KAPITEL ZEHN

Elizabeth Martin

Es klopfte energisch an meiner Tür, und dann flog sie unsanft auf an jenem Freitagmorgen kurz vor acht. Bessie kam herein, laut ächzend und die schwere Kanne mit heißem Wasser in den Armen. Das Ächzen mochte von der Anstrengung herrühren, doch ich hatte das Gefühl, dass Ärger die Ursache war. Sie erweckte zumindest den Anschein, einigermaßen aufgebracht zu sein. Mürrisch erwiderte Bessie meinen Morgengruß, ohne jedoch meinem Blick zu begegnen.

Während ich aus dem Bett stieg und mir meinen Schal umlegte, nahm sie die tönerne Schale vom Waschschrank und stellte sie auf den Teppich. Ich beobachtete sie, während sie heißes Wasser aus der Kanne hineingoss. Konzentriert verrichtete sie ihre Arbeit, um nur ja nichts zu verschütten.

»Lass nur, Bessie«, sagte ich, nachdem sie die Schale gefüllt hatte und Anstalten machte, sie wieder auf den Waschschrank zu heben. »Ich mach das schon.«

»Wie Sie meinen, Miss.« Sie packte die leere Kanne und wollte zur Tür wie ein aufgeschreckter Käfer, der in eine neue Deckung flüchtet, wenn der Stein umgedreht wird, unter dem er sich versteckt hat.

»Bessie!«, rief ich.

Sie war bereits halb durch die Tür, doch sie konnte nicht so tun, als hätte sie mich nicht gehört. Unwillig drehte sie sich wieder zu mir um und blieb abwartend im Durchgang stehen.

»Ja, Miss?«

»Was ist gestern unten passiert, als die Polizei im Haus war, um das Personal zu vernehmen? Weißt du, ob die Polizisten etwas Interessantes in Erfahrung gebracht haben?«

»Nein«, antwortete Bessie. »Niemand hat mir irgendwas erzählt. Außerdem hat Mr Simms gesagt, dass wir nicht schwatzen sollen.« Die Worte kamen in einem Ton von feierlicher Tugendhaftigkeit und wurden von einem bedeutsamen Blick begleitet.

»Mr Simms wollte nicht, dass du nicht mit mir sprichst, Bessie. Genauso wenig, wie er wollte, dass du der Polizei Informationen vorenthältst, die ihr vielleicht weiterhelfen könnten.«

Bessie bedachte mich mit einem weiteren Blick, der nahelegte, dass sie den Butler schließlich besser kannte als ich. Doch ich wollte ihr klarmachen, dass der Butler vielleicht Autorität über sie besaß, jedoch keine über mich.

»Hat einer der Polizeibeamten mit dir gesprochen, Bessie?«, fragte ich freundlich.

Bessie verlagerte den leeren Krug von einer Hand in die andere und zögerte; doch wie ich geahnt hatte, schwelte in ihrem Herzen ein Groll. Jetzt kochte er über, und endlich sprudelten die Worte aus ihr hervor.

»Sie kamen erst ganz zum Schluss zu mir. Ich meine, ich bin ein Niemand, soweit es die Polizisten betrifft. Sie haben alle anderen vernommen und alles aufgeschrieben und so. Dann hat sich der Constable, so ein großer, schwitzender Kerl in einer blauen Uniform, zu mir umgedreht und gegrinst. ›Na, du halbe Portion?‹, hat er gesagt. ›Hast du uns vielleicht auch etwas zu erzählen?‹«

Bessies Miene verdüsterte sich wütend bei dem Gedanken, und die zu große Haube rutschte ihr in die Stirn. »›Nein!‹«, hab ich zurückgegiftet. ›Und Sie haben kein Recht, so mit mir zu reden! Ich bin eine ehrliche Bürgerin, das bin ich, und Sie müssen höflich zu mir sein!‹ Er hat sich fast totgelacht. Dann kam der Sergeant herbei, um zu sehen, was los war, und schickte den dicken Constable weg. Und dann bekam ich Scherereien mit Mrs Simms, weil ich frech gewesen war zu einem Beamten des Gesetzes. Aber ich war nicht diejenige, die sich Freiheiten herausgenommen hat! Er war es!«

»Vielleicht wollte er dich nur beruhigen, Bessie, für den Fall, dass du verängstigt warst«, schlug ich besänftigend vor.

»Nein!«, schniefte Bessie. »Er fand sich toll, das ist alles. Er hat ein Auge auf Wilkins geworfen, als sein Sergeant nicht hingesehen hat, aber er ist abgeblitzt bei ihr. Wilkins trifft sich mit dem Diener aus Nummer sechzehn. Er hätte leichter zum Zug kommen können, wenn er sein Glück bei Ellis versucht hätte, wissen Sie? Aber Ellis ist nicht so hübsch wie Wilkins. Wenn ich jetzt nicht wieder nach unten gehe, Miss, krieg ich schon wieder Ärger mit Mrs Simms!«

Und mit diesen Worten huschte sie davon. Ich überlegte, dass unten in der Küche eine Welt existierte, die sich getreu den darwinschen Theorien ganz anders entwickelt hatte als die Gesellschaft oben. Hätte sich der große Naturwissenschaftler darangemacht, sie zu studieren, er wäre auf genauso viel Interessantes gestoßen wie in Feuerland. Bessie begriff trotz ihrer Jugend die Welt sehr gut, in der sie lebte. Sie besaß scharfe Augen und einen wachen Verstand und hatte erkannt, was Erwachsene antrieb. Vielleicht hätten die Beamten zuerst mit ihr sprechen sollen und nicht warten bis zuletzt. Und als einer von ihnen mit ihr gesprochen hatte, hatte er den Fehler begangen, sie in ihrer Würde zu beleidigen. Was auch immer Bessie wusste – und ich war sicher, dass sie etwas wusste –, jetzt würde sie es für sich behalten, schon aus Prinzip.

»Oder …«, sagte ich leise zu mir selbst, »… oder, weil sie Repressalien fürchtet.«

Ich ging ein wenig später nach unten als an den vorherigen Tagen, und Frank hatte das Haus bereits verlassen. Ich war froh darüber. Die Erinnerung an unsere Begegnung in der Bibliothek erweckte gemischte Gefühle in mir. Er hätte nicht dort sitzen dürfen und mich beobachten, während ich im Sessel geschlafen hatte. Er hatte meine ungünstige Situation ausgenutzt, als ich erwacht war, und ich hatte das Gefühl, dass meine Antworten dumm geklungen hatten. Andererseits wusste ich, in welch delikater Lage er sich selbst im Hinblick auf Madeleines Verschwinden und ihr nachfolgendes Schicksal befunden hatte. Er musste, genau wie er gesagt hatte, ganz oben auf der Liste von Inspector Ross’ Liste der Verdächtigen stehen. Falls Ross denn eine Liste hatte.

Doch ich hatte mein eigenes Programm im Sinn. Zu diesem Zweck machte ich mich zuerst daran, in Simms’ Gunst zu kommen. So ärgerlich der Gedanke auch war, das zu tun, ein Butler ist eine Person, deren Sympathien man sich besser nicht verscherzt, und ich benötigte seine Billigung bezüglich des Plans, den ich ausgeheckt hatte.

»Darf ich Ihnen ein wenig Schinken schneiden, Ma’am?«, erkundigte er sich, als er die Kaffeekanne vor mir abstellte.

»Hören Sie, Simms«, sagte ich. »Ich möchte niemandem unnötig Arbeit machen, aber Mr Carterton hat mir erzählt, dass Mrs Simms ein wahrhaft köstliches Omelette zuzubereiten versteht. Was glauben Sie? Findet sie vielleicht die Zeit, um mir ein kleines Omelette zu machen?«

Simms dachte über mein Ansinnen nach. »Nun, Miss, ich denke, das dürfte kein Problem sein. Ich werde hinuntergehen und sie fragen.«

Nach recht kurzer Zeit traf das Omelette ein. Frank hatte die Wahrheit gesagt: Es war wirklich exzellent. Als Simms zurückkehrte, um den Teller abzuholen, sagte ich aufrichtig: »Bitte richten Sie Mrs Simms meinen Dank aus. Das Omelette war in der Tat köstlich.«

»Es war ihr eine Freude, Miss Martin«, entgegnete er einigermaßen gnädig.

