KAPITEL DREI

Inspector Benjamin Ross

»Da wären wir, Sir«, sagte Sergeant Morris mit rauer Stimme.

Wir hatten uns einen Weg zwischen Müllhaufen hindurch gebahnt, die an manchen Stellen so hoch waren wie Schlackehalden. Diese Straßen waren nie gepflastert gewesen, und im Laufe der Zeit hatten sich tiefe Furchen und Schlaglöcher gebildet. Die Ränder der Furchen waren hart wie Stein, auch schon vor den gegenwärtigen Aktivitäten, die Agar Town leer und verlassen daliegen ließen, als hätte hier eine biblische Plage gewütet.

Geborstene Ziegel bedeckten unseren Weg und machten jeden Schritt gefährlich. Zwischen Brocken von Mauerwerk und herabgefallenen Balken, die in die Höhe ragten wie die zerschmetterten Spanten eines Schiffswracks, war das Erdreich aufgewühlt von Karrenrädern und übersät mit widerlich stinkenden Löchern, welche die Stellen abgerissener Aborte und offener Kanalisation markierten. Ich trat den mumifizierten Kadaver einer Ratte aus dem Weg. Eine weitere nahebei war immer noch in Verwesung begriffen. Es wimmelte nur so von Maden auf ihrem toten Leib.

Obgleich das Wetter kühl war, hatte es seit mehreren Tagen nicht mehr geregnet, und es herrschte ein unregelmäßiger Wind. Die Luft war voller Staub, der unsere Nasenlöcher und Kehlen belegte und uns zum Husten brachte, sodass wir gezwungen waren, unsere Gesichter mit Taschentüchern zu bedecken. Selbst die knochigen Flanken der vernachlässigten Klepper, die vor die Karren gespannt warteten, waren von grau-rosa Staub überzogen. In dieser Umgebung erinnerten die armen Tiere an die geisterhaften Pferde aus einem apokalyptischen Alptraum.

Ich sah, dass an verschiedenen Stellen weitab von dem Fleck, dem wir uns näherten, sporadisch die Arbeiten wieder einsetzten. Männer bearbeiteten die Überreste eines Hauses. Dach, Fenster und Türen waren zusammen mit einem Teil der oberen Wände bereits verschwunden. Mein Blick fiel auf zwei oder drei Burschen, die unsicher im ersten Stock standen. Sie bearbeiteten die Wand mit gleichmäßigen Schwüngen ihrer Vorschlaghämmer, sodass große Brocken Mauerwerk herausbrachen und zu Boden krachten. Jedes Mal erhob sich eine Wolke aus Mörtel und Staub, der nach oben stieg und die Abbrucharbeiter mit einer dicken Schicht bedeckte. Sie erinnerten mich an die Minenarbeiter aus meiner Jugend, die stets von Kohlenstaub bedeckt gewesen waren. Ich fragte mich, ob diese Männer hier in späteren Jahren ebenfalls an Lungenkrankheiten leiden würden, wie es schon so vielen Minenarbeitern einschließlich meinem armen Vater ergangen war.

Sobald die Arbeiter in ihrer luftigen Position Morris und mich erspähten, ertönte ein Warnruf, und alle Arbeit kam erneut zum Erliegen. Die Männer auf der halb eingerissenen Fassade standen da wie graue Statuen, die Werkzeuge noch in den Händen. Diejenigen, die unten gearbeitet und die heruntergefallenen Trümmer auf Karren verladen hatten, standen auf ihre Schaufeln und Spitzhacken gelehnt und beobachteten uns mit mürrischen Gesichtern. Ein Mann mit einer Wollmütze, der von oben bis unten in grauen Staub gehüllt war, wandte den Kopf zur Seite und spie aus. Ich war überrascht, dass er noch genügend Flüssigkeit dazu in sich hatte.

»Sie hätten sie nicht anrühren dürfen!«, murmelte ich mehr zu mir selbst als an die Adresse des armen Morris gewandt. Er hatte bereits die Hauptlast meiner Frustration ertragen müssen, genauso wie die dumpfe Ablehnung der Arbeiter und die unverhohlene Feindseligkeit ihrer Vorgesetzten.

»Ja, Sir, das ist mir durchaus bewusst, Sir. Doch der Vorarbeiter – ein ausgekochter Bursche, wenn ich je einen gesehen habe – und der Mann von der Eisenbahngesellschaft haben einen höllischen Tanz veranstaltet … verzeihen Sie meine Ausdrucksweise. Die Arbeiter selbst waren ebenfalls höchst übellaunig. Es war nicht zu erwarten, dass zwei Constables damit zurechtkommen würden.«

Noch während er sprach, tauchte die Gestalt eines Constables auf. Er war ein junger Bursche, unübersehbar nervös, der erleichtert wirkte, als er Morris erblickte; doch als er mich in seiner Begleitung erkannte, verspannte er sich sofort wieder.

»Das ist Biddle, Sir«, informierte mich Morris. »Er ist ein guter Mann, aber er ist noch nicht lange bei uns.«

Ich dachte bei mir, dass Morris noch sehr jung wirkte, kaum achtzehn, was das Mindestalter war, um bei uns anzufangen. Mehr noch, er trug einen von jenen hohen Helmen, die erst vor Kurzem die vertrauten glänzenden Hüte abgelöst hatten, die ich noch getragen hatte, als ich zur Polizei gegangen war. Die neuen Helme provozierten nach wie vor die unterschiedlichsten Kommentare. Um ehrlich zu sein, der Art und Weise nach zu urteilen, wie Biddle den Helm auf dem runden Schädel trug, fürchtete ich, dass er ein natürliches Ziel für kleine Jungen mit Steinschleudern abgab.

