KAPITEL NEUNZEHN

Ben Ross

Während des gesamten Rückwegs zum Scotland Yard lauschte ich unwillkürlich auf das Scharren von Stiefeln auf dem Pflaster und spähte angestrengt in die Suppenküche ringsum. Zu welchem Zweck? Ich hatte die absurde Idee, dass Scully irgendwo dort draußen lauerte, dass er mir folgte wie einer jener räudigen herrenlosen Hunde, die sich manchmal an die Fersen eines Passanten heften. Doch warum sollte er das tun? Der Nebel hat etwas Desorientierendes an sich und spielt dem Verstand Streiche. Ich würde nicht zulassen, dass Scully weiter in meinem Kopf herumspukte. Entschlossen verbannte ich jeden Gedanken an seine unsichtbare Gegenwart.

An meinem Ziel angekommen stellte ich fest, dass das Gebäude ungewöhnlich still lag. Sämtliche Gaslaternen brannten munter zischend vor sich hin. Morris war unterwegs, um die Truppe zu organisieren, welche die Befragung in den Tavernen am Fluss durchführen sollte, in der Hoffnung, jemanden zu finden, der Adams am Freitagabend in Begleitung gesehen hatte. Ich wünschte ihm viel Glück und hoffte, dass er aufpasste, wohin er seinen Fuß setzte, und nicht wie Adams in die Themse fiel.

Einzig Biddle war draußen im Vorzimmer und saß über seinen Schreibtisch gekauert, wo er tief konzentriert irgendeinen Bericht kopierte. Seine Zungenspitze ragte zwischen den Lippen hervor, und sein Atem ging schwer von der anstrengenden Arbeit.

Während ich meinen Hut abnahm und heftig ausschlug, um die Feuchtigkeit zu vertreiben, die am Flor haftete, fragte ich ihn mehr aus Gewohnheit, wie es ihm ging.

»Oh, es geht mir schon viel besser, Sir!«, antwortete er eifrig und nutzte die Gelegenheit, um seinen Stift hinzulegen und auf die Beine zu springen. »Sehen Sie nur!«, rief er.

Er marschierte auf und ab, um zu demonstrieren, dass es seinem Knöchel tatsächlich schon besser ging.

»Ausgezeichnet, Biddle!«, sagte ich und wollte zur Tür meines Büros.

»Darf ich wieder in den normalen Dienst zurück, Sir?« Er hatte mich abgefangen, und sein rundes jungenhaftes Gesicht starrte mich flehend an. »Ich mache alles, Mr Ross, Sir, solange ich nur nach draußen darf! Ich meine, Sergeant Morris hat gesagt, Sie wären knapp an Leuten, um die Befragungen in Limehouse durchzuführen. Ich hätte nichts dagegen, nach Limehouse zu gehen, Sir!«

Alles und jedes, nur um von diesem Schreibtisch wegzukommen und der ermüdenden Arbeit, die er dort zu verrichten hatte. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Abgesehen davon hatte ich keine Zeit, um mit ihm eine Diskussion zu führen.

»Oh, warum nicht? Sprechen Sie mit Sergeant Morris, sobald er zurück ist.«

Biddle strahlte mich dankbar an. Ich hätte mir gewünscht, dass jeder meiner Constables so begeistert an seine Arbeit gehen würde wie der junge Biddle.

Ich ging in mein Büro und setzte mich an den Schreibtisch, um einmal mehr alles durchzugehen, was ich bisher über den Fall wusste. Je länger ich nachdachte, desto überzeugter war ich davon, dass ich den Mörder, falls überhaupt, nur über den Tod von Adams finden würde. Jeder Mörder begeht früher oder später einen Fehler, und der Mord an Adams war mit großer Wahrscheinlichkeit solch ein Fehler gewesen.

Doch wenn Adams der Schlüssel war, dann führte uns das zurück zu der Baustelle in Agar Town. Nehmen wir einmal an, dachte ich, dass Madeleine während der letzten Wochen vor ihrem Tod dort festgehalten worden ist. Nehmen wir weiter an, dass sie in einem der Häuser festgehalten wurde, dem Haus, in dem auch ihre Leiche gefunden wurde. Wo in diesem Haus? Höchstwahrscheinlich im Keller. An ihrem Kleid waren Moderflecken gewesen, wie sie von den feuchten Wänden eines Kellers herrühren mochten. In einem Keller hätte niemand ihre Hilferufe gehört.