»Ich hoffe, die Aktivitäten der Polizeibeamten gestern haben Sie nicht allzu sehr gestört«, fuhr ich fort. »Es muss ein rechtes Ärgernis für Mrs Simms gewesen sein.«

»Mrs Simms ist zurechtgekommen«, erwiderte Simms. »Mrs Simms ist bemerkenswert belastbar. Ich glaube nicht, dass es einen Notfall haushaltlicher Natur gibt, den Mrs Simms nicht in die Hand nehmen und binnen kürzester Zeit lösen könnte.«

»In der Tat, ich bin sicher, dass es so ist. Mrs Simms ist eindeutig eine exzellente Köchin, und der gesamte Haushalt läuft, wie mir scheint, glatt und präzise wie ein Uhrwerk.«

Ich ermahnte mich, es nicht zu übertreiben. Allerdings glaubte ich nicht, dass Frank zu der Sorte von Leuten gehörte, die dem Personal dankten, genauso wenig wie Mrs Parry – und Regen, der auf ausgetrockneten Boden fällt, wird rasch aufgesogen.

»Ich danke Ihnen, Miss Martin«, sagte Simms und lächelte beinahe.

»Ich zögere, ein weiteres Mal auf die Gutmütigkeit von Mrs Simms zu spekulieren«, sagte ich. »Doch wie Sie wissen, bin ich neu in London. Es ist so viel passiert seit meiner Ankunft in dieser Stadt, dass ich noch keine Zeit gefunden habe, mich ein wenig umzusehen. Ich habe vor, dieses Versäumnis heute nachzuholen; aber ich muss gestehen, dass ich mehr als ein wenig fürchte, mich zu verlaufen. Ich hatte überlegt, ob Mrs Simms heute Morgen möglicherweise für ein, zwei Stunden auf Bessie verzichten könnte. Bessie kennt sicher jede Straße und jede Gasse, und wenn ich sie mitnehmen könnte, müsste ich nicht fürchten, den Fuß in eine falsche Gegend zu setzen. Ich hatte überlegt, Mrs Simms zu fragen, ob sie mir vielleicht Wilkins oder Ellis mitgeben könnte, doch ich fürchte, es könnte zu Streitigkeiten zwischen den beiden kommen. Wenn eine der beiden Mägde denkt, die andere hätte einen Vormittag frei von ihren Pflichten verbracht, welche notwendigerweise dann von ihr mit übernommen werden müssten, wäre das sicherlich nicht gut. Was denken Sie?«

Simms musterte mich mit einem scharfsinnigen Blick. Er vollzog meine Überlegung bezüglich der beiden Mägde nach. Er schürzte die Lippen. Ich wartete. Die Entscheidung musste von ihm kommen und durfte nicht von mir eingefordert werden.

»Ich werde mich bei Mrs Simms diesbezüglich erkundigen, Miss«, sagte er zu guter Letzt und meiner großen Erleichterung.

Er kehrte kurze Zeit später noch einmal zurück und teilte mir mit, dass Bessie um halb elf bereit sein würde und er sie in den kleinen Salon hinaufschicken würde.

Bessie traf pünktlich mit dem Halbstundenschlag der goldbronzenen Uhr auf dem Kaminsims ein. Sie war sauber geschrubbt und trug ein frisches Kleid ohne ihre übliche Schürze. Ihre Stiefel waren poliert. Statt ihrer übergroßen Haube trug sie einen Damenhut, der vielleicht vor vielen Jahren modisch gewesen war, mit einer weiten Krempe, die das Gesicht im Schatten verschwinden ließ, und einer Krause im Nacken, ganz anders als die gegenwärtig modischen kleinen Hüte, die dazu gedacht waren, auf dem Hinterhaupt zu sitzen.

»Wohin gehen wir, Miss?«, fragte sie neugierig.

»Uns umsehen«, antwortete ich. »Ich bin ganz neu in dieser Stadt. Ich war vor Dienstag, dem Tag meiner Ankunft, noch nie in London.«

»Was denn? Noch nie?«, fragte Bessie erstaunt.

Als wir uns auf den Weg machten und den Dorset Square überquerten, übernahm Bessie geradewegs die Rolle meiner Führerin. »Mr Simms sagt, dass hier früher ein Kricketfeld gewesen wäre, doch das wurde verlegt, als all die Häuser gebaut wurden. Der übrig gebliebene Platz wurde in einen hübschen kleinen Park verwandelt. Ich komme manchmal sonntagsnachmittags hierher und sitze auf der Bank und beobachte die Menschen. Die Kindermädchen mit den Babys und den Kleinkindern, die gerade laufen können, in ihren Petticoats. Es ist hübsch anzuschauen.«

Sie deutete auf ein Haus mit einer imposanten Fassade auf der anderen Seite des Platzes, gegenüber dem von Mrs Parry. »Das ist das Haus von Mrs Belling. Sie kommt regelmäßig vorbei und besucht Mylady.«

Ich war überrascht. Obwohl ich wusste, dass Mrs Belling in der Nähe wohnte, war mir nicht bewusst gewesen, dass sie fast genau gegenüber auf der anderen Seite des Platzes lebte. Ich sah interessiert zu dem Haus, und in diesem Augenblick öffnete sich die Vordertür, und ein junger Mann kam heraus. Er war groß und schlaksig mit blonden Haaren unter dem Seidenhut, und während wir hinsahen, zückte er eine goldene Taschenuhr, konsultierte die Zeit und setzte sich sodann flotten Schrittes in Richtung der Marylebone Street in Bewegung. Ich überlegte beiläufig, wohin er wohl wollte, und merkte schnell, während wir uns ihm von links näherten, dass sich unsere Wege aller Wahrscheinlichkeit nach kreuzen würden.

»Das ist ihr Sohn«, sagte Bessie.

»Dieser Gentleman? Das ist der Sohn von Mrs Belling?«

»Ja, Miss, aber ich weiß seinen Vornamen nicht. Er kommt manchmal mit seiner Mutter in unser Haus. Sie spielen Karten. Mylady liebt das Kartenspiel.«

Ich fragte mich, ob Tante Parry so viel über ihr Küchenmädchen wusste wie Bessie über die Leute, die oben im Haus kamen und gingen, doch ich bezweifelte es. Wenigstens kannte ich den Namen des älteren Sohnes von Mrs Belling aus der ausschweifenden Darstellung der Mutter bezüglich der außergewöhnlichen Fähigkeiten und Errungenschaften ihrer Kinder.

Wir hatten die Stelle erreicht, von der ich erwartet hatte, dass sich unsere und die Schritte von Mr James Belling kreuzen würden. Selbsterhaltungstrieb und Höflichkeit veranlassten uns beide stehen zu bleiben. Er nahm den Hut ab und verbeugte sich.

»Ich hoffe sehr, Sie werden entschuldigen, Ma’am«, sagte er an mich gewandt, »aber ich glaube, Sie sind aus dem Haus von Mrs Parry gekommen, und die junge Dame hier arbeitet bei ihr. Also wage ich es, mich Ihnen vorzustellen. Mein Name ist James Belling. Ich nehme an, Sie sind die Miss Martin, von der meine Mutter gesprochen hat.«

Aus der Nähe betrachtet bot er einen freundlichen, wenngleich wenig bemerkenswerten Anblick. Sein Gesicht war lang, die Nase recht spitz, und seine hellblauen Augen blinzelten uns kurzsichtig an. Ich überlegte, ob er normalerweise eine Brille trug und sie für seinen Spaziergang auf der Straße beiseitegelegt hatte.

Des Weiteren dachte ich darüber nach, was seine Mutter wohl über mich erzählt hatte. Ich war einigermaßen sicher, die Antwort zu kennen.