Morris schien ebenfalls von dem Anblick erschüttert. »Ich weiß nicht, Sir, aber diese Helme …«, murmelte er an mich gewandt. »Die alten Mützen sind immer bei der kleinsten schnellen Bewegung runtergefallen, und wenn es heiß war, hat der Schädel förmlich darunter gekocht. Aber sie haben einem Constable wenigstens einen Rest von Würde gelassen.« Mit lauterer Stimme fuhr er an Biddle gewandt fort: »Wo ist Jenkins, Constable?«

»Hinten, Sergeant. Er streitet mit einem Vorarbeiter. Ich glaube, der Gentleman von der Eisenbahngesellschaft ist auch wieder zurück. Sie sind nicht gerade glücklich darüber, dass die Arbeit noch nicht wieder angefangen hat, nachdem die tote Frau weggebracht wurde.«

»Ach? Sind sie nicht?«, ließ ich mich zu einer sarkastischen Bemerkung hinreißen und fügte dann in dem Bemühen hinzu, sachlicher zu klingen: »Also ist das hier die Stelle, wo man das Opfer gefunden hat, korrekt?«

Es war genauso wenig die Schuld des unglückseligen Biddle wie die von Morris. Biddle, rosig und verschwitzt in seiner hochgeknöpften Uniform und mit dem albernen neuen Helm auf dem Kopf, der noch unsicherer aussah als die alten Mützen, antwortete ernst: »Es ist niemand hineingegangen, Sir. Entweder ich oder Jenkins waren die ganze Zeit über hier, und wir haben beide aufgepasst.«

Die restlichen Häuser in der Reihe waren abgerissen, doch diese drei hier am Ende standen noch aneinandergelehnt wie ein Trio Betrunkener. Wenn einer sich bewegte, würden alle fallen. Die Leiche war von Arbeitern gefunden worden, die in das erste der drei Häuser gegangen waren, um den Abriss vorzubereiten.

Es waren schmale Häuser, billig, schnell und aus minderwertigen Materialien errichtet, die als passend für die Armen betrachtet wurden und deren hauptsächlicher Zweck darin bestanden hatte, den Bauherrn schnell reich zu machen. Ich hatte gerade erst mit eigenen Augen gesehen, wie sie unter den Vorschlaghämmern zerbröckelten wie ein Kinderhaus aus Holzklötzen. Dies war Agar Town – oder besser, die Überreste davon –, ein berüchtigtes Viertel, sogar in einer Stadt, in der es mehr als genügend Elendsviertel gab. Hier hatte eine ganze Familie in einem Raum gelebt, und in den schlimmsten Fällen hatte sie diesen Raum auch noch mit anderen Mietern geteilt. Sämtliche Bewohner hatten die Gemeinschaftsaborte in den Hinterhöfen benutzt, wo manche auch Schweine gehalten hatten. Die Kanalisation war ständig übergelaufen, und die Schweine hatten sich über die Fäkalien hergemacht. Schweine fressen alles. Es sind nützliche Tiere. Der Brunnen, aus dem alle ihr Wasser geholt hatten, stand ganz in der Nähe und war noch nicht abgerissen. Hoffentlich kamen die Arbeiter nicht auf den Gedanken, davon zu trinken. Die Cholera war ein regelmäßiger Gast in Agar Town gewesen. In den Zeitungen stand, dass Mr Bazalgettes geniales neues Kanalisationssystem London von dieser Plage erlösen würde, auch wenn in den gleichen Blättern zu lesen war, dass gerade in diesem Augenblick im Londoner East End zahlreiche neue Fälle von Cholera aufgetreten waren.

Wie dem auch sei, es gab weitere Seuchen. Typhus, Diphtherie, Schwindsucht und jene Krankheiten, die nur die Armen betreffen und aus der Verzweiflung herrühren. Niemand lebt unter diesen Bedingungen lang. Männer haben Glück, wenn sie vierzig werden; Frauen sterben häufig noch früher. Kinder sterben wie die Fliegen, und die wenigen, die überleben, kommen bleich wie Geister aus den Löchern, in denen sie aufgewachsen sind: kleine, alte Männer und Frauen von kaum zehn Jahren. Ich kenne solche Viertel, und ich kannte Agar Town. Wenn ein Mann oder eine Frau am Verhungern ist und nichts mehr zu verlieren hat, was sollte ihn oder sie daran hindern, kriminell zu werden? Vielleicht erwies sich ja der Abriss des ganzen Viertels für den neuen Bahnhof als Segen, wie behauptet wurde, doch ich für meinen Teil vermutete, dass die Probleme sich einfach woanders hin verlagern würden.

»Passen Sie auf, wohin Sie treten, Sir«, riet Morris, der voranging. »Die Außenwand ist nicht mehr sicher. Lehnen Sie sich nirgendwo an, bitte; sonst könnte alles zusammenstürzen. Das ist übrigens einer der Gründe, mit denen der Vorarbeiter erklärt, warum man die Leiche nach draußen gebracht hat. ›Machen Sie mir keine Vorwürfe, wenn die Mauern einstürzen und die tote Frau unter Trümmern begraben ist, wenn Ihr Inspector hier eintrifft!‹, waren seine Worte, nur dass er sich nicht so gewählt ausgedrückt hat. Trotzdem, er hatte nicht Unrecht, Sir, wie ich sehen kann. Besser, wenn wir uns beeilen.«

»Schon gut, schon gut«, erwiderte ich gereizt. Ich sah selbst, wie wacklig die Reste des Gebäudes waren. »Haben Sie bereits mit den Männern geredet, die die Tote gefunden haben?«

»Jawohl, Sir. Ich habe ihre Aussagen aufgenommen und von ihnen unterzeichnen lassen. Es sind zwei Iren, die sich unablässig bekreuzigt haben und hoffen, dass die arme Frau in Frieden ruhen möge.«

Wir waren durch einen schmalen Flur gegangen, der nach Moder stank und nach Generationen ungewaschener Leiber. Ein weiteres heimtückisches Miasma rann von den Wänden: Armut. Es hatte seinen eigenen, charakteristischen Geruch. Ich spürte, wie er mir in die Nüstern kroch, und zückte mein Taschentuch, um es auf meine Nase zu drücken.