Ein Keller!

Ich sprang auf und rannte ins Vorzimmer hinaus. Biddle ließ erschrocken seinen Stift fallen und starrte mich offenen Mundes an.

»Constable!«, rief ich. »Erzählen Sie mir ganz genau, wie es zu Ihrem Unfall gekommen ist!«

»Es … Es war wirklich nicht meine Schuld, Sir!«, stammelte Biddle.

»Das sage ich doch gar nicht! Erzählen Sie mir einfach nur, wie es passiert ist, Junge!«

»Nun ja, Sir …« Biddle schluckte und runzelte die Stirn. »Ich habe es leider nicht notiert, fürchte ich, Sir, wie Sie es zu tun pflegen.«

»Dann lassen Sie sich das fürs nächste Mal eine Lehre sein!«, sagte ich streng. »Wenn Sie ein Detective werden wollen, müssen Sie lernen, alles aufzuschreiben, was Sie beobachten und was Ihnen oder anderen widerfährt. Jede Information kann sich als wertvoll erweisen; nichts ist zu trivial.«

»Jawohl, Sir … ganz recht, Sir …« Langsam und stockend begann Biddle zu erzählen. Ich hielt meine Ungeduld im Zaum und lauschte aufmerksam. Es war mir gleichgültig, wie lange er brauchte, vorausgesetzt, er ließ nichts aus.

»Wir waren zu diesen Häusern zurückgekehrt, Sie wissen schon, Sir, wo die Leiche gefunden wurde. Doch sie waren bereits abgerissen worden; flach wie Pfannkuchen lagen sie da, und Arbeiter waren damit beschäftigt, die Trümmer auf große Karren zu laden und abzutransportieren. Deswegen lagen die Keller frei an der Luft, Sir. Ich war neugierig, Sir, und wollte mir einen der Keller ansehen, den Keller des Hauses, in dem die Tote gefunden worden war. Wir hatten selbstverständlich schon vorher das ganze Haus mit unseren Lampen vom Dachboden bis zum Keller abgesucht. Aber jetzt schien Tageslicht hinunter, und ich sah, dass es wirklich nur eine feuchte Erdhöhle unter dem Haus war, kein richtig gebauter Keller …« Biddles Tonfall klang missbilligend ob der laschen Baustandards. Die Häuser von Agar Town waren billig und in aller Hast errichtet worden.

»Die Wände bestanden aus rohen Ziegeln mit Lücken im Mörtel dazwischen. Ich hätte selbst besser bauen können, und das ist eine Tatsache, Sir. Doch weil sie so schlecht gemauert waren, boten sie reichlich Halt für Finger und Zehen. Also dachte ich mir, ich klettere hinunter und sehe mich um. Ich bin ein guter Kletterer, Sir. Ich konnte schon immer jeden Baum hinaufklettern. Einmal bin ich in unserem Haus aus einem Fenster im oberen Stock auf den Ast eines großen alten Baums geklettert und so heimlich nach draußen abgehauen. Mutter hatte mich in mein Zimmer eingesperrt, weil ich etwas angestellt hatte. Nun ja, jedenfalls dachte ich, dass es nicht schwer wäre, in diesen Keller hinunterzuklettern, und so zog ich meine Stiefel aus …«

Ich hatte Biddle nicht unterbrechen wollen, doch an dieser Stelle konnte ich nicht anders. »Sie haben Ihre Stiefel ausgezogen?«, rief ich ungläubig.