»Ja, ich bin Miss Martin«, bestätigte ich ihm. »Ich bin die Nachfolgerin der armen Miss Hexham.«

Eine leichte Röte kroch auf seine bleichen Wangen. »Oh ja, Miss Hexham. Ich war sehr betrübt, als ich die traurige Nachricht erfuhr.«

Das war zumindest eine Verbesserung gegenüber der Reaktion seiner Mutter.

»Ja, eine sehr traurige Geschichte«, pflichtete ich ihm bei. »Ich kannte sie selbstverständlich nicht, aber ich vermag sie nicht zu verdammen, wie verschiedene andere es getan haben. Sie muss sehr gelitten haben.«

»In der Tat«, sagte er und wirkte mit einem Mal aufgeregt. »Ich nehme an, sie hat wirklich sehr gelitten. Das heißt, ja, es wird wohl so sein. Ich kannte sie nur flüchtig, doch ich muss sagen, sie schien mir eine höchst respektable junge Person zu sein, nicht unähnlich Ihnen.«

»Danke sehr«, erwiderte ich – ein wenig trocken, wie ich gestehen muss.

Die rosigen Flecken auf seinen Wangen verdunkelten sich zu leuchtendem Rot. »Verzeihen Sie mir«, sagte er. »Meine Worte waren ungeschickt. Ich bin im Umgang mit Damen nicht sonderlich wortgewandt …« Er gestikulierte mit ausgestreckter Hand und Seidenhut.

»Bitte, Mr Belling«, sagte ich, indem ich augenblicklich bereute, den armen Burschen geneckt zu haben. »Ich fühle mich nicht beleidigt. Ich bin froh zu hören, dass Sie gut über meine Vorgängerin sprechen. Ich bin sicher, Sie teilen meine Hoffnung, dass die Polizei ihren Mörder bald findet.«

»Oh ja, die Polizei!«, rief er aus. »Ich, das heißt wir, meine Mutter und ich, haben von Mrs Parry gehört, dass ein Inspector namens Ross die Ermittlungen leitet. Mrs Parry hat berichtet, dass er ihr für einen Posten mit so viel Verantwortung sehr jung vorkam. Meine Mutter hat ihrer Überraschung angesichts dieser Tatsache ebenfalls Ausdruck verliehen.« An dieser Stelle erlaubte sich James ein schwaches Lächeln. »Meine Mutter ist jemand, der sehr auf ausgiebige Erfahrung vertraut.«

»Tatsächlich?«, fragte ich. »Ich bin Inspector Ross begegnet. Ich bin sicher, dass er ein äußerst fähiger Beamter ist. Er mag jung sein, aber vielleicht hat er gerade deshalb ein paar neue Ideen und ist eifrig darauf bedacht, seine Ermittlungen zum Erfolg zu führen.«

»Wir, meine Mutter und ich, haben von Mrs Parry erfahren, dass der Inspector während seiner Konversation mit Mrs Parry Notizen angefertigt hat. Ich nehme an, Mrs Parry war entsetzt, weil ihre Worte niedergeschrieben wurden. Sie fühlte sich, als würde sie gebeten, eine gesetzlich bindende Aussage zu machen. Sie ist fest davon überzeugt, dass ein Gentleman so etwas niemals getan hätte. Eine Dame sollte die Freiheit besitzen, ihre Meinung zu ändern.«

»Ich wage zu sagen, dass er nur Notizen angefertigt hat, um nichts zu vergessen«, erwiderte ich.

»Nun ja …« Er gestikulierte vage auf die ringsum stehenden Häuser, als hätten diese etwas zu unserer Unterhaltung beizutragen. Da sie es jedoch nicht taten, entstand eine Pause, während er nach etwas zu suchen schien, was er noch sagen könnte, und nichts fand. »Vielleicht sehen wir uns ja einmal wieder, Miss Martin!«, sprudelte er unvermittelt hervor, um sich mit einer flüchtigen Verbeugung den Hut aufzusetzen und davonzueilen.

»Was für ein netter Gentleman!«, sagte Bessie anerkennend. »Er hat sich daran erinnert, wer ich bin. Das tun nicht viele.«

Ein netter Gentleman, in der Tat, und obendrein einer, dem Madeleine möglicherweise häufig auf dem Platz begegnet war, entweder durch Zufall … oder absichtlich.

Ich fand die Tatsache interessant, dass meine Arbeitgeberin sich darüber beschwert hatte, dass Ross ihre Worte aufgeschrieben hatte. Ich verstand, zu welchem Zweck er dies getan hatte, doch wenn er das häufig tat, würde er bald feststellen, dass viel weniger Leute bereit waren, freimütig mit ihm zu plaudern.

Wir gingen ein wenig weiter. »Sag mir, Bessie«, begann ich, »ist Miss Hexham morgens häufig aus dem Haus gegangen? Spazieren, so wie wir jetzt?«

»Ich glaube ja«, antwortete Bessie vorsichtig. »Ich habe sie ein paar Mal gesehen, wenn sie am Souterrainfenster vorbeigegangen ist.«

»Du hast sie nicht zufällig auch an dem Tag gesehen, an dem sie verschwunden ist? Als sie das Haus verließ und am Souterrainfenster vorbeikam, meine ich.«

»Nein!«, antwortete Bessie ein wenig zu entschieden.

In ihrer Stimme schwang ein Unterton von Erleichterung mit, und mir wurde bewusst, dass ich meine Frage falsch formuliert hatte. Wäre ich anders vorgegangen, hätte ich eine andere Antwort erhalten, dessen war ich mir sicher. Bessie hatte etwas gesehen. Ich glaubte nicht, dass sie mir willentlich die Unwahrheit sagen würde, deswegen die Erleichterung in ihrer Stimme, weil sie nicht in die Lage gekommen war, diese Entscheidung treffen zu müssen. Sie hatte nicht gesehen, wie Madeleine am Haus vorbeigegangen war, wie zu mehreren früheren Gelegenheiten. Aber wo dann und unter welchen Umständen hatte sie meine Vorgängerin gesehen? Bessie selbst verließ das Souterrain morgens nie, außer um Milch zu kaufen – oder vielleicht hatte Mrs Simms sie an jenem Tag auch zu einem anderen Botengang abgestellt. Wann sonst konnte Bessie Madeleine gesehen haben? Nur am frühen Morgen, als sie warmes Wasser in ihr Schlafzimmer gebracht hatte.

»Stimmt etwas nicht, Miss?«, erkundigte sich Bessie.

Ich war stehen geblieben, weil mir ein Gedanke gekommen war. Ich beeilte mich weiterzugehen. »Nein, Bessie. Ich habe mir den Zeh gestoßen, das ist alles.«

»Sie müssen vorsichtig sein, Miss«, sagte Bessie. »Man verdreht sich auf diesen Steinen wirklich leicht den Knöchel.«

Ich murmelte meine Zustimmung, doch ich dachte angestrengt über einen Weg nach, wie ich das Thema anschneiden sollte, das mir mit solcher Macht in den Sinn gekommen war. In diesem Augenblick näherte sich eines der Kindermädchen, von denen Bessie erzählt hatte, und eröffnete mir die passende Gelegenheit. Es war ein hübsch zurechtgemachtes junges Mädchen mit einer gestärkten Haube mit Spitzenbändern, die einen Korbwagen mit einem sehr kleinen Säugling darin schob.

»Das ist aber ein hübsches Baby!«, sagte ich zu Bessie, als das Kindermädchen mit seinem Wagen vorbei war.

»Ich hätte nichts dagegen, als Kindermädchen zu arbeiten«, vertraute mir Bessie an. »Im Waisenhaus hab ich mich auch immer um die Kleinen gekümmert. Ich hab ihnen ihren Brei gefüttert und ihre Windeln gewechselt. Das hat mir Spaß gemacht. Ich hab immer furchtbar geweint, wenn eins von den Babys gestorben ist.«

Ihr Ton war philosophisch; nichtsdestotrotz nahm ich an, dass ihre Zuneigung für kleine Kinder aufrichtig war und von Herzen kam.