»Es stinkt ein wenig, nicht wahr?«, bemerkte Morris freundlich, als er mein Unbehagen bemerkte.

Ich schämte mich ob meiner Schwäche und steckte das Taschentuch wieder ein.

Wir waren in einem der hinteren Räume angekommen. Hier wartete ein neuer Geruch auf uns: der süßliche Gestank nach verrottendem Fleisch. Die Tote war nach draußen gebracht worden, doch nichts außer dem Abriss vermochte diesen Gestank zu entfernen. Ich schaute mich in dem Versuch um, mir diesen Raum als ein Zuhause vorzustellen. Irgendjemand, vermutlich in dem Bestreben, die Kälte nach draußen zu verbannen, hatte die Wände mit alten Zeitungen beklebt. Anzeigen für eine Ausstellung von Aquarellen, gute importierte französische Seife und antiquarische Bücher bildeten einen merkwürdig unpassenden Hintergrund für ein Leben, in dem diese Dinge völlig ohne Bedeutung gewesen waren. Die Dielenbretter waren nackt, stellenweise verrottet, und sämtliches Mobiliar war entfernt worden, bis auf eine zerbrochene Bettstatt an der Wand.

»Sie lag dort«, erklärte Morris und deutete auf das Bett. »Halb unter dem Bett, allerdings nicht versteckt, auch wenn derjenige, der sie dorthin gelegt hat, einen alten Teppich über sie geworfen hat. Ihre Füße ragten hervor. Man konnte sofort sehen, was es war, sobald man den Raum betrat, selbst wenn der Geruch nicht gewesen wäre. Die Männer, die sie gefunden haben, wussten gleich, dass es sich um eine Leiche handelte, und haben nach dem Vorarbeiter gerufen. Dann haben sie – laut den Worten des Vorarbeiters – die Arbeiten sofort eingestellt. Niemand hat noch einen Stein angerührt, nirgendwo auf der ganzen Baustelle, nicht, solange sie hier lag. Der Vorarbeiter geriet in Panik, weil die Eisenbahngesellschaft ihn für die Verzögerung verantwortlich machen würde. Er hat entschieden, dass die Tote entfernt wurde. Ich sagte zu ihm, dass der Inspector sie zuerst sehen müsse, doch er schickte jemanden zu dem Gentleman von der Eisenbahngesellschaft, und der wiederum hat jemanden woanders hingeschickt. Am Ende kam der Befehl vom Superintendent, dass wir sie zum nächsten Leichenhaus bringen sollten. Aber ich habe ein Stück Kreide genommen und markiert, wo sie gelegen hat … sehen Sie, Sir?«

Morris deutete stolz auf einen menschlichen Umriss auf den Dielen halb unter dem alten Bett.

»Ich habe mich gründlich umgesehen, genau wie Biddle und Jenkins, Sir. Wir waren oben und alles. Wir konnten nichts von Interesse entdecken.«

Morris hatte sein Bestes getan, um zu verhindern, dass die Leiche weggeschafft wurde, doch am Ende hatte die Eisenbahngesellschaft ihre Beziehungen spielen lassen. Da die Männer auf der Baustelle nicht arbeiten wollten, solange die Leiche in situ lag, musste sie ergo entfernt werden. Jetzt wartete sie in dem Leichenhaus, zu dem wir fahren würden, sobald ich gesehen hatte, was es hier noch zu sehen gab. Wie Sie sehen, habe ich meine lateinischen Sätze gelernt. Ich bin ein ehrgeiziger Mann, und ich habe hart gearbeitet. Ich habe lange Stunden bei Kerzenlicht verbracht, um die Mängel in meiner Bildung zu beseitigen, und heute bin ich Inspector bei der Metropolitan Police Force in der Abteilung Scotland Yard. Doch wenn ich morgens beim Rasieren in den Spiegel sehe, sage ich oftmals laut zu mir selbst: »Du täuschst niemanden, Ben Ross. Du bist der Sohn eines Bergmanns, und das wirst du auch immer bleiben.«

Ich schaute auf den staubigen Dielenboden und Morris’ Bemühungen hinunter, die Beweise zu sichern, und seufzte. Die Arbeiter, welche die Tote gefunden hatten, waren überall herumgetrampelt, gefolgt von dem ersten Constable, der herbeigerufen worden war, und schließlich Morris und seinen Helfern. Falls es je einen kleinen Hinweis gegeben hatte, dann war er längst verschwunden oder zerstört.

Draußen ertönte ein Ruf. Schwere Schritte hallten durch den Flur, und Biddle steckte sein rosig glänzendes Gesicht unter der wackeligen Kopfbedeckung durch den leeren Türrahmen. »Der Gentleman von der Eisenbahngesellschaft ist da, Sir, zusammen mit dem Vorarbeiter.«

Es tat mir keineswegs leid, dass ich diesen klaustrophobischen Ort verlassen konnte. Trotzdem vergaß ich nicht, Morris zu loben. »Gut gemacht, Sergeant.« Er hatte unter den gegebenen Umständen wirklich sein Bestes versucht.

