KAPITEL FÜNFZEHN

Ich war noch immer aufgewühlt, als ich beim Dorset Square ankam. Es schien mir eine gute Idee zu sein, nicht sogleich ins Haus zu gehen und Simms meinen Zustand zu zeigen. Er würde ihn bemerken, ohne jeden Zweifel, und vielleicht würde er bei Mrs Parrys Rückkehr eine diesbezügliche Bemerkung machen. Tante Parry wiederum würde es ihrem Freier berichten. Ich wollte auf gar keinen Fall, dass Dr. Tibbett erfuhr, wie gestresst ich nach Hause gekommen war. Das würde ihm die größte Befriedigung verschaffen.

Ich beschloss, mir ein Beispiel an Bessie zu nehmen und mich eine Weile in den Park zu setzen, um den Kindern und den Kindermädchen zuzusehen, bis ich mich beruhigt hatte und mein Gesicht nicht länger leuchtete wie – zumindest nahm ich dies an – eine rote Beete.

Ich setzte mich auf eine Bank, die abgetrocknet war. Sie fühlte sich kühl, doch angenehm an im wässrigen Sonnenlicht, und der starke Regen der vergangenen Nacht hatte die Blätter und das Gras erfrischt. Während meine Atmung sich langsam wieder normalisierte, hörten meine Wangen auf zu brennen. Zwei kleine Jungen rannten an mir vorbei und trieben Reifen mit großem Geschick über den Kiesweg, während sie fröhlich schrien.

»Master Harry!«, rief ein Kindermädchen verzweifelnd hinter einem der Knaben her. »Passen Sie auf die Pfützen und Ihre Stiefel auf!«

Doch die Jungen machten unbekümmert weiter, und ich musste daran denken, mit welchem Vergnügen ich selbst in ihrem Alter durch Pfützen geplatscht war und wie ungehalten Molly Darby reagiert hatte, wenn sie hernach meine Stiefel hatte putzen müssen. Allmählich fand ich wieder zu meiner alten Gelassenheit zurück und wollte soeben nach Hause gehen – da Tante Parrys Haus zumindest im Augenblick mein Zuhause war –, als ich zum dritten Mal an diesem Nachmittag hörte, wie jemand meinen Namen rief.

»Guten Tag, Miss Martin!«

Diesmal klang die Stimme höflich und ein wenig nervös. Ich blickte auf und sah, wie sich James Belling mit dem Hut in der Hand vor mir verbeugte.

Ich erwiderte seinen Gruß.

»Warten Sie hier auf jemanden, oder darf ich Ihnen für den Augenblick Gesellschaft leisten?«, fragte er als Nächstes.

Ich beschied ihm, dass er sich gerne zu mir setzen durfte, falls er dies wolle. Ich fragte mich, was seinen Wunsch nach einer Unterhaltung mit mir inspirierte und ob ich die Gelegenheit nutzen konnte, etwas Neues in Erfahrung zu bringen. Inzwischen war ich überzeugt davon, dass unser erstes Zusammentreffen absichtlich von ihm herbeigeführt worden war. Diesmal jedoch war er nicht aus dem Haus gekommen, sondern war allem Anschein nach auf dem Rückweg dorthin gewesen.

»Hat man Sie nicht gebeten, Ihre Mutter und Mrs Parry nach Hampstead zu begleiten?«, fragte ich.

»Nein, glücklicherweise nicht. Sie sind zu einer Teeparty gefahren, wo es lauter Biskuits und den neuesten Tratsch gibt. Ich wurde verschont.«

Er klang, als meinte er es tatsächlich ernst. Ich sah, dass ein Buch aus seiner Tasche lugte, und erkundigte mich, was er gerade las.

Er errötete, nahm das Buch hervor und zeigte es mir. »Es ist Mr Darwins Bericht über die Reise, die er als junger Mann an Bord der Beagle unternommen hat. Es ist kein neues Buch, aber ich lese es wieder und wieder.« Sein Tonfall wurde sehnsüchtig. »Ich wünschte, ich könnte es ihm nachtun und in unbekannte Länder reisen, um all die verschiedenen Lebewesen zu studieren. Doch selbst wenn sich mir eine solche Chance böte, würde mein Vater nie das Geld dafür hergeben.«

»Ihr Vater ist in London?« Mrs Belling hatte viel von ihren Kindern gesprochen, aber sie hatte den Vater nicht erwähnt, und doch hatte ich nicht den Eindruck erhalten, dass sie eine Witwe war.

