Porzellanschüssel und betupfte seine Stirn und seine Oberlippe mit einem Taschentuch.
Ich erbarmte mich seiner. »Nun, Sir, geben Sie uns Bescheid, wenn Sie so weit sind. Sehen Sie genau hin, und wenn Sie nicht ganz sicher sind, sagen Sie das bitte. Es ist uns lieber, Sie melden Zweifel an, als wenn Sie eine Meinung äußern, hinter der Sie nicht voll und ganz stehen.«
Er nickte und bedeutete Carmichaels Assistenten mit einem Wink, das Laken zurückzuschlagen. Als der Mann mit einer geschickten Bewegung seiner langen Finger tat wie ihm geheißen, entwich der Geruch des Todes, jene einzigartige süßliche Fäulnis, welche nicht einmal das Gas aus den Brennern zu übertünchen vermochte. Nur das Gesicht der Toten wurde enthüllt, genau wie ich es Carterton versprochen hatte. Das Laken bedeckte ihren Leib bis zum Hals, und ihr Schädel war in ein weißes Tuch gehüllt, das die schlimmsten Verletzungen bedeckte. Ein paar flachsblonde Haarsträhnen lugten darunter hervor. In der weißen Umrahmung wirkten die von Blutergüssen übersäten, fleckigen, eingesunkenen Gesichtszüge mit den halb geschlossenen Augen und Lippen mitsamt dem purpurgrauen Ton des einsetzenden Verfalls irgendwie irreal. Es war eine groteske Maske ohne jede Spur von Leben darin – der Geist war längst aus dieser Hülle geflohen. Sie war nur noch eine rasch verwitternde Hülle, doch nichtsdestotrotz zum Weinen. Ich fragte mich, ob es realistisch von mir gewesen war, Carterton hierherzubringen und eine positive Identifikation zu erwarten. Ich warf einen nervösen Blick zu ihm.
Er schwankte, und ich wollte ihn bereits auffangen, doch dann riss er sich zusammen, und so viel musste ich dem Mann lassen, er überstand seine grausige Pflicht tapfer. Sein Blick streifte über die verwüsteten Gesichtszüge, wanderte kurz zur Seite und kehrte dann wieder zu ihr zurück. Er betrachtete sie lange und sorgfältig.
»Das ist Madeleine Hexham«, sagte er zu guter Letzt. »Zuerst war ich nicht sicher. Sie ist nicht … Sie sieht nicht so aus wie früher. Aber jetzt bin ich sicher, dass sie es ist. Absolut sicher.« Er kramte in seiner Rocktasche nach dem Taschentuch.
Ich nickte dem Assistenten zu, das Laken wieder über das Gesicht der Toten zu decken. Carterton wandte sich zur Seite, wischte sich über den Mund und würgte plötzlich. Der Assistent hatte wohl bereits mit einer ähnlichen Reaktion gerechnet, denn er hielt ihm eine Metallschale unters Kinn, die genau zu diesem Zweck bereitgestanden hatte. Carterton leerte den gesamten Inhalt seines Magens hinein.
Der Assistent meldete sich zu Wort, und ich zuckte unwillkürlich zusammen, weil er üblicherweise schwieg. Möglicherweise fühlte er sich zu einem Kommentar verpflichtet; schließlich vertrat er Dr. Carmichael.
»Sehr traurig, das, Gentlemen«, sagte er. Seine Stimme war so weich wie seine Hände und so ölig wie sein glattes Haar. »Jugend und Schönheit zur Strecke gebracht. Wirklich sehr, sehr traurig, Sirs.«
Er genoss die Szene. Er genoss Cartertons Unwohlsein, meine ohnmächtige Ablehnung und die Autorität, die diese makabre Umgebung und Carmichaels Abwesenheit ihm vorübergehend verschafft hatten.
»Werden Sie weitere Personen herbringen, um die Verstorbene anzusehen?«, erkundigte er sich und deutete auf eine Art und Weise auf die Tote, die ich fast als besitzergreifend empfand. Als wäre er ein Schausteller und Madeleine Hexham sein kostbarstes Ausstellungsstück.
»Nein!«, antwortete ich gepresst. »Ich bezweifle nicht, dass das Gericht seine Genehmigung geben wird, sie zu entfernen und zu begraben.«
»Wie Sie meinen, Sir«, sagte er leise.
Wir ließen ihn bei der Toten stehen, und er sah uns hinterher, als wir gingen.
Carterton war still, bis wir zurück im Yard waren, wo er ein Protokoll mit dem Inhalt unterzeichnete, dass er den Leichnam als Madeleine Hexham identifiziert hatte. Das Ansetzen der Feder schien ihn wieder zur Besinnung zu bringen. Vielleicht, weil es ein vertrauter Vorgang war.
Carterton legte den Stift nieder und schnüffelte an seinem Jackenärmel. »Der Geruch dieser Räume klebt an mir.« Sein Ton war verdrießlich.
»Ja, Sir. Wir stellen das auch häufig fest. Doch bis Sie zu Hause sind, ist er wieder verflogen. Wenn nicht, lassen Sie den Diener die Überkleider gründlich lüften.«
Er erhob sich. »Es tut mir leid, dass ich mich so zum Narren gemacht habe vorhin«, sagte er verlegen. »Mich so zu übergeben.«
»Keine Sorge deswegen, Sir; das ist vollkommen natürlich. Ich danke Ihnen nochmals für Ihre Hilfe. Wir wissen das sehr zu schätzen«, sagte ich zu ihm.
»Wäre das alles?«, fragte er mit hoffnungsvoll erhobener Stimme.
»Nur noch ein paar schnelle Fragen. Haben Sie eine Idee, warum Miss Hexham das Haus an jenem Tag ohne Vorwarnung verlassen hat und ohne ein Stück Gepäck?«
»Wieso?«, entgegnete er überrascht. »Nein, damals nicht mehr als jeder andere von uns auch. Aber sie hat meiner Tante einen Brief geschrieben, wie Sie wissen, in dem sie uns den Grund mitgeteilt hat.«
»Haben Sie diesen Brief gesehen, Sir?«
»Ich habe ihn gesehen, ja. Aber wenn Sie von mir wissen wollen, ob es tatsächlich ihre Handschrift war, dann kann ich nur sagen, es sah so aus. Ich kannte ihre Schrift nicht genau genug, um mehr sagen zu können.«
»Und Sie waren überrascht, dass Madeleine Hexham durchgebrannt war?«
»Herrgott noch mal, natürlich war ich überrascht!«, schnappte er.
»Erschien sie Ihnen in der Zeit zuvor nicht geistesabwesend oder nachdenklicher als für gewöhnlich?«
»Nein«, antwortete er. »Sie kam mir auch nicht so vor, als wäre sie bis über beide Ohren verliebt, wenn es das ist, worauf Sie hinauswollen. Soweit ich sehen konnte, war sie eine Frau mit wenig oder gar keinen Emotionen, außer aus zweiter Hand.«
Jetzt war ich an der Reihe, begriffsstutzig zu reagieren. »Aus zweiter Hand?«
»Sie las Romane. Sie lieh sie in Leihbüchereien aus. Sentimentaler Mist.«
Ah, dachte ich grimmig. Eine junge Frau ohne echte Erfahrung, was das Leben und die Leidenschaft angeht, die all ihre Ideen aus dem bedruckten Papier beliebter Unterhaltungsromane bezogen hat. Dann war die Wirklichkeit gekommen, dicht gefolgt von einem viel zu gewaltsamen Tod.