Morris sah erleichtert aus. Während wir durch den düsteren Flur nach draußen gingen, murmelte er mit seiner rauen Stimme: »Ihre Kleidung war sehr gut, Sir. Kein alter Kram. Wer auch immer die Tote war, sie hat nicht in dieser Gegend gelebt.«

Aus dem finsteren Flur nach draußen in das staubige Sonnenlicht zu treten, war, als wäre ich aus einer Gruft gekommen. Zwei Männer warteten auf mich. Einer war unübersehbar der Vorarbeiter, ein stämmiger Bursche mit einer Trinkernase und einem nichtssagenden Gesichtsausdruck. Ich kannte diesen Ausdruck gut genug. Er hatte nicht die Absicht, der Polizei zu helfen. Wahrscheinlich lag das jedoch nicht daran, dass er etwas zu verbergen hatte, sondern vielmehr daran, dass er, genau wie jeder andere auf dieser Baustelle auch, uns nicht mochte – und das schon, bevor wir hergekommen waren und – in seinen Augen – dieses Problem verursacht hatten. Es stellt mich manchmal vor ein Rätsel, wenn ich mir die Mühe mache, darüber nachzudenken, dass die Bevölkerung im Allgemeinen so wenig für uns übrighat. Die Armen behaupten, wir würden sie schikanieren. Die Reichen behaupten, wir täten nicht genug zu ihrem Schutz. Und die große Mehrheit dazwischen sieht uns als eine weitere Bürde für den ehrlichen Bürger, die die öffentlichen Kassen nur Geld kostet.

Wo wir gerade von ehrlichen Bürgern reden … ich richtete meine Aufmerksamkeit auf den Mann von der Eisenbahngesellschaft, der dies wohl nicht anders erwartet hatte. Er war ein blassgesichtiger junger Mann in einem Gehrock und trug eine Brille mit ovalen Gläsern. Sein Verhalten zeugte von Dünkel, und er war sichtlich irritiert. Er hielt seinen Seidenhut in der einen Hand und wischte sich mit einem großen gepunkteten Taschentuch in der anderen über das Gesicht. Als er mich erblickte, steckte er das Taschentuch sofort wieder weg.

»Fletcher«, sagte er kurz angebunden. »Ich bin der Bauleiter hier und repräsentiere als solcher die Eisenbahngesellschaft.«

»Inspector Ross«, erwiderte ich. »Ich repräsentiere Scotland Yard.«

Das Sonnenlicht glänzte auf den ovalen Gläsern, als er mich scharf ansah, um festzustellen, ob ich mich möglicherweise erdreistet hatte, witzig zu sein. Doch er sah mir am Gesicht an, dass ich ihm mit meinen Worten zu verstehen hatte geben wollen, dass seine Referenzen die meinen keineswegs übertrafen.

»Sehr schön«, sagte er. »Ich hoffe, Inspector, dass wir nun, nachdem Sie die Stelle besichtigt haben, wo die unglückliche Tote gefunden wurde, unsere Arbeit wieder aufnehmen dürfen. Zeit ist Geld.«

»Und Tote sind unbequem«, ergänzte ich.

Diesmal machte er sich nicht die Mühe, mich scharf anzusehen. Er schürzte lediglich die Lippen, bevor er konterte: »Sie sehen ja selbst, wie instabil diese Gebäude hinter Ihnen inzwischen sind. Wir müssen uns beeilen, um sie auf fachmännische Art niederzureißen. Tun wir das nicht, stürzen sie möglicherweise von alleine ein, und es besteht die Gefahr von Verletzten, wenn nicht gar weiteren Toten!«

Das entsprach den Tatsachen, doch ich ignorierte Fletcher fürs Erste und wandte mich an den Vorarbeiter. »Wie heißen Sie?«

»Adams, Sir.« Er kaute auf irgendetwas, während er redete, wahrscheinlich auf einem Stück Tabak. Er wälzte es in die andere Backe und starrte mich weiter mit diesem schwerfälligen Rinderblick an. »Bevor die Arbeiter heute Morgen das Haus betreten und die tote Frau gefunden haben … wer war der Letzte, der dort drin war und wann?«

»Woher soll ich das wissen?«, antwortete er. »Niemand war hier, bevor wir angefangen haben, diese Häuserreihe abzureißen. Warum hätte auch jemand herkommen sollen? Alles von Wert wurde schon vor Wochen entfernt.«

»Und wann haben Sie mit dem Abreißen dieser Häuserreihe begonnen?«

»Vor zwei Tagen. Sie lassen sich leicht abreißen. Wir hatten keinerlei Probleme, bevor wir mit diesem Haus angefangen und die Tote gefunden haben.«

»Die Männer sind abergläubisch«, warf Fletcher gereizt ein. »Als sich die Nachricht verbreitete, dass eine Tote gefunden wurde, haben sie überall auf dem Baugelände die Arbeit eingestellt.«

Adams tat unerwartet eine andere Ansicht kund. »Sie haben der Toten ihren Respekt erwiesen, Gentlemen, das ist alles. Es war nicht schicklich, weiterzuarbeiten, solange sie hier lag.«

Und sie hatten wahrscheinlich Angst, dachte ich, man könnte einen von ihnen beschuldigen, die Tat begangen zu haben. Angesichts dieser Gefahr waren sie zusammengerückt.