»Er ist geschäftlich unterwegs. In Südamerika. Ich habe ihn gefragt, ob ich mitkommen dürfte, doch er wollte nicht.« James klang enttäuscht. »Ich hätte auf Darwins eigenen Spuren wandeln können! Doch mein Vater hat klar zum Ausdruck gebracht, dass er mir dies nicht gestatten werde. Er sagte, ich dürfte gerne mitkommen, wenn ich ein Interesse für seine Arbeit zeigte, doch das wollte wiederum ich nicht.«

»Und was wäre das für eine Arbeit?«, erkundigte ich mich.

»Eisenbahnen«, antwortete James finster.

Noch einer!

»Und Sie haben nicht vor, Ihrem Vater in seinen Fußstapfen zu folgen?«, hakte ich nach.

»Nicht, wenn ich es zu verhindern weiß!«, entgegnete James mit einigem Nachdruck. »Ich verspüre nicht den geringsten Wunsch, dieses Land oder irgendein anderes Land auf der Welt mit metallenen Schienen zu überziehen, auf denen qualmende Monster riesige Menschenmassen von einem Ort zum anderen befördern, und das mit einer solchen Geschwindigkeit, dass die Leute kaum noch etwas von der sich ständig verändernden Landschaft draußen vor den Wagenfenstern mitbekommen!«

»Sie reisen lieber langsam und halten an, um Steine am Wegesrand umzudrehen und Pflanzen und Tiere zu studieren«, sagte ich.

»Ganz recht!«, bestätigte er herausfordernd. »Das tue ich, und zwar wann immer ich kann!«

»Bitte denken Sie nicht, dass ich Sie kritisieren möchte!«, erklärte ich rasch. »Ich verstehe das im Gegenteil sehr gut. Ich habe das Buch ebenfalls gelesen, das Sie dort bei sich haben, genau wie Über den Ursprung der Arten

Sein blasses Gesicht nahm eine lebhafte rosa Farbe an, und er beugte sich erstaunt vor. »Das haben Sie? Meine liebe Miss Martin, Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr es mich freut, dass Sie das sagen! Es gibt so wenige Damen, die sich wirklich für das Studium der Natur interessieren – abgesehen vom Pressen von Blumen und Malen mit törichten Wasserfarben, was für diese Personen bereits als Erfüllung gilt!«

»Ich habe mir meine Bildung zum größten Teil selbst angeeignet«, gestand ich. »Ich habe nie irgendeine Schule besucht. Ich hatte für ein paar Jahre eine Gouvernante, doch sie war selbst nicht sonderlich gebildet, und danach hat mein Vater sich selbst um meine Ausbildung gekümmert. Aber er war ein vielbeschäftigter Mann, und deswegen war es mir selbst überlassen, etwas zu lernen, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot. Er hatte eine gute Bibliothek, und ich habe jedes Buch gelesen, das ich in die Finger bekam.«

»Das ist ja wunderbar!«, rief James begeistert. »Ich bin fest davon überzeugt, dass man Frauen den Zugang zu ernsthaften Büchern gestatten und sie zu eigenen Gedanken ermutigen sollte! Meine Schwester, die ein wunderbar funktionierendes Gehirn besitzt, durfte es nie wirklich benutzen. Meine Mutter scheint zu glauben, dass es Doras Chancen irgendwie behindern könnte, einen passenden Ehemann zu finden.«

Inzwischen strahlte ich ihn förmlich an. Nach Dr. Tibbetts Vortrag über den Platz einer Frau waren James Bellings Worte Musik in meinen Ohren. »Frank Carterton hat mir von Ihnen erzählt und von Ihrem Interesse für Fossilien«, berichtete ich ihm.

»Frank ist ein netter Kerl«, sagte James aufrichtig. »Wir waren gemeinsam in der Schule. Das heißt, er ist ein Jahr älter als ich und war eine Klasse über mir. Aber er war immer nett zu mir und hat mich beschützt. Jungenschulen sind manchmal ziemlich brutal, glauben Sie mir, ganz besonders dann, wenn sich ein Junge für Bücher interessiert und nicht gut ist im Sport. Ich werde Frank für immer dankbar sein.«

Mir kam ein Gedanke. »Waren Sie vielleicht beide Schüler von Dr. Tibbett?«

»Nein, Gott sei Dank nicht!«, rief James erschrocken, um sich sogleich zu entschuldigen. »Ich hätte das nicht sagen sollen. Ich hätte besser gar nichts gesagt.«

Wir mussten beide lachen.