»Jawohl, Sir. Ich dachte mir, dass ich mit den Zehen Halt finden würde, aber nicht mit den Stiefeln. Sie sind zu klobig, Sir, wissen Sie? Nun ja, ich hatte gerade mit meinem Abstieg angefangen, als von oben eine zornige Stimme rief. ›Was glauben Sie eigentlich, was Sie da tun?‹ Ich blickte nach oben und sah das Gesicht eines Mannes, rot und wütend und zugleich richtig erschrocken. Ich sagte ihm, dass er keine Angst haben müsse. Ich sei ein guter Kletterer und würde schon nicht fallen. Doch er hörte nicht auf zu brüllen und meinte, ich solle auf der Stelle wieder nach oben kommen. ›Hier, nehmen Sie meine Hand!‹, rief er und streckte mir die Hand entgegen, um mir aus dem Loch zu helfen. Ich rief zurück, dass er nicht versuchen solle, meine Hand zu nehmen, sonst würde ich den Halt verlieren. Doch es war zu spät, und er riss meine Hand von der Mauer los, und ich konnte nichts mehr tun. Ich fiel rückwärts in das Loch. Weil ich meine Stiefel nicht anhatte, habe ich mir den Knöchel verstaucht, Sir. Und das Handgelenk obendrein. Aber ich schätze, ich hatte Glück. Ich wäre bestimmt nicht gefallen, Mr Ross, Sir, ehrlich nicht, wenn dieser Mann sich nicht eingemischt hätte!« Biddle fixierte mich ernst aus großen runden Augen.

Ich glaubte ihm. »Wer war der Mann?«, fragte ich ihn. »Wer war Schuld an Ihrem Sturz? Kannten Sie ihn? War es der Vorarbeiter Adams?«

»Oh nein, Sir, nicht Adams«, antwortete Biddle. »Es war dieser Gentleman, Mr Fletcher. Als ich unten lag, ist er einfach weggelaufen, als wolle er nicht, dass man ihm die Schuld an dem Sturz gibt. Richtig feige, würde ich sagen. Aber entweder hat er den Vorarbeiter Adams und Constable Jenkins zu mir geschickt, oder sie haben mich rufen gehört und sind herbeigekommen. Jedenfalls haben sie mich aus dem Loch geholt. Ich habe Sergeant Morris nicht gesagt, dass der Gentleman Schuld war an meinem Sturz, weil ich wusste, dass Mr Fletcher bereits wütend auf uns war – auf die Polizei, meine ich. Ich wollte nicht, dass die Stimmung noch schlechter wird, Sir.«

Elizabeth Martin

»Nun«, sagte Fletcher, nachdem er wieder zu mir in die Kutsche gestiegen war und wir uns in Bewegung gesetzt hatten. »Dürfte ich die Kühnheit besitzen zu fragen, Miss Martin, was Sie an einem Tag wie diesem zum Scotland Yard führt, wo man meinen sollte, dass es viel angenehmer ist, zu Hause zu bleiben?«

Ich überlegte einigermaßen ungehalten, dass sich diese Begegnung, so angenehm es war, errettet worden zu sein, im Nachhinein durchaus als Ärgernis erweisen könnte. Ich war diesem Fletcher nicht sonderlich wohlgesinnt. Er war jedoch freundlich genug gewesen, mir zu helfen, und so blieb mir nichts anderes übrig, als mich höflich zu verhalten.

»Ich wollte Inspector Ross besuchen, und ich habe die Gelegenheit genutzt, weil Mrs Parry heute indisponiert ist und mich nicht braucht.«

»Ich verstehe«, sagte er. »Ich nehme an, es hat mit den Ermittlungen wegen des Todes der unglücklichen Miss Hexham zu tun.« Fletcher beugte sich eifrig vor. »Haben Sie vielleicht irgendwelche Neuigkeiten? Wie Sie sicher wissen, bin ich sehr daran interessiert, wie sich dieser Fall entwickelt.«

»Keine Neuigkeiten, nein, das kann man nicht sagen«, antwortete ich verlegen.