»Sind viele Babys gestorben, Bessie?«

Sie ließ die mageren Schultern hängen. »Eine ganze Reihe, ja. Wenn sich eins von ihnen irgendetwas fängt, steckt es alle anderen an. Obwohl, wenn ein Kind krank war, hat das Waisenhaus sich geweigert, es bei sich aufzunehmen, aus Angst vor Infektionen. Einige von ihnen waren wie ich, als ich dorthin gebracht wurde. Nichts als kleine Babys, und sie hatten keine echte Chance. Die meisten wurden von ihren Müttern ausgesetzt. Sie konnten sie nicht behalten, waren höchstwahrscheinlich nicht verheiratet oder hatten bereits mehr Kinder, als sie satt kriegen konnten. Sie ließen die Babys irgendwo zurück, genauso, wie meine Mutter mich in der Kirche gelassen hat. Sie hat sich Mühe gemacht, meine Mutter. Sie hat mich an einem trockenen, sicheren Ort zurückgelassen, von dem sie wusste, dass man mich dort finden würde. Ich hatte einen kleinen gestrickten Mantel an und war in ein Stück Decke gewickelt, hat man mir erzählt, und bei mir fand man einen Zettel, auf dem meine Mutter darum bat, dass man sich um mich kümmerte und mich nicht an die Wohlfahrt übergab. Also brachte mich der Pfarrer, der mich gefunden hat, zu dem Waisenhaus, das die Kirche unterhält. Manche Babys werden einfach auf der Straße ausgesetzt. Häufig werden sie auf der Schwelle des Waisenhauses gefunden. Manchmal sind sie so frisch, dass sie noch nicht mal ordentlich sauber gemacht worden sind und noch die Nabelschnur an ihren Bäuchen haben. Das Waisenhaus nimmt solche Kinder nicht auf, sondern übergibt sie an die Wohlfahrt. Die Wohlfahrt gibt sie zu Ammen, wenn sie noch nicht entwöhnt sind, und das ist ein verdammtes Pech, ist es. Manche haben Glück und werden gut versorgt, andere nicht. Ich war ungefähr vier Monate alt, als sie mich in dieser Kirche gefunden haben; also hat meine Mutter schätzungsweise versucht, mich zu behalten, und konnte es dann doch nicht.«

Das war eine raue Bekanntschaft mit Leben und Tod gewesen, doch ich schätzte, Bessie war sich dieser sogenannten ›Fakten des Lebens‹ klar bewusst. Ich sinnierte über Bessies Mutter, die gebildet genug gewesen war, um einen Brief bei ihrem Baby zu hinterlassen, in dem sie darum bettelte, dass sich jemand um das Kind kümmerte. Sie hatte außerdem gewusst, dass das Wohlfahrtssystem seine Mängel hatte, und gebeten, ihr Kind nicht seinem spartanischen Regime zu überantworten. Vielleicht war sie ein ›Mädchen aus gutem Hause‹ gewesen, das von seinem Freund sitzen gelassen worden war. Oder vielleicht war sie eine junge Bedienstete in einem gehobenen Haushalt gewesen, die verführt worden war. Falls ja, dann hatte sie womöglich jemanden bezahlt, der sich die ersten vier Monate um das Kind gekümmert hatte, und war mit ihrem mageren Lohn nicht imstande gewesen, die finanziellen Belastungen weiter zu tragen.

»Bessie …«, begann ich vorsichtig. »War Miss Hexham in den Wochen vor ihrem Verschwinden morgens krank, wenn du ihr das heiße Wasser gebracht hast?«

Sie antwortete nicht darauf. Ich schaute sie von der Seite her an. Sie starrte auf das Pflaster zu ihren Füßen, und der Hut verbarg ihr Gesicht.

»Litt sie an Übelkeit? Musste sie sich übergeben? Ich frage dich nicht, um es hinterher Mrs Parry zu erzählen. Ich frage, weil ich wissen will, was mit Madeleine Hexham passiert ist. Und dazu muss ich als Erstes herausfinden, unter welchen Umständen sie das Haus verlassen hat.«

»Manchmal …«, murmelte Bessie so leise, dass ich es fast überhört hätte.

»Ihr war manchmal übel?«

»Ja, Miss. Ich hab ihr geholfen, es aufzuwischen. Ich hab’s geschafft, ohne dass Miss Simms was davon mitbekommen hat, oder Wilkins oder Ellis.«

»Dann musst du Miss Hexham gemocht haben, wenn du ihr so geholfen und ihr Geheimnis für dich behalten hast.«

»Ja, ich mochte sie!«, erklärte Bessie mit unerwartetem Nachdruck. »Sie war eine nette Lady! Ich hatte gehofft, dass sie jemanden zum Heiraten gefunden hätte, als sie weggegangen ist. Ich war am Boden zerstört, als ich erfuhr, dass sie tot ist.«

»Erzähl mir mehr«, ermunterte ich sie. »Erzähl mir von Miss Hexhams Plan, das Haus von Mrs Parry zu verlassen, um zu heiraten.«

Sie murmelte erneut vor sich hin, doch diesmal verstand ich nur die Worte »… kann ich nicht …«

»Warum denn nicht, Bessie? Du würdest sie nicht mehr verraten. Sie ist tot. Du würdest nur die Erinnerung an sie verraten, wenn du dich weigerst, bei der Suche nach dem Mann zu helfen, der Madeleine Hexham das angetan hat.«

Bessie blickte auf, und ich sah, dass ihr kleines Gesicht wütend verzerrt war. »Ich hoffe, sie kriegen ihn! Ich hoffe, sie hängen ihn auf!« Sie legte sich die Hände um den dünnen Hals und machte eine nach oben und seitwärts gerichtete Bewegung, um anschließend den Kopf schlaff hin und her rollen zu lassen in der realistisch wirkenden Imitation eines Mannes am Galgen. Ihr Hut fiel ihr in den Nacken und wurde von den Bändern dort festgehalten.

»Nun denn«, ermunterte ich sie. »Wenn du möchtest, dass Miss Hexham Gerechtigkeit widerfährt, dann erzähl mir, was du über jenen Tag weißt, an dem sie aus dem Haus verschwunden ist.«

Ich war sicher, dass Bessie noch immer etwas auf der Seele lag. Sie zog den Hut wieder zurecht und schwieg.

»Ich bin die Tochter eines Arztes, Bessie«, fuhr ich fort. »Ich komme aus einer kleinen Stadt im Norden. Ich wusste sehr genau, was die Leute machten und worüber getuschelt wurde. Miss Hexham erwartete ein Kind, nicht wahr?«

»Es war allmählich zu sehen …«, sagte Bessie abrupt. »Ihre Kleider wurden enger und enger in der Taille, und ihr Gesicht war ein wenig aufgedunsen. Wenn ich in ihr Zimmer ging – jetzt Ihr Zimmer, Miss –, dann stand sie oft dort mit dem Kopf über der Schale und erbrach ihren gesamten Mageninhalt. Sie würgte und würgte und weinte dabei. Sie tat mir so leid, Miss. Ich versuchte, ihr zu helfen, indem ich das Erbrochene wegschaffte, wie ich Ihnen bereits erzählt habe. Doch ich wusste, dass sie zu Mrs Parry gehen und ihr alles gestehen musste, und zwar bald. Außerdem waren da noch die anderen. Wilkins und Ellis. Sie sind furchtbare Plappermäuler und sehr geschickt darin, ihre Nasen in die Angelegenheiten anderer zu stecken. Und nichts, absolut überhaupt nichts, gelangt nach draußen, ohne dass Mrs Simms es erfährt.«

Bessie und ich spazierten noch ein wenig weiter. Ich schwieg. Bessie hatte beschlossen, sich mir anzuvertrauen, und sie würde es mit ihren eigenen Worten und in ihrem eigenen Tempo tun.