»Dr. Tibbett hat eine schlechte Meinung von Frauen, die ernste Bücher lesen«, sagte ich.

»Dr. Tibbett hat eine schlechte Meinung von der Menschheit im Allgemeinen«, entgegnete James. »Abgesehen von ihm selbst und einigen auserwählten Sterblichen, heißt das.«

Damit war das Thema Dr. Tibbett erledigt.

»Verraten Sie mir doch«, fuhr James fort, »was halten Sie von Mr Darwins Argumenten?«

»Ah«, sagte ich. »Ich bin wohl kaum qualifiziert, eine Meinung darüber abzugeben. Um ehrlich zu sein, bin ich nicht sicher, ob ich all seine Erklärungen verstanden habe. Ich bewundere die Gelehrtheit seiner Worte und die Ausführlichkeit seiner Beobachtungen. Manchmal glaube ich, Lücken in seiner Argumentation zu entdecken. Ich denke allerdings, er ist sich dessen durchaus bewusst.«

»Zum Beispiel?«

»Oh, er kommt zu der Schlussfolgerung, dass alle Pferde, Esel und Zebras auf der Welt von einem gemeinsamen Vorfahren abstammen, doch er stellt fest, dass dies für die Hunde dieser Welt nicht gelten kann. Warum nicht? Es gibt doch wohl kaum einen größeren Unterschied zwischen einem Zugpferd und einem Zebra als zwischen einem Windhund und einem King Charles Spaniel. Andererseits bin ich weder eine Naturforscherin noch züchte ich Tiere. Außerdem finde ich, dass Mr Darwin geradezu besessen ist von Tauben.«

Eine Stadttaube landete wie auf ein Stichwort hin zu meinen Füßen und begann, auf und ab zu stolzieren.

James lachte laut auf. »Seine Entdeckungen sind nicht vollständig. Wie könnten sie das auch sein? Wir fangen gerade erst an, die Welt um uns herum zu begreifen. Ich finde es nur traurig«, fügte er unvermittelt hinzu, »dass Frank keinerlei Interesse für die Naturgeschichte zeigt. Ich habe versucht, mit ihm darüber zu reden, doch es ist sinnlos. Würde er sich dafür interessieren, hätte ich ihn bitten können, mich auf meinen Reisen zu begleiten. Ich fahre überall im Land herum, wissen Sie?«

»Frank hat mir erzählt, Sie wären in Dorset gewesen auf der Jagd nach Fossilien«, sagte ich vorsichtig. »Waren Sie auch schon weiter im Norden?«

»Oh ja! Ich reise, wohin immer ich kann! Es ist faszinierend, die Veränderungen von Flora und Fauna von Süden nach Norden zu beobachten und die Auswirkungen der Jahreszeiten, die je nachdem, wo man lebt, früher oder später einsetzen, zusammen mit dem variierenden Klima.«

Das Kindermädchen hatte die beiden kleinen Jungen mit den Reifen eingesammelt und entfernte sich mit ihnen. Andere Erwachsene und die Kinder in ihrer Begleitung waren ebenfalls verschwunden, und James und ich saßen plötzlich allein im Park. Es schien Teezeit zu sein. Ich sollte selbst ebenfalls gehen, bevor uns jemand hier alleine sitzen sah und es entweder Tante Parry berichtete oder, gefährlicher noch, der Mutter von James.

Ich erhob mich, und James folgte meinem Beispiel, wenn auch ein wenig zögernd.

»Ich muss jetzt gehen«, sagte ich. »Es war sehr interessant, mit Ihnen zu sprechen, Mr Belling.«

»Glauben Sie mir«, sagte er aufrichtig, »es war mir ein ausgesprochenes Vergnügen!«

»Was denn, eine Lady kennen zu lernen, die Bücher liest?«, neckte ich ihn kühn.

»Oh, viele Ladys lesen«, sagte er abfällig. »Meine Schwester liest ebenfalls, aber vollkommenen Schund. Würde ich ihr je ein ernsthaftes Buch geben, würde meine Mutter es ihr sofort aus den Händen reißen. Madeleine war genauso. Sie hat viele Bücher gelesen, aber es war alles der gleiche schlecht geschriebene romantische Unsinn.«

Es war, als hätte ich plötzlich eine kalte Dusche erhalten. Ich spürte, wie ich erstarrte, und ich musste mich zwingen, weiter mit unbekümmerter, beiläufiger Stimme zu sprechen.