Er lehnte sich seufzend zurück. »Sie können sich nicht vorstellen, was diese schreckliche Geschichte für mich bedeutet«, sagte er. »Meine Arbeitgeber sitzen mir im Nacken und machen mich noch ganz verrückt! Wenn ich wüsste, dass dieser Ross Fortschritte macht und alles bald aufgeklärt ist, könnte ich ihnen zumindest so viel sagen. Doch wann immer die Direktoren nachfragen, kann ich ihnen nur sagen, dass alles in den Händen der Polizei liegt. Sie verlangen von mir, dass ich herausfinde, was die Polizei unternimmt, doch die Polizei verrät es mir nicht!« Sein Ton wurde missmutig. »Als würde sie glauben, ich hätte keine Veranlassung zu fragen. Und so werde ich von allen Seiten unter Druck gesetzt. Es ist unerträglich!«

Ich bekam fast ein schlechtes Gewissen ob meiner Vorbehalte gegen ihn. Der arme Mann hatte schließlich auch nur seine Arbeit zu machen.

»Es tut mir so leid«, sagte ich, obwohl ihn das sicher nicht aufmuntern würde. »Aber wenigstens kommen an einem Tag wie heute keine Neugierigen zur Baustelle«, fügte ich hinzu.

Es war zu düster in der Kabine, um seine Gesichtszüge auszumachen, doch ich fühlte die Unzufriedenheit, die sie zeigen mussten, und sie war seiner Stimme auch anzuhören. »Andererseits können wir an einem solchen Tag auch nicht sonderlich viel schaffen. Die Verzögerungen drohen inzwischen zu einer ernsthaften Störung des Zeitplans zu führen. Sie sagen, Sie sind auf dem Weg zu dem Inspector? Ich hoffe doch sehr, um ihn im Namen von Mrs Parry zu bitten, seine Anstrengungen zu beschleunigen.«

»Das kann ich nicht!«, entgegnete ich. »Abgesehen davon hat Mrs Parry mich nicht darum gebeten, wenigstens nicht direkt«, fühlte ich mich gezwungen, der Wahrheit halber hinzuzufügen. Fletcher stieß einen so tiefempfundenen Seufzer aus, dass ich übereilt fortfuhr: »Doch ohne Ihnen falsche Hoffnungen machen zu wollen, stehe ich im Begriff, Inspector Ross etwas auszuhändigen, das möglicherweise den ein oder anderen Hinweis enthält.«

»Oh?« Fletcher beugte sich in frisch erwachendem Interesse vor. »Dürfte ich erfahren, um was es sich handelt?«

Ich bedauerte augenblicklich meine vorlaute Zunge, die stets ohne meinen Willen Worte von sich gab, die mein Gehirn, hätte ich es denn benutzt, niemals geäußert hätte. Ich wünschte, wir wären schon beim Scotland Yard und ich von dieser Konversation erlöst, doch es schien eine Ewigkeit zu dauern, dorthin zu gelangen. Der Nebel verlangsamte unser Vorankommen, wie nicht anders zu erwarten; aber er schien zugleich die Zeit auf eigenartige Weise nahezu zum Stillstand zu bringen. Ich stellte überrascht fest, dass ich nicht zu sagen vermochte, wie lange ich bereits in Mr Fletchers Kutsche saß. Mehr noch, die Nebelschwaden isolierten uns vom Rest der Welt und schufen eine eigenartige Intimität zwischen Fletcher und mir. Zwei einsame Reisende in einer Welt aus waberndem Dunst.

»Nun ja«, gestand ich zögernd. »Ich habe ein Tagebuch gefunden, von dem ich annehme, dass es Miss Hexham gehört hat.«

Fletcher schwieg für einen langen Moment. »Sie haben darin gelesen?«, fragte er sodann. Seine Stimme klang angespannt.

»Nein. Ich habe nur einen flüchtigen Blick hineingeworfen, um herauszufinden, was es war.« Ich besaß nicht die Absicht, ihm von meinem Verdacht in Bezug auf James Belling zu erzählen.

»Und Mrs Parry? Hat sie dieses Tagebuch ebenfalls gesehen?«

Ich antwortete, dass sie es nicht gesehen hätte.

»Hmmm«, sagte er nachdenklich. »Nun, dann wollen wir hoffen, dass es sich als hilfreich erweist.«

Die Kutsche war endlich schaukelnd zum Stehen gekommen, und der Kutscher sprang herbei, um die Stufe auszuklappen. Fletcher folgte mir nach draußen, und wir standen in der milchig gelben, faulig riechenden Atmosphäre der Straße. »Los, weg mit Ihnen, Mullins!«, rief Fletcher, und zu meiner Überraschung setzte sich die Kutsche in Bewegung und fuhr davon.