»Also haben die Arbeiter sie gefunden. Sie haben nach Ihnen geschickt, und Sie haben die Polizei gerufen, ist das richtig?« Ich sprach in sachlichem Ton. Es ging nicht an, dass ich Adams spüren ließ, wie sehr mir die Atmosphäre zu schaffen machte.

»Genau so«, entgegnete Adams. »Und seitdem hat einer von Ihren Leuten vor dem Haus gestanden und hat es bewacht – meistens der dort, mit der Puddingschale auf dem Kopf.« Er nickte in Richtung des armen Biddle. Trotz seiner zur Schau gestellten Geringschätzung hatte sich so etwas wie Misstrauen in seine ansonsten gleichmütigen Gesichtszüge geschlichen. Wir fochten ein lautloses Duell aus. Wir waren wie Schachspieler.

»Und dann erhielt ich die Nachricht«, warf Fletcher ein, entschlossen, seine Version der Ereignisse zu Gehör zu bringen, und ohne etwas von meinem wortlosen Gefecht mit seinem Vorarbeiter zu bemerken. »Ich bin augenblicklich hierhergeeilt. Kein Stein wurde mehr bewegt, kein Karren weggefahren. Ich habe sogleich gesehen, dass die Leiche entfernt werden musste; also habe ich meine Vorgesetzten informiert. Abgesehen davon«, fügte er hinzu, als ihm klar wurde, dass mir seine Termine völlig gleichgültig waren, »war es nötig, sie nach draußen zu bringen, damit Sie den Leichnam in Augenschein nehmen können. Das Haus ist äußerst baufällig und gefährlich …«

»Das weiß ich alles!«, unterbrach ich ihn ungehalten. Ich war es leid, dass mir immer und immer wieder die gleiche Geschichte aufgetischt wurde. Morris, Adams, Fletcher und wer weiß welcher Tom, Dick oder Hank sonst noch irgendetwas zu sagen hatte, sie alle erzählten dasselbe. Tatsache war, die Leiche war bewegt worden. Ich konnte nichts daran ändern, und alle wussten das. »Nun, soweit es mich betrifft, dürfen Sie die Arbeiten jetzt wieder aufnehmen«, sagte ich.

Fletcher schaute erleichtert drein und holte seine Taschenuhr hervor, um zu überschlagen, wie viel Zeit verloren gegangen war. Adams wandte sich ab und trottete davon – um seine Arbeiter zurückzurufen, wie ich annahm. Ich spürte, dass er froh war, mich los zu sein.

»Was ist mit Biddle und Jenkins, Sir?«, fragte Sergeant Morris.

»Sie können damit anfangen, jeden zu befragen, der hier arbeitet. Angefangen bei Mr Fletcher und dem Vorarbeiter, Adams. Ich will wissen, nach welchem Muster die Arbeit hier erfolgt.«

»Aber Sir! Es sind Hunderte von Arbeitern!«, platzte Biddle hervor und deutete auf die Männer ringsum.

»Ich werde jeden verfügbaren Constable herschicken lassen, damit er Ihnen hilft.«

Biddle und Jenkins schauten resigniert und düster drein.

»Sie und ich, Sergeant, wir haben eine Verabredung im Leichenschauhaus. Der Leichenbeschauer hat angeordnet, dass der Leichnam von einem Chirurgen untersucht wird.«

Biddles und Jenkins’ Stimmung hob sich augenblicklich. Sie wechselten befriedigte Blicke. Besser die im Leichenschauhaus arbeiteten länger als wir.

Ich habe schon viele Tote gesehen, doch nur wenige Male hatten sie in mir ein solches Mitleid hervorgerufen. Es gab eine Gelegenheit, vor vielen Jahren, die genauso schlimm gewesen war, doch damals war ich noch ein Junge gewesen. Inzwischen war ich Polizeibeamter, und wir alle reden uns ein, dass wir abgehärtet sind gegen das, wozu unsere Mitmenschen in der Lage sind. Sergeant Morris neben mir, ein erfahrener Mann, schien genauso bewegt zu sein von diesem Anblick, denn traurig schüttelte er den grauhaarigen Kopf.

Dr. Carmichael stand geduldig an der Seite und wartete auf uns, damit er mit seiner grausigen Arbeit anfangen konnte. Wenigstens er zeigte eine angemessene medizinische Distanz. Er war ein großer, kantiger Mann mit verblasstem rotem Haar und kleinen, scharf blickenden blauen Augen. Wie jeder Chirurg, der an Lebenden arbeitete, trug er einen schmutzigen Kittel, besudelt von altem Blut und dem verschmierten Inhalt von Eingeweiden. Dies war sein Sezierkittel, den er anzog, wenn er sich an seine beruflichen Pflichten machte. Er würde sich vor dem Gehen umziehen und blitzsauber das Haus verlassen, und niemand auf der Straße würde erraten, was er kurze Zeit zuvor getan hatte.

Ich habe gelesen, dass es irgendwo in Glasgow einen Arzt geben soll, der bei seinen Operationen erfolgreicher ist als der Rest, weil er alles und jedes in seinem Saal einschließlich den Unglücklichen auf seinem Tisch mit Karbolsäure besprüht. Der Grund dafür ist, dass er glaubt, irgendwelche für das bloße Auge unsichtbare Organismen wären an der Ausbreitung von Infektionen schuld. Die Vorstellung von diesen winzigen Organismen rührt aus den Arbeiten irgendeines Franzosen, wenn ich mich recht entsinne. Doch der tapfere Carmichael war vom alten Schlag, und ich vermochte mir nicht vorzustellen, dass er Karbolsäure versprühend an die Arbeit ging. Andererseits waren seine Patienten samt und sonders bereits tot.