»Sie haben mit meiner Vorgängerin über Bücher gesprochen?«

Er errötete. »Ja, sie …« James zögerte. »Hören Sie, Miss Martin«, sagte er verlegen. »Können Sie ein Geheimnis für sich behalten?«

Jetzt hatte er mich festgenagelt. Ja, selbstverständlich konnte ich ein Geheimnis für mich behalten. Doch meine Unterhaltung mit Ross war noch frisch in meinen Gedanken. Falls James im Begriff stand, mir etwas anzuvertrauen, das Licht auf Madeleines Verschwinden und Tod warf, musste ich es weitergeben. Andererseits würde James mir kein Wort mehr erzählen, wenn er meine Diskretion anzweifelte. Abgesehen davon, sobald ich ihm erst mein Wort gegeben hatte, konnte ich es nicht mehr brechen.

»Ich hoffe doch, Sie halten mich nicht für indiskret«, antwortete ich ausweichend.

James schaute erleichtert drein, und ich fühlte mich wie ein doppelzüngiges Monster.

»Selbstverständlich nicht!«, erklärte er mit Nachdruck. »Nun dann, Tatsache ist, ich habe Madeleine bereits früher kennen gelernt – bevor sie nach London kam, meine ich. Ich habe meine Mutter auf einer Reise zu ihrer Freundin nach Durham begleitet. Ich war sehr erpicht darauf, mit ihr zu fahren, weil ich hoffte, meine Studien erweitern zu können. Selbstverständlich musste ich einen Teil der Zeit an der Seite meiner Mutter verbringen, und dabei habe ich Madeleine kennen gelernt. Sie war damals die Gesellschafterin einer verschrobenen alten Lady, und sie tat mir sehr leid. Ich verwickelte sie in eine Unterhaltung, weil alle anderen sie völlig ignorierten. Ich bin sicher, dass meine Mutter sich nicht daran erinnert, Madeleine zu jener Zeit gesehen zu haben – falls sie sie überhaupt wahrgenommen hat. Dass Madeleine im Raum war, bedeutet nämlich nicht, dass meine Mutter ihre Anwesenheit bemerkte. Gesprochen hat sie auf jeden Fall nicht mit ihr. Es tut mir leid, das sagen zu müssen, doch für meine Mutter existieren Personen wie Madeleine einfach nicht.«

»Und mir tut es leid, sagen zu müssen, dass ich das sehr wohl glauben kann«, hörte ich mich sagen, bevor ich es verhindern konnte.

James lächelte entschuldigend. »Sie hat Sie ignoriert«, sagte er. »Nehmen Sie es nicht persönlich. Sie hat eine sehr vornehme Haltung. Wie dem auch sei … als Madeleine hier in London eintraf, erinnerte sie sich sofort an mich. Sie war erfreut, einen Bekannten vorzufinden, und ganz besonders, dass ich dieser Bekannte war. Ich war einigermaßen erschrocken, um ehrlich zu sein, wegen meiner Mutter, verstehen Sie …? Ich durfte nicht zulassen, dass Madeleine mich jedes Mal, wenn wir im gleichen Raum waren, wie einen alten Freund begrüßte.«

Sein Gesichtsausdruck flehte um Verständnis. Ich nickte ihm aufmunternd zu.

»Ich überzeugte Madeleine, Stillschweigen darüber zu bewahren, dass wir uns von früher kannten, und eine gewisse Distanz zu wahren, wenn wir in Gesellschaft Dritter waren. Doch ich traf sie von Zeit zu Zeit hier im Park, auf einer Bank, genau wie ich heute Sie getroffen habe. Sie las üblicherweise. Ich denke, sie war froh, aus dem Haus zu kommen. Sie war sehr unglücklich und einsam. Ich blieb stehen und wechselte ein paar Worte mit ihr, meistens über das Buch, das sie gerade in Händen hielt. Es war immer die gleiche Art von Erzählung.« Er seufzte. »Ich war zutiefst entsetzt, als ich von ihrem Tod erfuhr. Sie war harmlos, wissen Sie, aber sie war auch ziemlich …«

»… töricht?«, schlug ich vor.