»Warum haben Sie den Kutscher weggeschickt?«, fragte ich.

»Weil ich denke, dass ich mit Ihnen zu dem Inspector gehen sollte. Oh, passen Sie auf, wo Sie hintreten …!« Und mit diesen Worten packte er mich fest am Ellbogen.

Mittlerweile kehrten meine Sinne allmählich zurück, und der Nebel hatte sich, bildlich gesprochen, in meinem Kopf gelichtet, obwohl er mich noch immer von allen Seiten umgab.

Vor uns in der massiven Fassade brannten keinerlei Lichter. Ein geschäftiges Gebäude voller Menschen, die mit Papier und Stift arbeiteten und in dem ständig Besucher ein und aus gingen, würde an einem so grauenhaften Tag nicht in Dunkelheit liegen, wo sämtliches natürliche Licht wie ausgelöscht schien. Noch würde jegliches Geräusch von Bewegungen und Unterhaltungen fehlen.

»Wir sind nicht beim Scotland Yard«, sagte ich gepresst.

Mein Herz pochte wie wild. Ich wusste, dass ich in großer Gefahr schwebte. Ich hatte eine Reihe von ernsten Fehlern begangen. Mein größter Fehler war gewesen, eine voreilige Schlussfolgerung in Bezug auf die Identität von Madeleines Bewunderer zu treffen, jenes ›Er‹. Ich hatte zu schnell vergessen, was ich erst kürzlich herausgefunden hatte: Auch Fletcher gehörte zum Kreis der Besucher am Dorset Square.

Sein Verdacht musste in jenem Augenblick erwacht sein, als ich ihm erzählt hatte, dass ich zum Scotland Yard wollte. Was konnte mich an einem so grauenhaften Nachmittag wie diesem zu Fuß auf die Straße bringen – außer der Entdeckung einer Information, von der ich glaubte, dass Ross so unverzüglich davon erfahren sollte, dass ich meine Gesundheit und einen Unfall riskierte, indem ich durch den Nebel irrte? Fletcher musste herausfinden, was ich wusste, und hatte seinen Kutscher angewiesen, uns zu einem anderen Ort zu bringen. Und dank meiner vorlauten Zunge wusste er inzwischen auch, welche Information das war: die Existenz eines Tagebuchs.

»Hören Sie«, sagte er mit einer ruhigen, ausdruckslosen Stimme, die mit den einförmigen Nebelschwaden in merkwürdigem Einklang zu stehen schien. »Ich denke, Sie sollten mir dieses Tagebuch geben.«

Mein Gehirn raste, während ich versuchte, mir eine Strategie zu überlegen, um ihn abzulenken und im Nebel zu fliehen. Er würde mich hartnäckiger verfolgen als jener Mann, der nach Friedhof gerochen hatte. Es war Fletchers Leben, das nun auf dem Spiel stand.

Es wäre zwecklos, ihm zu erzählen, dass ich das Tagebuch nicht bei mir hatte. Ohne es hätte ich wohl kaum meinen gefährlichen Weg zu Ross angetreten. Es gab nur eine Hoffnung. Er wollte mich daran hindern, Ross zu sehen, doch das Tagebuch war noch wichtiger für ihn.

Mein Vater war als junger Mann ein eifriger Kricketspieler gewesen. Als ich ein kleines Mädchen war, hat er mich manchmal an einem sonnigen Nachmittag, wenn er keine Patientenbesuche machen musste, mit auf den Hof genommen und mir den kleinen Schläger in die Hand gedrückt, den er selbst als Knabe benutzt hatte, und mir vorsichtige Würfe zugespielt. Manchmal hatte er auch mich werfen lassen und mir gezeigt, wie man es richtig machte. Mary Newling pflegte dann immer zur Küchentür zu kommen und ungehalten zu rufen: »Doktor! Das ist keine Beschäftigung für eine junge Lady!«