»Ich hatte Angst vor dem, was sie vielleicht tun würde«, sagte Bessie in diesem Augenblick fast unhörbar leise. Sie warf einen schlauen Blick unter der Hutkrempe hervor in meine Richtung. »Wenn Sie die Tochter eines Arztes sind, dann wissen Sie sicherlich, was ich meine, oder nicht?«

»Ich denke, ich weiß es«, sagte ich leise.

Diese armen Dinger. Sie machten alberne Fehler, und dann wurde mein Vater hinzugerufen, um ihnen das Leben zu retten. Sie tranken alle möglichen Sorten von Likören, von denen sie hofften, dass sie eine Fehlgeburt einleiteten. Im Allgemeinen vergeblich. Manchmal gingen sie zu einer ›weisen Frau‹, irgendeiner alten Vettel, die ihnen entweder Kräuterheilmittel verkaufte oder viel, viel Schlimmeres mit ihnen anstellte. Und dann starben die jungen Mütter oft am Blutverlust oder wegen ihrer angegriffenen Gesundheit.

Was die Familien anging, so enterbten sie häufig das Mädchen und waren dennoch schnell und erfindungsreich, wenn es darum ging, die Wahrheit zu verbergen. Manch ein Kind wuchs auf in dem Glauben, dass seine natürliche Mutter eine ›Schwester‹ oder ›Tante‹ war, und erfuhr die wirklichen Verwandtschaftsverhältnisse erst als Erwachsener – und gelegentlich nicht einmal dann. Mary Newling hatte mir von derartigen Fällen in unserer Stadt erzählt, als ich selbst erwachsen war und wir gemeinsam in der Küche gesessen und Gemüse geputzt hatten. Sie hatte frei mit mir über diese Dinge gesprochen, in dem Wissen, dass ich sie mit der gleichen Vertraulichkeit behandeln würde wie mein Vater die Krankheiten seiner Patienten. Doch ich denke, es war ihre Art, mich anhand schlechter Beispiele vor Leichtsinn zu warnen und mich gleichzeitig daran zu erinnern, dass ich keine weiblichen Verwandten besaß, die mir zu Hilfe kommen konnten.

»Warum sollten sie nicht so tun, als wäre es das Kind einer verheirateten Schwester oder der eigentlichen Großmutter, falls sie noch jung genug ist, um eigene Kinder zu gebären?«, hatte Mary gefragt, als sie sah, wie schockiert ich reagierte. »Das erscheint natürlich. Ältere Frauen gebären hin und wieder späte Babys. Wenn es bedeutet, dass das Mädchen nicht jede Chance verliert, eines Tages einen anständigen jungen Mann zu heiraten, was ist dann schlimm daran?«

Dann fuhr sie mit der Bemerkung fort: »Wenn du meine Meinung wissen willst, diese Reifrockmode ist an allem Schuld. Wer kann schon eine natürliche Leibeswölbung unter so viel falschen Rundungen erkennen?«

Es brachte mich jedenfalls dazu, über das nachzudenken, was hinter den Fassaden gar manch eines ›ehrbaren‹ Hauses geschah. Und es bereicherte den Schatz an Lebenserfahrungen, den ich bereits als Kind aufzuhäufen begonnen hatte. Genau wie ich hatte Madeleine keine Mutter und keine Schwester gehabt, die das Kind als das ihre hätten ausgeben können, um Madeleines Ruf zu schützen. Und so hatte Bessie mit ihrem eigenen, ganz und gar nicht kindlichen Gespür für die rauen Wege des Lebens das Schlimmste befürchtet.

»Und deswegen hast du gehofft, dass sie einen Mann heiraten würde, als sie an jenem Tag aus dem Haus gegangen ist, stimmt’s?«, fragte ich.

»Genau, Miss!«, antwortete Bessie eifrig. »Und ich glaube, das hatte sie auch vor, oder zumindest glaubte sie es. Sie war glücklich. Es war das erste Mal, dass ich sie seit Wochen hatte lachen sehen! Sie wartete an diesem Morgen bereits auf mich, als ich mit dem heißen Wasser in ihr Zimmer kam. Sie war völlig angezogen, bereit, nach draußen zu gehen, und unglaublich aufgeregt.

›Bessie‹, hat sie gesagt, ›würdest du mir helfen, einen Plan in die Tat umzusetzen?‹ Ich sagte, selbstverständlich würde ich das tun. ›Nun dann‹, sagte sie, ›ich möchte, dass du die Augen nach einer leeren Droschke offen hältst, vorzugsweise nach einem Growler. Die fahren langsamer als üblich, wenn sie leer sind, weil sie darauf hoffen, von einem Fahrgast angehalten zu werden. Wenn du kannst, lauf die Kellertreppe hinauf und halte die Droschke an. Bitte den Kutscher, um die Ecke zu warten. Sag ihm, eine Lady würde gleich kommen. Die Lady wünscht, nicht gesehen zu werden.‹ Und das tat ich dann. Ich hörte eine Droschke kommen, richtig langsam. Ich blickte nach draußen und sah, dass es ein Growler war. Mrs Simms war gerade damit beschäftigt, Wilkins herumzukommandieren, und Ellis war oben beim Bettenmachen. Mr Simms war zum Weinhändler gegangen. Also schlüpfte ich die Treppe hoch und rannte nach draußen. Als ich den Kutscher gesehen hab, hätt ich’s mir beinahe anders überlegt!«

Sie stieß ein kurzes, bellendes Lachen aus, und ich fragte: »Warum denn das?«

»Er hatte ein Gesicht, als wäre jemand mit Holzschuhen darauf herumgetanzt!«, antwortete Bessie. »Völlig vermatscht und entstellt. Es hätte jedem einen Schrecken eingejagt, besonders in einer dunklen Nacht!«

Ich blieb erneut wie angewurzelt stehen, und Bessie wäre beinahe gestürzt, als ich sie am Arm packte.

»Was ist denn, Miss?« Sie starrte zu mir hinauf.

»Nichts, Bessie, überhaupt nichts. Ich glaube, ich kenne diesen Mann, diesen Kutscher. Was hat er zu dir gesagt, als du ihn gebeten hast, um die Ecke zu fahren und zu warten?«

»Nun, ich hab genau das getan, worum Miss Hexham mich gebeten hat. Ich hab ihm gesagt, er soll um die Ecke fahren und warten, eine Lady würde einsteigen. Und der Kutscher sagte: ›Ho, und wohin soll ich diese Lady bringen?‹ Ich sagte, das würde die Lady ihm selbst sagen. ›Und woher soll ich wissen, dass ich keine Scherereien krieg?‹, wollte er wissen. Wie können Sie Scherereien kriegen, sagte ich, indem Sie lediglich eine bezahlte Fuhre machen? Es ist doch nicht Ihre Sache, was der Fahrgast im Sinn hat, oder? Sie sind nur der Kutscher. Außerdem, sagte ich, so wie Sie aussehen, hatten Sie schon genügend Scherereien in Ihrem Leben. Das sagte ich zu ihm, um ihn wissen zu lassen, dass ich mir nichts von ihm gefallen lassen würde. Er deutete auf seine zermatschte Visage und sagte: ›Diese Narben sind ein Zeichen der Ehre. Ich hab sie fair und gerecht im Boxring erworben.‹«

Bessie schnaubte. »Ich hab noch nie gehört, dass es im Boxring fair und gerecht zuginge! Aber ich hatte keine Zeit mehr, um noch länger mit ihm zu streiten. Mr Simms konnte ja jeden Augenblick zurückkommen. Ich überzeugte mich davon, dass er um die Ecke fahren und warten würde; dann rannte ich ins Haus, um Miss Hexham Bescheid zu geben. Sie eilte mit Schultertuch und Haube die Treppe hinunter und nach draußen zu der Stelle, wo der Kutscher wartete, und das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe!«

Sie brach ab und schniefte. Ich reichte ihr mein Taschentuch. »Danke sehr, Miss«, sagte sie und schnäuzte sich die Nase.