»Nein. Ich wollte sagen dumm«, antwortete James mit unerwarteter Offenheit. »Deswegen hatte ich stets ein wenig Angst, sie könnte verraten, dass wir uns aus Durham kannten und uns beide aneinander erinnerten. Meine Mutter hätte darauf bestanden, dass Mrs Parry Madeleine auf der Stelle entlässt. Sie wäre überzeugt davon gewesen, dass Madeleine und ich kurz vor einer Verlobung standen, was einfach lächerlich ist; aber wenn meine Mutter sich erst einmal etwas eingeredet hat, dann gibt es nichts mehr daran zu rütteln! Sie hätte mir einfach keine Ruhe mehr gelassen!«

Auch das konnte ich glauben. Madeleine war tatsächlich dumm gewesen, dachte ich. James hatte sich ihrer nicht sicher sein können. Und was Madeleine anging, hatte sie in James’ Interesse reine Freundlichkeit gesehen, oder hatte sie mehr hineininterpretiert? War die Idee einer Verlobung für sie genauso lächerlich gewesen? Wäre das nicht genau die Sorte von Aschenputtel-Geschichte gewesen, die sie so gerne las? Doch für Madeleine hatte es kein glückliches ›Und wenn sie nicht gestorben sind …‹ gegeben.

»Ich muss wieder ins Haus zurück«, sagte ich. »Es geht nicht an, wenn man uns sieht, wie wir hier zusammenstehen und schwatzen.«

Gut möglich, dass Dr. Tibbett erneut auftauchte. Oder dass irgendein Dienstbote entweder aus dem Haus von Mrs Parry oder von Mrs Belling uns entdeckte und den Vorfall meldete. Unter den Bediensteten in jedem größeren Haushalt gibt es immer mindestens einen Spion.

Der Gedanke traf mich mit unerwartetem Nachdruck. Ja. Aber wer war im Haushalt von Mrs Parry der Spion? Nugent, die Tag für Tag hinter verschlossenen Türen mit ihrer gnädigen Herrin zusammen war und ihr den neuesten Klatsch berichtete, während sie ihr die Locken legte? Wohl eher nicht. Nugent schien mir wie eine Frau zu sein, die überhaupt keine Neigung zum Klatschen hatte. Nein, es musste Simms sein, dachte ich. Simms, der sich so unauffällig und geräuschlos durch das ganze Haus bewegte, wie Frank mir verraten hatte. Seine Arbeitgeberin war möglicherweise nicht die Einzige, die von ihm mit Schnipseln von Tratsch versorgt wurde. Ich hatte nicht vergessen, wie ich ihn an meinem ersten Abend im Haus in einer privaten Unterhaltung mit Dr. Tibbett bei der Eingangstür gesehen hatte. Frank hatte erzählt, dass der Butler und seine Frau es in ihrer gegenwärtigen Anstellung ›sehr komfortabel‹ hatten. Sie hatten reichlich Gelegenheit, Dr. Tibbetts Besuche zu beobachten und über seine Absichten zu spekulieren. Simms würde sicherstellen, dass er und seine Frau nicht die Verlierer sein würden, was auch immer sich daraus ergeben mochte. Mit einem Mal war ich doppelt froh, dass ich hier im Park geblieben war, bis ich meine Fassung wiedererlangt hatte, und nicht sofort nach Hause gegangen war.

James Belling redete weiter, verabschiedete sich von mir und bat um Verzeihung, dass er mich aufgehalten hatte.

Ich antwortete auf angemessene Weise und überquerte die Straße zum Haus von Mrs Parry, wo mir die Tür nicht von Simms, sondern von Wilkins geöffnet wurde, sehr hübsch in ihrer gestärkten Spitzenhaube und Schürze.

Ich erkundigte mich, wieso der Butler nicht geöffnet hatte, und erhielt eine einigermaßen verblüffende Antwort.

»Mylady ist nicht zu Hause, Miss, und Sie wollten kein Mittagessen; deswegen haben sich Mr und Mrs Simms den Nachmittag frei genommen und sind nach Highbury gefahren, um ihren Sohn zu besuchen.«

»Oh?«, sagte ich. »Ich wusste gar nicht, dass Mr und Mrs Simms Kinder haben.« Obwohl es natürlich keinen Grund gab, warum sie keine haben sollten.