Doch es war eine Beschäftigung, welche die junge Lady von damals heute gut gebrauchen konnte. Glücklicherweise hielt Fletcher mich am linken Arm. Ich drehte mich von ihm weg, indem ich meinen rechten Arm hob, und schleuderte meine Handtasche in den Nebel davon, so kräftig ich konnte. Ich hörte, wie die Naht meines Kleides an der Schulter riss, doch mein Vater hätte mich zu diesem Wurf beglückwünscht. Die kleine Tasche segelte aus meiner Hand und verschwand in der Wand aus Nebel. Ich hörte nicht einmal, wie sie auf dem Boden landete.

»So«, ächzte ich zu Fletcher gewandt. »Wenn Sie das Tagebuch wollen, dann müssen Sie es schon suchen. Es war in dieser Tasche.«

Er fluchte und zögerte. Ich erkannte sein Dilemma. Im Nebel konnte er wohl kaum darauf hoffen, die Tasche schnell zu finden, wenn überhaupt. Hatte sich der Nebel aber erst einmal gelichtet, bestand die Möglichkeit, dass jemand anders die Tasche vor ihm fand: Eine verlorene Handtasche in einer Londoner Straße bleibt nicht lange herrenlos liegen.

Doch mein Fluchtplan war gescheitert. Fletcher stürzte nicht gleich davon, sondern hielt mich noch fester am Arm gepackt als zuvor.

»Das war sehr töricht, Miss Martin«, sagte er. »Ich muss selbstverständlich los und nach dieser Tasche suchen. Doch ich kann nicht zulassen, dass Sie in diesem Wetter herumlaufen, bis jemand Sie findet und zu Ihrem Freund Ross bringt. Los, kommen Sie!«

Er zerrte mich mit sich, und ich stolperte einige Schritte neben ihm her. Er suchte in seiner Tasche und zückte einen Schlüsselbund. Während er mich unverwandt und schmerzhaft am Arm gepackt hielt, machte er sich daran, die Tür vor uns aufzusperren.

Ich stieß einen Hilfeschrei aus, doch er sagte nur schroff: »Es ist niemand in der Nähe, der Sie hören könnte. Alle warten darauf, dass sich der Nebel verzieht, und bleiben solange in ihren Häusern.«

Seine eigene Tür stand nun offen – ich nahm an, dass es sein Haus war –, und er stieß mich vor sich her ins Innere und warf die Tür krachend hinter uns zu.

»Los, weiter!«, herrschte er mich an und schob mich durch einen langen dunklen Flur.

Ich stolperte weiter, so gut ich konnte, wobei ich immer wieder mit Möbelstücken zusammenstieß, und wir kamen durch eine weitere Tür. Fletcher schloss die Tür hinter uns, und ich hörte, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte.

»Einen Augenblick«, sagte er.

Ich wartete, während er sich in der Dunkelheit von mir entfernte. Das Ratschen eines Sicherheitszündholzes ertönte, und ein weiches Licht flammte auf und tauchte den Raum in seinen trüben Schein. Fletcher hatte eine Öllampe entzündet. Ich sah, dass wir uns dem Augenschein nach in einem Esszimmer befanden, auch wenn es nicht danach aussah, als würde es häufig benutzt. Der Geruch von Staub hing in der Luft, und das Zimmer wirkte verlassen. Es gab einen Esstisch und Stühle, doch davon abgesehen nur einen kleinen Geschirrschrank. Ich sah keinerlei Geschirr, und die Wände waren kahl.

Fletcher drehte sich zu mir um, und ich bemerkte, dass er irgendwo zwischen der Straße und diesem Zimmer seinen Hut verloren hatte. Das Haar hing ihm wirr in die Stirn. Sein Gesicht war weiß und wirkte angespannt, und die Gläser seiner Brille vermochten die Wildheit in seinen Augen nicht zu verbergen. Wenn überhaupt, dann wirkte sie durch das Glitzern nur noch größer. Mit sinkender Hoffnung erkannte ich, dass ich nie imstande sein würde, vernünftig mit ihm zu reden.