»Komm, weiter«, sagte ich rasch. »Wir müssen uns beeilen, so gut es geht. Wir haben nicht viel Zeit. Wir dürfen keinen Augenblick mehr verschwenden.«

»Wohin gehen wir?«, fragte Bessie, während wir durch die Straße hasteten.

»Nun, zum Droschkenstand beim King’s Cross. Ich glaube, es geht hier entlang, oder kennst du einen schnelleren Weg? Ich kenne den Kutscher, von dem du gesprochen hast. Wir müssen ihn finden! Ich hoffe, er ist am Stand und erinnert sich an Miss Hexham und wohin er sie gefahren hat!«

Bessie glaubte, einen schnelleren Weg zu kennen, und ich müsste ihr vertrauen und dürfte mich nicht ängstigen. Sie führte mich durch ein Labyrinth enger Gassen, und bald hatte ich jegliche Orientierung verloren. Meine größte Angst war jedoch, dass ich meine Führerin verlieren könnte. Die Häuser hier standen dicht beieinander, und in den schmalen Gassen gab es alle möglichen kleinen Geschäfte, die den Passanten ihre Waren in Auslagen auf der Straße feilboten. Rollen billigen Stoffes wechselten sich ab mit Flechtkörben und Regalen mit Schirmen, Küchengeschirr, Pfannen, Säcken mit Reis und Tapioka. Aus den Metzgerläden drang der widerliche Gestank von getrocknetem Blut und totem Fleisch und das Gesumme ganzer Heerscharen von Fliegen.

Andere Läden handelten mit lebendem Getier: Kanarienvögeln in winzigen Käfigen, niedlichen Mäusen und kaum entwöhnten Welpen, die in erbärmlichen Elendshäufchen in einer Ecke kauerten, oder Goldfischen in Schalen voll trüben Wassers. Drei Kugeln an einem Metallarm über einer Tür signalisierten einen Pfandleiher, der wie eine Spinne in ihrem Netz in der Dunkelheit des Ladens auf Kundschaft lauerte. Hier gab es Geschäfte, die nicht nur verkauften, sondern auch ankauften: alte Kleidung, Schmuck, Bücher und Haushaltsartikel, die so verbeult und verbogen und so stark abgenutzt waren, dass es mir ein Rätsel war, wer so etwas kaufen sollte.

»Man kann sich nichts Neues kaufen, wenn man arm ist«, lautete Bessies Antwort auf meine unschuldig hervorgebrachte diesbezügliche Frage.

Eine Vielzahl von Menschen strömte hierhin und dorthin. Stimmen erfüllten die Luft. Einige redeten in Sprachen, die mir fremd waren, andere in einem derart gutturalen und verzerrten Englisch, dass es wie eine fremde Sprache klang. Räudige Hunde und dürre Kinder schwärmten um uns herum. Wir wichen immer wieder vom geraden Weg ab, um Pfützen dubioser Herkunft auszuweichen. Von Zeit zu Zeit passierten wir ein Wirtshaus, aus dem der Gestank von Bier und Tabak wehte. Unrasierte Männer und schmuddelige Frauen saßen zusammengesunken auf Bänken vor den Türen, vor sich Pints mit Bier, während zu ihren Füßen kleine Kinder im Dreck umherkrochen und mit den unvermeidlichen, flohzerbissenen Promenadenmischungen spielten.

Ich war froh, als wir diese Seitengassen hinter uns ließen und wieder auf einer Hauptstraße herauskamen, auch wenn das Gedränge hier kaum weniger war, nur dass die Leute bessere Kleidung trugen. Wie am Tag meiner Ankunft war ich einmal mehr erstaunt vom Wirrwarr und der schieren Anzahl von Fuhrwerken, die an uns vorüberratterten. Ich wusste, dass wir in der Nähe der Baustelle von Agar Town sein mussten, weil mitten unter all den anderen Gespannen immer wieder die vertrauten Karren voller Schutt und Trümmer vorüberrumpelten und der Geruch von Ziegelstaub in unsere Nasen stieg.

Wir waren auf der Höhe eines Drehorgelspielers angekommen, eines abgerissenen Individuums, begleitet von einem traurig dreinblickenden, verschrumpelten, kleinen Äffchen in einer roten Jacke. Unvermittelt blieb Bessie stehen und deutete nach vorn. »Sehen Sie nur, Miss! Das ist der Reverend, der Mylady regelmäßig besucht!«

Der Affe war gelehrt worden, auf Passanten zu reagieren, die ihren Schritt verlangsamten. Er sprang vor, einen kleinen, stoffüberzogenen Becher in den winzigen Händen. Der Ausdruck in seinem Gesichtchen war das Traurigste, was ich je bei einem Tier gesehen hatte. Mir gefiel das Aussehen des Drehorgelspielers nicht und noch weniger sein ungleichmäßiges Spiel, doch ich konnte den Affen unmöglich einfach ignorieren. Das war natürlich auch der Zweck, zu dem das arme Tier missbraucht wurde. Also suchte ich nach einem Penny, während ich zugleich versuchte, in die Richtung zu blicken, in die Bessies Finger deutete.

Ich ließ den Penny in den Becher fallen, und der Affe sprang auf die Fassorgel hinauf. Der Mann hatte aufgehört zu spielen, nahm den Penny aus dem Becher und steckte ihn ein, bevor er das arme Tier auf der Rückseite der roten Jacke packte und es achtlos zurück auf den Boden fallen ließ.

Ich wäre am liebsten hingegangen und hätte ihn ermahnt, sanfter mit dem Tier umzugehen, obwohl ich wusste, dass es keinen Sinn hatte. Doch just in diesem Augenblick bemerkte ich das Objekt von Bessies Interesse. Ein kleines Stück voraus bewegte sich eine große, stattliche Gestalt in einem schwarzen Frack mit silbergrauem Haar, das unter dem Hut bis auf den Kragen fiel, mit der gleichen zuversichtlichen Gelassenheit durch die Menge, mit der die Israeliten das Rote Meer durchquert haben mussten. Während die Menge sich vor ihm teilte und hinter ihm wieder schloss, schwang er einfach seinen Gehstock, um den ein oder anderen Hund oder einen kleinen Jungen zu vertreiben, der seinen Weg kreuzte, doch ansonsten hätte er sich genauso gut durch eine menschenleere Straße bewegen können. Selbst von hinten war er unmöglich zu verwechseln.

»Na so was, das ist ja Dr. Tibbett!«, rief ich aus.

Während ich sprach, erblickte ich zwei junge Frauen, die Dr. Tibbett vor uns entgegenkamen. Sie waren gut gekleidet, wenngleich in schrille Farben, und während sie sich näherten, unterhielten sie sich lebhaft, was mich insgesamt an australische Sittiche erinnerte. Keine der beiden war älter als vielleicht neunzehn Jahre, und beide, obwohl offensichtlich an dem interessiert, was die jeweils andere sagte, hielten wachsam Ausschau nach einzelnen Männern, deren Aufmerksamkeit sie zu erregen trachteten. Sie hatten die Köpfe eng zusammengesteckt, doch ihr Lächeln schien prospektiven Männern zugewandt.

Während unseres bisherigen Weges war mir bereits aufgefallen, dass auf den Straßen Londons kein Mangel an derartigen Frauen zu herrschen schien. In den ärmeren Gassen waren sie schmuddeliger gewesen und schamloser; hier hingegen bemühten sie sich um einen gewissen Stil. Dr. Tibbett musste sie ebenfalls bemerkt haben. Sie waren fast auf gleicher Höhe mit ihm. Dann blieben zu meiner größten Überraschung alle drei stehen und begannen eine kurze Unterhaltung. Nachdem ich seine häufig zum Ausdruck gebrachte Meinung bezüglich moralischer Laxheit gehört hatte, insbesondere, was jüngere Menschen anging, fragte ich mich, was er diesen beiden Frauen wohl zu sagen hatte. Hielt er ihnen etwa eine Predigt? Aber nein, die beiden Frauen grinsten sogar breiter denn zuvor, und sie versuchten noch nicht einmal mehr, so zu tun, als wären sie nicht an dem Gentleman interessiert. Eine Diskussion nahm ihren Lauf. Ich nahm Bessie bei der Schulter und führte sie in den Eingang eines Ladens, von wo aus wir das Geschehen unbeobachtet verfolgen konnten. Ich hielt es für wenig wahrscheinlich, dass Dr. Tibbett erfreut reagieren würde, falls er eine von uns beiden erblickte.