»Nur den einen Sohn«, sagte Wilkins. »Sie sind sehr stolz auf ihn. Er ist Angestellter bei einem Anwalt.«

»Meine Güte!«, sagte ich. »Sie müssen sehr glücklich sein, dass er es so weit gebracht hat.«

»Mrs Simms bildet sich einiges auf ihn ein«, sagte Wilkins überraschend bissig. »Aber ich nehme an, ich würde es genauso machen, wenn ich an ihrer Stelle wäre.«

Wir leben in einer Gesellschaft, die sich rasch verändert, dachte ich, während ich die Treppe hinaufstieg. Ben Ross, dessen Vater noch ein Bergmann gewesen war, hatte dank meinem Vater eine Ausbildung erhalten und war zu einem Police Inspector aufgestiegen. Der junge Simms, dessen Eltern sich etwas darauf einbildeten, in die höheren Ränge der Dienstbotenschaft aufgestiegen zu sein, strebte einem selbstständigen Beruf entgegen. Sie und ihresgleichen schnappen bereits nach den Fesseln der Frank Cartertons und James Bellings’ dieser Tage, und in ein oder zwei Generationen würden sie sie überholt haben, dessen war ich sicher. Und die Frauen?, fragte ich mich. Wann würden wir uns von den Ketten befreien, die die Gesellschaft uns angelegt hatte, und zu neuen Ufern aufbrechen – und Dr. Tibbetts schlimmste Befürchtungen Wirklichkeit werden lassen?

Ich blieb vor Tante Parrys Schlafzimmertür stehen und lauschte. Ich glaubte, Bewegung hinter der Tür zu hören, und klopfte an.

Wie ich erwartet hatte, öffnete Nugent die Tür.

»Ich möchte Sie nicht bei der Arbeit stören«, sagte ich zu ihr. »Ich wollte nur sagen, dass ich genau den richtigen Faden für die Änderungsarbeiten gefunden habe.« Ich zeigte ihr meinen Kauf.

Nugents mürrische Gesichtszüge wichen einem Lächeln. »Oh, der ist wirklich perfekt, Miss! Ich habe die Ärmel bereits aufgetrennt. Kommen Sie, und sehen Sie es sich an!«

Sie trat zur Seite, und ich ging ins Zimmer, um ihre bisherige Arbeit an meinem Seidenmantel in Augenschein zu nehmen.

»Ich habe ihn in Myladys Schlafzimmer mitgenommen«, gestand sie, »weil Mylady für den Nachmittag außer Haus ist und weil die Sonne so hübsch und warm ins Zimmer scheint. Ich arbeite gerne hier drin.«

Ich sagte ihr, dass ich ihr dankbar dafür sei, dass sie ihre wenige freie Zeit für mich opferte.

»Oh nein, Miss«, erwiderte sie. »Ich nähe gerne.«

Ich setzte mich auf den Samthocker, wo ich bereits früher am Tag gesessen hatte, um Tante Parry beim Schmieden ihrer Zukunftspläne für mich zu lauschen.

»Wilkins hat mir erzählt«, begann ich, »dass Mrs Parry die Garderobe von Miss Hexham dem Personal gegeben hat.«

Ein Schatten huschte über Nugents Gesicht. Ich sah, wie sie einen inneren Widerstreit ausfocht. Sie wollte nichts Kritisches über ihre Herrin sagen, doch ihre Ehrlichkeit drängte sie dazu. Es tat mir leid, sie in diesen Zwist zu bringen, doch das Verschenken von Madeleines Garderobe hatte mich von dem Augenblick an gestört, als ich davon gehört hatte.

»Es war nicht richtig in meinen Augen!«, platzte Nugent heraus. »Außer Ihnen würde ich das niemandem sagen, Miss Martin. Aber ich konnte nicht anders, ich habe immer wieder gedacht, Miss Hexham würde ihre Meinung noch ändern und nach ihren Kleidern schicken. Ich habe nicht geglaubt, dass sie zurückkommen würde, nicht mehr, seit Mylady mir erzählt hat, dass sie durchgebrannt ist.« Nugent schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Wer hätte das gedacht? Sie schien mir eine so respektable junge Lady zu sein. Aber ich verstehe, dass sie Mylady nicht mehr gegenübertreten wollte – nicht, nachdem sie Mylady so enttäuscht hatte. Ich dachte allerdings, sie würde zumindest eine Nachricht senden, um mitzuteilen, was mit ihren Sachen geschehen soll.«

»Ich glaube, sie hat irgendetwas in dieser Richtung in ihrem Brief geschrieben«, sagte ich. »Dem Brief, in dem sie Mrs Parry ihr Durchbrennen gebeichtet hat.«

Nugent schüttelte den Kopf. »Das mag vielleicht sein. Aber es erscheint mir trotzdem irgendwie falsch.«

»Wie das?«, erkundigte ich mich vorsichtig.