Die Leichenhalle, zu der man die Tote gebracht hatte, war die dem Fundort am nächsten gelegene und befand sich im beengten Anbau eines Bestattungsunternehmers. Die sterblichen Überreste der respektableren Kundschaft dieses Bestatters lagen in einer angemesseneren Umgebung eine Tür weiter.

Unsere unbekannte Frau lag auf dem abgeplatzten Porzellantisch, weit abseits und außer Sicht der Trauernden, die jene anderen Toten besuchten. Sie war nackt ausgezogen worden und erwies sich als winzig kleine Person, obwohl eine ausgewachsene Frau, kaum mehr als eins fünfzig groß und schlank gebaut. Ihre Haut erinnerte an Marmor von jener vielfarbenen Sorte, in der sich Rot, Rosa und Violett ineinander vermischten, bis auf eine Stelle über ihrem Bauch, die gleichmäßig grau-grün aussah. An ihrer linken Schläfe befand sich eine tiefe Wunde, und ihre Gesichtszüge waren so verzerrt, dass es unmöglich war zu sagen, ob sie hübsch gewesen war. Doch ihr langes hellblondes Haar lag rings um ihren Kopf herum ausgebreitet wie ein leuchtender Heiligenschein, unberührt von den Verheerungen der Zersetzung. Die kleinen, ebenmäßigen Zähne, die zwischen ihren geteilten Lippen hervorlugten, sahen nahezu perfekt aus. Ich betrachtete ihre Hände. Sie trug keinen Ehering, doch der konnte auch gestohlen oder entfernt worden sein, um eine Identifikation zu verhindern. Eheringe trugen nämlich nicht selten persönliche Gravuren. Die Finger selbst zeigten bereits deutliche Spuren von Zersetzung, doch die Nägel waren sauber. Meiner Meinung nach war sie keine Arbeiterin gewesen, sonst hätte sie rauere Hände gehabt und verfaulte oder gar fehlende Zähne, trotz ihres jugendlichen Alters.

»Wie alt?«, fragte ich Carmichael.

»Ich würde sagen Mitte zwanzig«, antwortete der Pathologe.

Wir alle redeten leise, als befänden wir uns in einer Kirche.

»Und wie lange ist sie schon tot?«

Er zuckte mit den Schultern. »Das ist unter den gegebenen Umständen schwierig zu sagen. Länger als eine Woche, aber weniger als zwei vielleicht. Sagen wir, allerhöchstens zwei Wochen.«

Ich deutete auf die Kopfwunde, in der Fragmente des Schädelknochens durch die sich schälende Haut ragten. »Ist das die Todesursache? Was sagen Sie?«

»Dazu brauchen Sie mich wohl kaum«, entgegnete Carmichael auf seine trockene, präzise Art. »Ich bezweifle, dass die inneren Organe noch gut genug erhalten sind, um uns viel zu verraten. Selbstverständlich werde ich trotzdem eine sorgfältige Untersuchung durchführen, doch die Kopfwunde ist ohne Zweifel ernst genug, um als Todesursache in Frage zu kommen. Sie wurde mit einem schweren Gegenstand schlimm zugerichtet.«

»Wir haben am Fundort keine Waffe entdeckt, Sir«, meldete sich Morris zu Wort. »Ich habe eine sorgfältige Suche in der Umgebung durchführen lassen.«

Morris hatte sich in eine Ecke zurückgezogen, doch er war für seinen Geschmack noch immer zu nah bei der Toten. Morris legte manchmal eine Prüderie an den Tag, die man bei einem Beamten mit seinen Dienstjahren und seiner Erfahrung nicht erwartet hätte. Das war mir schon früher aufgefallen. Er war ehrlich schockiert, nicht nur vom Anblick der Toten, sondern auch von dem Gedanken an die Schändung, die männliche Hände nun ihrem Leichnam zufügen würden. Jede Falte in seinem Gesicht und seine ganze Haltung verrieten, wie unwohl er sich fühlte.

»Die Baustelle ist voll mit möglichen Waffen«, sagte ich. »Jeder, der dort arbeitet, besitzt eine Schaufel oder eine Spitzhacke.«

Carmichael räusperte sich. »Meiner Meinung nach war die Waffe kein solches Werkzeug. Nach einer Untersuchung der Wunden durch ein Vergrößerungsglas würde ich sagen, dass die Wunde von einem langen, ziemlich schmalen Gegenstand verursacht wurde.« Er zog das Vergrößerungsglas aus der Tasche und reichte es mir. »Sehen Sie selbst.«

Morris riss sich zusammen, überwand seine natürlichen Instinkte und beugte sich vor, um mir bei der genaueren Untersuchung behilflich zu sein. Wenn man ihm eine spezifische Aufgabe übertrug, vermochte er die menschlichen Überreste als reines Puzzle zu betrachten.

»Ein Schürhaken vielleicht?«, schlug er vor, nachdem wir beide durch Carmichaels Glas die Wunde betrachtet hatten.

»Zu schmal. Eher ein Gehstock oder eine Krücke mit einem metallenen Griffstück«, war meine Meinung.