»Sie haben die arme Madeleine ermordet!«, klagte ich ihn an. Es gab nichts mehr zu gewinnen außer durch schonungslose Direktheit. Ich hatte Angst, doch ich sagte mir, dass es ein Fehler war, ihm diese Angst zu zeigen. Er hatte ebenfalls Angst, vermutete ich. Ich hatte vor langer Zeit einmal eine Ratte in Mary Newlings Küche gesehen, die in die Enge getrieben worden war. Ihre Angst hatte sie nur umso gefährlicher gemacht. Mary hatte sie durch einem Schlag mit einer gusseisernen Pfanne erledigt. Hier in diesem trostlosen Raum gab es nichts, was ich als Waffe hätte einsetzen können.

Fletcher, der meine Entschlossenheit bemerkte, wirkte nervös und unsicher.

»Sie hat sich das alles selbst zuzuschreiben! Es war ihre eigene Schuld!«, verteidigte er sich zu guter Letzt in weinerlichem Ton.

»Sie trug Ihr Kind in sich. Indem Sie sie ermordet haben, haben Sie auch Ihr eigenes Kind umgebracht! Und Sie geben ihr die Schuld? Dem Opfer? Sie sind nicht nur ein gemeiner Mörder, sondern obendrein auch noch ein elender Feigling! Wie kann sie sich da noch alles selbst zuzuschreiben haben?«

»Ich hätte ihr Geld gegeben, um wegzugehen und das Kind anderswo zur Welt zu bringen! Es wäre in einem Waisenhaus aufgewachsen, und sie hätte zurückkehren können, ohne dass jemand etwas erfahren hätte. Natürlich nicht zum Dorset Square. Aber ich hätte ihr geholfen, eine andere Anstellung zu finden.« Sein Ton war immer noch weinerlich, als wüsste er selbst, wie offensichtlich die Fehler in seiner Argumentation waren.

»Wie hätte sie ihr normales Leben weiterführen können? Irgendwie hätte sie die Lücke von mehreren Monaten erklären müssen. Und was ist mit ihren Gefühlen? Sie hat Sie geliebt!«

»Sie war ein dummes kleines Nichts mit einem Verstand voller lächerlichem Unsinn, den sie aus den Büchern hatte, die sie immer las!«, entgegnete er.

»Und trotzdem haben Sie nicht gezögert, dies für sich auszunutzen!«, schleuderte ich ihm an den Kopf.

»Sie wollte es doch so«, sagte er kalt.

»Sie glaubte, Sie würden sie heiraten.«

»Pah!« Er wandte den Kopf zur Seite, als wolle er der Verachtung in meinem Gesicht entgehen. Als er schließlich wieder sprach, hatte seine Stimme einen schmeichelnden Ton angenommen, als versuche er, mich zu überreden, seine Ausflüchte zu glauben – die er sich ohne Zweifel selbst eingeredet hatte, um seine unaussprechlichen Taten zu rechtfertigen. »Wie hätte ich das tun können? Ich bin ein ehrgeiziger Mann. Was für eine Frau wäre sie mir gewesen? Abgesehen davon bin ich bereits mit einer jungen Lady verlobt, die genau die Art von Frau sein wird, die ich benötige, und ich habe nicht vor, mir das kaputt machen zu lassen!«

»Vielleicht hätten Sie vorher darüber nachdenken sollen, bevor Sie Ihre verderbte Affäre mit Madeleine angefangen haben!«

Er stockte für einen Moment. »Es war so einfach«, sagte er dann.

Ich hatte Madeleines Mörder Ross gegenüber als ein ›Monster‹ beschrieben. Ross hatte geantwortet, dass er zwar in seiner Zeit bei der Polizei eine Reihe von Monstern getroffen hätte, doch es wären häufiger die verängstigten Männer gewesen, die zu einem Mord getrieben worden waren. Jetzt sah ich, dass Fletcher so ein Mann war – doch das machte seine Taten nicht weniger schrecklich oder entschuldbarer oder die Gefahr, in der ich schwebte, weniger real.