Nugent schaute mich verlegen an. »Nun ja. Darf ich offen sprechen, Miss? Ich will nicht respektlos erscheinen. Miss Hexham hatte nicht viel Garderobe, ein wenig wie Sie selbst, Miss. Das, was sie hatte, war jedoch von guter Qualität, und sie pflegte ihre Sachen und stopfte alles sehr hübsch, wenn einmal etwas kaputtging. Aber sie hatte in ihrem Leben nie Geld für Leichtsinnskäufe übrig, das konnte man ihr ansehen. So ist es mit den meisten Leuten, denke ich. Nun ja …« Nugent atmete tief durch, bevor sie weitersprach. »Jemand, der einen Schrank voll Garderobe besitzt und genügend Geld, um alles neu zu kaufen, wenn ihm danach ist, würde vielleicht weggehen und alles zurücklassen und nicht danach schicken; aber jemand wie Miss Hexham bestimmt nicht, ganz bestimmt nicht … So, jetzt wissen Sie, was ich denke!«

Das war eine scharfsinnige Beobachtung, und sie beschrieb vollkommen zutreffend, was die ganze Zeit über in meinem Hinterkopf genagt hatte. »Vielleicht«, schlug ich vor, »hat der betreffende Gentleman versprochen, alles zu ersetzen.«

»Es ist eine Frage des Stolzes«, sagte Nugent leise. »Eine junge Frau brennt nicht durch und lässt alles zurück, selbst Strümpfe und Unterwäsche, um gleich von Anfang an um alles bitten zu müssen, selbst um diese Artikel. Es wäre einfach nur ungebührlich.« Nugent nickte vor sich hin; dann presste sie die Lippen aufeinander. Sie würde nichts mehr zu diesem Thema sagen. Doch sie hatte mir genug verraten.

Madeleine mochte den Brief an Mrs Parry geschrieben haben, doch die Worte waren nicht die ihren gewesen. Sie war weder frei gewesen, um wegen ihrer Garderobe zurückzukehren, noch hatte sie eine Adresse nennen dürfen. Der Mann, der neben ihr gestanden und ihr die Worte diktiert hatte, hatte ohne Zweifel geglaubt, jedes Detail bedacht zu haben, bis hin zu der Frage, was mit Madeleines Besitztümern geschehen sollte. Doch er hatte sich selbst und seine furchtbaren Absichten verraten. Der einzige Grund, warum Madeleine ihre Kleidung nicht mehr benötigte, war, weil sie bald tot sein würde.

Ben Ross

Bei meiner Rückkehr zum Scotland Yard wurde ich ins Büro von Superintendent Dunn bestellt, und es war keine angenehme Unterhaltung, die mich dort erwartete.

»Wie ich höre, haben Sie heute Morgen einen Zeugen verloren!«, begann er auf seine typisch brüske Art.

»Den Vorarbeiter Adams«, sagte ich. »Er ist verschwunden, und ich glaube, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte. Ich hoffe, dass ich mich irre, doch um sicher zu sein, habe ich der Flusspolizei seine Beschreibung geschickt.«

»Einfach so oder wie?« Dunn kratzte sich den widerspenstigen Schopf.

»Jawohl, Sir. Es gibt zwar keinerlei Hinweise darauf, dass er nicht zurückkehren wird, aber ich halte es für unwahrscheinlich. Warum um alles in der Welt sollte der Mann ausgerechnet jetzt verschwinden? Ich bin noch einmal auf der Baustelle gewesen, um zu sehen, ob er seit meinem letzten Besuch heute Morgen rein zufällig wieder aufgetaucht ist, doch ich hatte kein Glück. Auf dem Rückweg hierher habe ich einen Umweg durch die Oxford Street gemacht, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, meine Gedanken zu ordnen und meine nächsten Schritte zu planen. Dort bin ich zufällig Miss Martin begegnet.«

»Ach, Sie sind also Miss Martin begegnet? Tatsächlich?« Superintendent Dunns Tonfall mochte sich ein wenig von dem Dr. Tibbetts unterscheiden, doch ich sah, dass er den gleichen Verdacht hegte wie der alte Schulmeister.