»Die Waffe wurde jedenfalls mit beträchtlicher Kraft geschwungen«, sagte Carmichael hinter uns. »Der Angreifer wollte sie töten. Wir haben Spuren von mindestens fünf derartigen Schlägen.«

»Er war wütend«, murmelte ich. »Vielleicht war er eifersüchtig.«

»Zu dem Motiv des Angreifers kann ich Ihnen nichts sagen«, entgegnete Carmichael, »lediglich zu den Resultaten.«

»Ganz recht, Doktor. Was meinen Sie, Morris? Er stand vor ihr, ungefähr so …« Ich hob den Arm. »Und er hat sie geschlagen, so …« Ich brachte den Arm herab, hielt aber unmittelbar über dem Leichnam inne. »Er ist Rechtshänder, genau wie die Mehrzahl der Bevölkerung. Wo sind die Kleider der Toten?«

Carmichael, der ungerührt meine Aufführung verfolgt hatte, nickte in Richtung der anderen Seite des Raums. »Auf dem Tisch dort.«

Die Kleidung der Frau war sorgsam entfernt worden und lag gefaltet auf einem Untersuchungstisch. Morris hatte Recht gehabt mit seiner Einschätzung. Ein Kleid aus lavendelfarbenem Popeline von guter Qualität. Unterrock, Korsett, ein Baumwollhemdchen und -schlüpfer, Strümpfe, Kinderstiefel, alles ohne Ausnahme von guter Qualität und alles rätselhaft für mich. Die Sachen waren schmutzig, doch es war ein oberflächlicher Schmutz, nichts, was nur selten oder gar nicht gewaschen wurde und worin sich der Schmutz festgesetzt hatte. Die äußere Garderobe, also das Popelinekleid, war am schmutzigsten, verschmiert mit Schlamm und irgendetwas Grünlichem. Ich warf einen genaueren Blick darauf. Es war eine Art Schimmel und dorthin gekommen, als das Kleid über etwas Modriges gescheuert hatte. Das Material selbst war nicht modrig. Die Unterwäsche war sauberer: Nur das Baumwollhemdchen hatte Schweißflecken. Ich nahm an, dass die Unterwäsche der Unglücklichen erst nach dem Tod beschmutzt worden war.

Ich nahm die kleinen Stiefel zur Hand und drehte sie um. Die Sohlen waren nicht geflickt, doch das Leder hatte sich ihrem Fuß angepasst; also waren sie nicht neu. Ein Paar guter Stiefel hatte ihr lange Zeit gedient. Das, zusammen mit der züchtigen Garderobe, legte die Vermutung nahe, dass sie nicht zu jener Sorte junger Frauen gehört hatte, die auf der Suche nach Kunden auf den Straßen herumliefen. Außerdem war sie nicht häufig über Kopfsteinpflaster gelaufen, nur hin und wieder zur Kirche oder zum Einkaufen oder um den ein oder anderen Besuch in der Nachbarschaft zu tätigen.

»Keine Haube und kein Hut«, sagte ich an Morris gewandt. »Und kein Schal, kein Umhängetuch. Und doch sind es nicht die Sachen einer armen Person. Zwar auch nicht die einer reichen Frau, aber die einer respektablen. Keine Straßendirne jedenfalls.«

»Wer hat sie gefunden?«, fragte Carmichael. Ich sagte ihm, dass es Arbeiter auf der Baustelle gewesen waren, und er meinte nur: »Wahrscheinlich haben sie zuerst die Haube oder den Hut oder Schal und überhaupt alles, was sich verkaufen lässt, weggenommen, bevor sie Alarm geschlagen haben.«

Morris beeilte sich, Carmichaels voreingenommener Sicht der Arbeiterschaft zu widersprechen. »Die beiden Männer waren meiner Meinung nach viel zu schockiert, um auch nur an so etwas zu denken, Sir«, erklärte er.

»Wie auch immer«, sagte ich, »wir haben nur das, was wir hier sehen, und diese Sachen verraten uns, dass die Tote eine junge Frau war, die unter normalen Umständen auf ihr Aussehen geachtet hat. Die Strümpfe sind sorgfältig gestopft, auch wenn ein Zeh ein kleines Loch aufweist. Ich denke, Sergeant, dass sie nicht in diesem Zimmer gestorben ist. Sie starb woanders, möglicherweise in der Nähe, und ihre Leiche wurde dorthin geschafft. Sie ist klein und zierlich. Es gibt überall Handkarren und Schubkarren auf diesem Baugelände. Es wäre nicht weiter schwierig gewesen, sich eine davon zu nehmen, sie hineinzulegen und etwas über sie zu werfen.«

»Bestimmt hätte irgendjemand etwas gesehen, Sir.«

»Des Nachts? Ich bezweifle, dass das Gelände bewacht wird. Es gibt nichts Stehlenswertes dort, es sei denn, irgendjemand wollte ein paar alte Türen oder Fensterrahmen entwenden, und ich nehme nicht an, dass die Eisenbahngesellschaft sich deswegen den Kopf zerbrechen würde. Würden nicht Sie oder ich, kämen wir nach Einbruch der Dunkelheit selbst dort vorbei und sähen jemanden mit einer Schubkarre, der sich sichtlich unauffällig verhält, würden wir nicht genau das glauben? Dass er sich mit ein paar Türschlössern oder einem Stück von einem Kamin aus dem Staub macht, um sie anderswo zu verkaufen?«

»Zugegeben, Sir. Aber wer ist die Tote dann? Eine anständige junge Frau, nun ja, sie würde sicherlich vermisst werden.«

»Ganz genau, und irgendjemand vermisst sie auch, ganz bestimmt. Wir müssen sämtliche Meldungen über vermisste Frauen überprüfen, die in den letzten sechs Monaten bei der Polizei eingegangen sind. Wir fangen mit Central London an und arbeiten uns von dort nach außen vor, wenn es sein muss.«

»So lange ist sie bestimmt noch nicht tot!«, erinnerte uns Carmichael von seinem Obduktionstisch aus.