Die drei kamen zu einer Übereinkunft. Dr. Tibbett wandte sich um und hob seinen Gehstock, um einen sich nähernden Growler heranzuwinken. Er reichte einer der beiden jungen Frauen die Hand und half ihr einzusteigen, nachdem er zuerst kurz mit dem Kutscher gesprochen hatte, der daraufhin nickte. Tibbett sprang in überraschend sportlicher Manier hinterher; der Kutscher schnalzte mit den Zügeln, und das Pferd setzte sich mit seiner Fracht in unsere Richtung in Bewegung.

»Sieh mal einer an!«, sagte Bessie neben mir mit nicht geringer Bewunderung in der Stimme. »Der geistliche Gentleman fährt mit einer Metze fort!«

Während sie sprach, rumpelte der Growler an uns vorbei, und ich erhaschte durch das Fenster einen kurzen Blick auf besagte Metze, die sich in diesem Augenblick vorbeugte und ihren Begleiter neckisch in den Backenbart kniff. Es mochte ihre normale Verhaltensweise sein, doch mir kam die Geste merkwürdig vertraut vor, als wäre der Doktor ein alter und geschätzter Freund – und Kunde natürlich.

Dann waren sie außer Sicht verschwunden. Ich war außerstande, mich zu beherrschen, und platzte wütend hervor: »Dieser elende alte Heuchler!«

»Wieso denn, Miss? Es ist doch alles in Ordnung«, sagte Bessie neben mir. »Das ist es doch, was alle Gentlemen tun, oder nicht?«

Bei ihren Worten huschte ein Bild durch meinen Kopf: das von Frank Carterton an meinem ersten Abend in London, der spätnachts das Haus verlassen hatte, nachdem seine Tante und ich zu Bett gegangen waren, und dabei munter seinen Spazierstock mit dem silbernen Griff geschwungen hatte. In diesem Augenblick setzte die Drehorgel wieder ein, als wolle mich die plötzliche Kakophonie aus blechernen Tönen verspotten.

Ich verdrängte das Bild aus meinen Gedanken, zusammen mit dem Krach der Musik, und erinnerte mich wieder daran, mit wem ich hier war und aus welchem Grund. Mir wurde außerdem bewusst, dass der Ladeninhaber beobachtet hatte, wie wir im Eingang herumlungerten. Nun stand er im Begriff, uns in sein Geschäft zu nötigen und die feilgebotenen Waren zu inspizieren.

»Bessie!«, sagte ich entschieden. »Du darfst mit niemandem, unter keinen Umständen, darüber sprechen, dass wir heute Dr. Tibbett gesehen haben, niemals! Verstehst du, was ich sage? Niemand unten im Souterrain darf etwas davon erfahren und auch keine von deinen Freundinnen. Es ist von allergrößter Wichtigkeit!«

»Schon gut, keine Sorge«, entgegnete Bessie unbeeindruckt. »Ich sag schon nichts. Mrs Simms hält den Reverend für ein wandelndes Wunder, und wenn ich etwas sagen würde, würde sie mich mit einem Suppenlöffel windelweich prügeln.«

Die zweite junge Frau hatte uns unterdessen erreicht, doch wir waren für sie nicht von Interesse, und sie schlenderte vorbei. Aus der Nähe betrachtet erkannte ich, dass trotz ihrer Jugend und der Schönheit eine Härte in ihren Gesichtszügen und Augen lag, die einen jungen Geist verrieten, der korrumpiert war und zerstört. Ich verspürte große Traurigkeit deswegen und fragte mich, in welchem zarten Alter sie mit dieser Art zu leben angefangen hatte und welche Zukunft vor ihr lag – wenn überhaupt.

Wir marschierten weiter, und das Geleier der Drehorgel verklang allmählich hinter uns. Endlich erreichten wir unser Ziel. Der Verkehr schien hier noch hektischer zu sein, falls das überhaupt möglich war. Kutschen und private Fuhrwerke trafen ein und entließen Ströme von Passagieren beiderlei Geschlechts und jeglichen Alters, zusammen mit Kisten, Schachteln, Taschen und gelegentlich einem Haustier. Träger kamen aus dem Bahnhofsgebäude herbeigerannt, um ihre Geschäfte zu machen. Andere Passagiere zusammen mit ihren beladenen Trägern stolperten aus dem Bahnhof und standen dort und starrten mit genau den gleichen verwirrten Blicken auf die Szene vor ihren Augen, wie ich es bei meiner Ankunft in London getan hatte. Und rings um sie herum spazierten die gewohnheitsmäßigen Müßiggänger: zweifelhafte junge Männer und noch mehr Frauen, Schwestern der beiden, die mit Tibbett gesprochen hatten, dazu Bettler und Gassenkinder.

»Passen Sie auf Ihre Geldbörse auf, Miss!«, empfahl mir Bessie. »Hier am Bahnhof gibt es eine Unmenge von Taschendieben.«

Doch ich suchte bereits die Droschkenreihe ab. »Halt die Augen offen, Bessie. Versuch, den Growler zu finden, der Miss Hexham an jenem Tag abgeholt hat. Sag mir sofort Bescheid, wenn du ihn siehst, bevor er einen anderen Fahrgast einlädt und wir ihn verlieren!«

Ich fürchtete, dass wir lange würden warten müssen oder vielleicht sogar erfolglos bleiben würden, denn es gab keine Garantie, dass Mr Slater hierher zurückkommen würde. Er mochte unterwegs angehalten werden und so reichlich zu tun haben, dass er den ganzen Vormittag nicht zum Bahnhof kam. Zwanzig Minuten später dachte ich allmählich, dass unsere Mühe vergeblich gewesen war.

Ich wurde bereits mit merkwürdigen Blicken bedacht. Ein, zwei Männer grinsten mich an, und einer tippte sich an die Mütze und entbot mir keck die Tageszeit: »Morgen, Süße.«

Bei diesen Worten zeterte meine kleine Anstandsdame entrüstet los: »Hey! Wag es nicht, meine Herrin Süße zu nennen, Bursche! Das ist sie nicht und wird sie wohl auch niemals sein!«

Schließlich kam einer der Kutscher zu uns und erkundigte sich, ob ich ein Taxi benötigte. Ich sagte Nein und teilte ihm mit, dass ich hoffte, Wally Slater anzutreffen.

Er drehte sich zu seinen Kollegen um. »Hat einer von euch heute Morgen schon Wally gesehen?«

»Ich bin ihm in der Oxford Street begegnet«, rief einer zurück.

»Wer ihn als Nächstes sieht, soll ihm sagen, dass hier eine junge Dame auf ihn wartet, zusammen mit einem Mädchen!«

Diese wohlgemeinte Instruktion würde Wally wahrscheinlich nur verwirren, schätzte ich, und er würde erst recht nicht zum Bahnhof kommen.

Wir warteten weitere zehn Minuten, und ich sorgte mich bereits, dass die Zeit gegen uns lief. Ich konnte Bessie nicht beliebig lange von ihren Pflichten in der Küche fernhalten, oder ich würde nie wieder fragen können, ob sie noch einmal mit mir fort dürfte. Abgesehen davon würde Tante Parry bald aufstehen und sich aufs erste Ereignis des Tages vorbereiten: das leichte Mittagessen. Sie würde überrascht sein, wenn ich nicht im Haus war. Doch wenn ich Wally fand, dann musste ich ihn davon überzeugen, mit mir zum Scotland Yard zu gehen. Das würde noch mehr Zeit kosten, und, wie ich vermutete, eine Menge zusätzlicher Mühen.