»Ich versichere Ihnen, Sir, es war reiner Zufall.«

»Ich zweifle nicht an Ihrem Wort, Inspector. Was hatte Miss Martin Interessantes zu berichten?«

»Dass unser Freund Mr Fletcher am Dorset Square war und Mrs Parry besucht hat.«

»Ich werd verrückt!«, brummte Dunn. »Was hatte er dort zu suchen?«

»Wie sich herausgestellt hat, ist Mrs Parry Anteilseignerin bei der Midland Railway Company, die den neuen Bahnhof auf dem Gelände von Agar Town errichtet. Miss Martin glaubt, dass Mrs Parry, obwohl es ihr leid tut, dass Miss Hexham ein so trauriges Ende genommen hat, unsere Ermittlungen am liebsten im Sande verlaufen sehen würde. Sie mag die Aufmerksamkeit nicht, die ihrem Haushalt durch den Fall zuteil wird. Sie fürchtet die Öffentlichkeit eines Mordprozesses mehr, als sie nach Gerechtigkeit verlangt. Fletcher und seine Arbeitgeber denken genauso. Er war so gut wie sicher dort, um sich Mrs Parrys Unterstützung zu sichern, und wir sollten damit rechnen, von der Lady zu hören, Sir. Sie wird vermutlich versuchen, sich auch die Unterstützung von Miss Martin zu sichern, weil Lizzie, ich meine Miss Martin …«

Dunns Augenbrauen zuckten alarmierend.

»Miss Martin war gezwungen, ihr mitzuteilen, dass der verstorbene Dr. Martin mein Förderer war, und Mrs Parry gehört zu der Sorte von Frauen, die glauben, aus diesem Grund hätte Dr. Martins Tochter einen gewissen Einfluss auf mich. Weil ich ihr gegenüber eine Verpflichtung habe, meine ich.«

»Ich möchte doch klargestellt sehen, dass dem nicht so ist!«, grollte Dunn. »Obwohl es mir ebenfalls so scheint, als hätte Miss Martin einen gewissen Einfluss auf Sie, Inspector!«

Ich spürte, wie ich errötete, und blieb um eine Antwort verlegen.

Dunn ließ mich gnädigerweise vom Haken. »Ist das alles, was Miss Martin Ihnen erzählt hat?«

»Wir wurden unterbrochen, Sir, durch das Auftauchen eines aufgebrachten älteren Burschen namens Dr. Tibbett. Er ist ein guter Freund von Mrs Parry und ein regelmäßiger Gast in ihrem Haus. Ich würde gerne mehr über ihn in Erfahrung bringen. Ich weiß nicht, ob sein Doktortitel von einer medizinischen, geistlichen oder philosophischen Fakultät verliehen wurde. Wenn ich raten müsste, würde ich ein Pfund gegen einen Penny wetten, dass er ein Schulmeister ist oder zumindest war. Er muss sicherlich bereits die sechzig überschritten haben.«

»Ich werde mich darum kümmern«, sagte Dunn und kritzelte Tibbetts Namen auf ein Blatt Papier. »Sie suchen weiter nach diesem Vorarbeiter, diesem Adams.«

Ich war froh zu entkommen. Lizzie hatte Einfluss auf mich; damit hatte Dunn vollkommen Recht. Andererseits hatte sie mich seit jenem Tag beschäftigt, an dem ich sie als Knabe zum ersten Mal gesehen hatte. Für mich, einen Grubenjungen, der an die verkrüppelten, halb verwilderten und von Kohlenstaub verdreckten Kinder um sich herum gewöhnt gewesen war, hatte die Tochter des Doktors ausgesehen wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Ich hatte ihr meinen Talisman in die Hand mit den sauberen Nägeln und der weichen Haut gedrückt und ein Gebet zu einem Gott gesandt, von dem ich nicht wusste, ob er die Bitten von Grubenjungen erhörte, dass sie mich nicht vergessen möge. Doch vielleicht hatte er mir zugehört, denn sie hatte sich an mich erinnert, was ich mir nur als ein Wunder zu erklären vermochte.

Als Lizzie mir vorgeworfen hatte, ich wäre skrupellos in meinem Bestreben, sie auszunutzen, hatte mich das zutiefst verletzt, und es machte mir immer noch zu schaffen. Ich hatte wirklich nicht diesen Eindruck bei ihr hervorrufen wollen. Selbstverständlich hatte sie Recht, wenn sie behauptete, ich hätte ihre Position im Haushalt von Mrs Parry ausgenutzt, um an Informationen zu gelangen. Doch schließlich war sie selbst es gewesen, die zuerst zu mir gekommen war mit ihren beiden Zeugen und die mir anvertraut hatte, was sie selbst herausgefunden hatte. Mrs Parry und der elende Fletcher waren nicht die Einzigen, die sich wünschten, die Sache wäre endlich vorbei und erledigt. Ich hatte das Gefühl, dass Lizzie nicht sicher war, solange sie in diesem Haus arbeitete.