»Das ist absolut richtig, Doktor! Doch sie wurde vielleicht nicht sogleich ermordet. Die Kleidung gibt mir zu denken. Warum hat sie die Unterwäsche so lange getragen, dass sie fleckig wurde vom Schweiß? Und sehen Sie, die Füße der Strümpfe sind ebenfalls steif von Schweiß und Schmutz. Warum hat sie das Loch im Zeh nicht gestopft? Ich bin sicher, dass es sich um eine normalerweise ordentliche und saubere Person handelt, die regelmäßig ihre Socken gestopft hat, und sie würde auch verschmutzte Unterwäsche gewechselt haben. Ich frage mich, ob sie vielleicht vor ihrem Tod eine Zeitlang irgendwo gefangen gehalten wurde.«

»Die arme kleine Frau!«, sagte Morris und sah sichtlich schockiert aus.

»Immer schön der Reihe nach«, sagte ich forsch an seine Adresse gewandt. Jetzt war nicht der Zeitpunkt für Sentimentalitäten. »Vielleicht hat ihr Kleid Taschen. Suchen Sie auf dieser Seite, ich probiere es auf der anderen.«

Ich tastete mich an der Naht entlang, und tatsächlich, da war eine Tasche. Zuerst glaubte ich, sie wäre leer, doch als ich die Finger hineinschob, ertastete ich etwas. Ich zog ein kleines weißes Taschentuch hervor, unbenutzt, sauber gefaltet und gebügelt. »Was sagt man dazu, Sergeant? Sehen Sie sich das an. Ich schätze, wir haben Glück.«

Ich breitete das kleine Batist-Quadrat aus. Es trug die in blauer Seide eingestickten Initialen M. M.

»Nun, Miss M. M.«, sagte ich. »Sie haben aus dem Jenseits zu uns gesprochen.«

Carmichael hustete missbilligend. Er war Presbyterianer und nahm Anstoß an leichtfertigen Bemerkungen religiöser Natur.

Morris hatte das Taschentuch stirnrunzelnd betrachtet. »Ich habe eine Frage, Inspector, Sir«, sagte er unvermittelt. »Warum hat er sie nicht zum Fluss hinunter gelockt und dann ertränkt? Es wäre sehr wahrscheinlich als Selbstmord durchgegangen. In diesem Haus musste sie doch irgendwann gefunden werden!«

»Das ist eine gute Frage, Sergeant, und ich vermute, die Antwort lautet, dass das Baugelände von Agar Town dem Täter gelegen kam. Er hat vielleicht nicht damit gerechnet, dass jemand das Haus betreten würde, bevor es abgerissen wird. Die Häuser waren längst geräumt und leer. Vielleicht hat er geglaubt, dass man eine Abrissbirne benutzen und alles kurz und klein schlagen würde, bevor der Schutt beiseitegeräumt wurde, ähnlich wie Samson, der den Tempel seiner Folterknechte zum Einsturz brachte.«

Diesen Satz sagte ich nur, um Carmichael zu necken. Unwürdig von mir, ich weiß, aber so war es.

»Er rechnete damit, dass der Leichnam zerschmettert werden würde, und dass man sie erst finden würde, wenn der Schutt abgeräumt und weggefahren wird. Nun ja, man würde sie finden, doch in einem solchen Zustand, dass es nicht mehr möglich gewesen wäre festzustellen, woran sie gestorben ist.«

Ich trat zurück, und Morris, die Fleisch gewordene Erleichterung, schob sich zur Tür.

»Wir lassen Sie jetzt mit Ihrer Arbeit allein, Doktor«, sagte ich zu Carmichael.

Hinter mir war eine Bewegung, und ein junger Mann mit wächserner Gesichtsfarbe und glattem dunklem Haar in etwas, das ganz nach einer Schlachterschürze aussah, gesellte sich zu uns. Ich war Carmichaels Assistenten schon früher begegnet. Damals hatte ich ihn nicht gemocht, und ich mochte ihn noch immer nicht. Dieser Bursche hatte ein merkwürdiges Leuchten in den Augen, als diese auf dem Körper der Toten ruhten, das mir einen Schauder über den Rücken jagte. Doch es war keine Arbeit, vermutete ich, für die sich viele Freiwillige einfanden.

Anderthalb Stunden später in meinem Büro, nachdem ich meinen Mantel ausgezogen und meine Hemdsärmel hochgekrempelt hatte und mit dem Kopf über einer Wasserschüssel hing, um den Staub und den Geruch von diesem Morgen abzuwaschen, erhielt ich Carmichaels vorläufigen Bericht. Ich hob mein tropfendes Gesicht und wischte es mit einem Handtuch trocken, bevor ich die Blätter nahm, die mir ein Constable hinhielt.

Carmichaels Meinung bezüglich der Todesursache hatte sich nicht geändert. Er stand vor einem Rätsel, weil der Körper der Toten keine Spuren von Mangelernährung aufwies, andererseits jedoch ihr Magen und Darmtrakt vollkommen frei von Nahrung in jedwedem Stadium der Verdauung waren. Sie hatte seit mehr als achtundvierzig Stunden vor ihrem Tod keinerlei Essen mehr zu sich genommen. Doch eine weit bedeutendere Entdeckung hielt Carmichael bis zum letzten Satz seines Berichts zurück. Es konnte sich durchaus als ein Motiv für den Mord an der Unbekannten erweisen.