»Heiraten?«, sagte er nun nachdenklich, fast wie zu sich selbst. »Sie wollte unbedingt heiraten, sonst nichts.« Er klang verwirrt. »Selbst als ich ihr klargemacht hatte, dass ich sie niemals, unter gar keinen Umständen heiraten würde, ließ sie nicht locker. Selbst ganz am Ende noch nicht …« Seine Stimme verhallte.

Selbst ganz am Ende, als die halb verhungerte, erschöpfte Madeleine seine Gefangene gewesen war, geschlagen und bedroht und vielleicht einen Teil der Zeit unter Drogen, um sie ruhig zu halten, während Fletcher nicht zu Hause gewesen war … Selbst ganz am Ende hatte sie sich noch an ihren Traum geklammert.

»Sie hatte nichts anderes«, sagte ich zu ihm. »Sie hatte weder eine Familie noch Freunde; sie hatte kein Geld, und sie hatte keine Aussichten. Ihr Leben war voll tapfer ertragener Verzweiflung. Doch dann haben Sie ihr ein Fenster geöffnet in die Welt ihrer Tagträume, in der sie glücklich war. Wie konnten Sie da erwarten, dass sie dieses Fenster von sich aus wieder schließen würde? In welches Leben wäre sie zurückgekehrt?«

Er schüttelte heftig den Kopf, als wolle er meine Worte nicht hören. Als er mich wieder ansah, stellte ich fest, dass sein Gesichtsausdruck ruhiger geworden war, doch nicht weniger beängstigend. Jetzt lag eine Entschlossenheit darin, die mich erstarren ließ. Madeleine hatte in diese Augen geblickt und ihren Tod darin gesehen. Ich tat das Gleiche. Madeleine war damals halb von Sinnen gewesen wegen der schlimmen Behandlung, die er ihr zugefügt hatte, und sie hatte sich in ihre Phantasiewelt geflüchtet, in welcher sie sowohl geheiratet hatte als auch glücklich war, und sich geweigert, sie wieder zu verlassen. Doch ich war nicht Madeleine.

»Sie können meine Leiche nicht in Agar Town liegen lassen«, sagte ich mit, wie ich hoffte, beherrschter Stimme.

»Dessen bin ich mir durchaus bewusst!« Seine Stimme brach bei den letzten Worten. »Ich werde Sie hier liegen lassen.«

»In diesem Haus?« Ich war auf beinahe alles gefasst, doch das machte mich sprachlos.

»Ich kann Sie nicht nach draußen schaffen, weder tot noch lebendig.« Er zögerte, runzelte die Stirn und schien über das Problem nachzudenken. »Ich werde Sie hier begraben«, sagte er schließlich im Tonfall von jemandem, der ein kniffliges Rätsel gelöst hatte. »Verdammt, es wird zwar eine schwierige Aufgabe, aber nicht unlösbar. Doch zuerst muss ich dieses Tagebuch finden, das Sie weggeworfen haben. Los, kommen Sie!«

Er trat auf mich zu und zerrte mich zur Tür, die er mit einer Hand aufsperrte, während er mich mit der anderen in schmerzhaftem Griff gepackt hielt. Gemeinsam stolperten wir in den Hausflur zurück. Unter der Treppe befand sich eine schmale Holztür. Fletcher riss sie auf und stieß mich nach vorn.

Ich sah den Anfang einer hölzernen Stiege, die nach unten in die Dunkelheit führte, und erkannte, dass es ein Keller war. Ich konnte nicht entkommen – ich wäre lebendig begraben. Mein Leichnam würde in einem Loch verschwinden, das er in den Boden hackte, oder er würde mich einmauern. Er war ein Mann, dessen Beruf Baustellen waren. Er würde keine Mühe haben, die Steine zu besorgen. Er wusste wahrscheinlich recht genau, wie man mauerte. Er hatte die Arbeiter auf seinen vielen Baustellen oft genug dabei beobachtet.

All diese Gedanken jagten durch meinen Kopf, als ich mich zur Wehr setzte. Vergebens. Fletcher stieß mich durch die Tür, und ich streckte abwehrend beide Hände aus, um nicht mit dem Kopf zuerst die Treppe hinunter und in die Dunkelheit zu stürzen.