In diesem Augenblick rief ein Kutscher in der Nähe nach mir. »Da kommt Wally, Miss!«

Und tatsächlich, ein vertrautes Gespann, Growler und Pferd, kamen in unsere Richtung getrottet. Bessie neben mir rannte winkend los. Das Pferd hob den Kopf und schnaubte. Auf dem Kutschbock zog Wally die Zügel straff und blickte auf die tanzende Haube zu seinen Füßen hinunter.

»Was gibt es denn so Dringendes?«, erkundigte er sich.

»Miss Martin muss mit Ihnen reden!«, rief sie ihm entgegen.

»Ach, tatsächlich? Und wer ist diese Miss Martin und vor allem, wo ist sie?«, fragte er und schaute sich suchend um.

Ich beeilte mich, zu Bessie zu treten. »Ich bin Miss Martin. Erinnern Sie sich an mich, Mr Slater? Sagen Sie, dass Sie sich erinnern!«

»Ah«, sagte der Kutscher und schob sich den Hut in den Nacken. »Wie könnte ich Sie vergessen, Miss? Sie sind die junge Lady mit dem merkwürdigen Interesse für kürzlich Verstorbene.«

Er band die Zügel fest und kletterte vom Kutschbock zu uns herab.

»Was ist denn passiert, hm?« Er schaute uns abwechselnd an. »Was hat das alles zu bedeuten?«

»Mr Slater, Sie haben gesagt, falls ich Hilfe benötige, solle ich Sie aufsuchen«, erinnerte ich ihn.

»Das habe ich gesagt, ja«, bestätigte der Kutscher. »Und ich bin ein Mann, der zu seinem Wort steht. Sie können hier jeden fragen …« Seine fleischige Hand schwang herum und deutete auf seine Kutscher-Kollegen. »Wally Slater steht zu seinem Wort.«

»Mr Slater«, begann ich. »Sie haben mich zu jener Adresse am Dorset Square gefahren. Erinnern Sie sich an das Haus?«

Er sog die Luft durch vergilbte Zähne. »Kann schon sein«, sagte er dann. »Ich bringe viele Fahrgäste zu vielen verschiedenen Adressen, nicht alle davon am Dorset Square, wie Sie sich denken können.«

»Als ich Ihnen die Adresse genannt habe, hier am Bahnhof«, fuhr ich fort, »haben Sie nichts dazu gesagt, außer, dass es eine hübsche Gegend sei. Aber als wir dort ankamen, haben Sie das Haus wiedererkannt, glaube ich, weil Sie mich erneut gefragt haben, ob es auch die richtige Adresse sei. Ich dachte damals, es wäre Ihre Art zu reden, aber das war es nicht, oder? Sie haben sich an das Haus erinnert, und Sie haben mir erst hinterher Ihre Hilfe angeboten, sollte ich sie benötigen.«

»Kann schon sein«, sagte Wally Slater »Ich sage nicht, dass es so ist, aber es könnte sein. Was ist denn passiert, Miss?«

Das Pferd warf den Kopf in die Höhe und wieherte ungeduldig.

»Einen Moment, bitte«, sagte der Kutscher. Er ging zum Heck des Growlers und holte einen Hafersack, den er zu dem Pferd trug und ihm übers Maul band. Ich war lange genug in London, um bemerkt zu haben, dass Wallys Pferd, verglichen mit einigen anderen Kutschpferden, einen gut versorgten Eindruck machte. Inzwischen hatte ich schon so manchen traurigen Klepper gesehen, überarbeitete Kreaturen, die ihres Weges stolperten, kaum noch imstande, ihre Last zu ziehen. Im Gegensatz dazu waren die Pferde vor den zweirädrigen Gespannen in der Regel besser gepflegt und insgesamt von besserer Qualität.

»Da es so aussieht, als würden wir eine Pause machen, kann das Pferd ruhig auch schon fressen. Ich kann nicht sagen, dass ich nicht hungrig wäre«, schloss er.

»Mr Slater, ich lade Sie zum Essen ein, wenn Sie mir nur erst zuhören!«, bettelte ich. Ich schob Bessie vor. »Erinnern Sie sich an dieses junge Mädchen?«

»Kann ich nicht sagen«, antwortete der Kutscher prompt. »Ich hab irgendwie kein Gedächtnis für diese jungen Flöhe. Sehen doch alle gleich aus.«

»Und ob Sie sich erinnern!«, schnappte meine tapfere kleine Begleiterin. »Sie erinnern sich sogar sehr gut an mich! Ich sehe es Ihrem Gesicht an! Ich erinnere mich nämlich auch an Ihr Gesicht, okay? Es ist so ziemlich einzigartig.«

Der Kutscher starrte mich an. »Da hast du wohl Recht. Dieses Gesicht ist eine Erinnerung an meine Zeit im Boxring.«

»Das haben Sie mir alles schon erzählt, Mann! Ich hab Sie gebeten, um die Ecke zu fahren und auf eine junge Lady zu warten«, sagte Bessie. »Und das haben Sie getan, nicht wahr? Sagen Sie jetzt bloß nicht, Sie könnten sich nicht erinnern!«

»Schon gut, Bessie, schon gut!«, befahl ich, weil ich fürchtete, dass ihr gebieterischer Ton den Mann verärgern könnte. »Mr Slater, diese junge Lady war meine Vorgängerin als Gesellschafterin in jenem Haus, und jetzt ist sie tot. Die junge Lady meine ich.«

Mr Slater nahm feierlich den Hut ab und drückte ihn gegen die breite Brust. »Das tut mir leid zu hören, Miss. Gott sei ihrer Seele gnädig.« Er warf einen frommen Blick gen Himmel und setzte den Hut wieder auf.

»Erinnern Sie sich, wie wir mehrere Karren mit Schutt von der Baustelle in Agar Town passiert haben, als wir zum Dorset Square gefahren sind? Dort, wo der neue Bahnhof errichtet werden soll? Einer der Karren hatte einen Leichnam geladen, der dort gefunden wurde. Dieser Leichnam, Mr Slater, war der Leichnam der fraglichen jungen Lady.«

Mr Slater blinzelte. »Gütiger Gott! Donnerwetter! Sind Sie absolut sicher, Miss?«

»Ich bin mehr als sicher, Mr Slater. Ich wünschte, es wäre nicht so, aber das sind die Tatsachen. Verstehen Sie nun, warum es so wichtig ist, dass Sie versuchen, sich zu erinnern, wohin Sie die junge Lady an jenem Tag gefahren haben? Bitte sagen Sie mir, dass Sie sich erinnern!«

Eine Pause entstand, durchbrochen nur von dem Pferd, das auf seinem Futter kaute. Hinter uns fuhren andere Droschken vorbei, und Fahrer pfiffen.

»Mord«, sagte der Kutscher schließlich mit nachdenklicher Miene. »Ich lasse mich nicht in einen Mord hineinziehen.« Er schüttelte entschieden den Kopf.

»Mr Slater, es ist Ihre Pflicht als ehrlicher Mann, der Sie meiner Meinung nach sind, uns zu helfen. Bitte, helfen Sie uns. Und wenn es aus keinem anderen Grund geschieht als dem, dass ich nun in diesem Haus wohne.«

»Miss Martin«, sagte Slater ernst. »Glauben Sie mir, ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass Sie gesund und sicher sind. Ich erinnere mich an jene junge Lady, und ich hatte ein sehr ungutes Gefühl wegen dieser Fuhre, das kann ich Ihnen sagen. Doch mein Rat an Sie lautet: Verlassen Sie dieses Haus, und suchen Sie sich irgendwo anders eine neue Anstellung. Das ist der beste Rat, den ich Ihnen geben kann. Nehmen Sie ihn an.«

»Ich möchte wissen, warum sie ermordet wurde!«, erklärte ich entschlossen.

»Das kann ich mir denken«, entgegnete er. »Bei Ihrem Interesse für Leichen und so.«

»Ich bin an Gerechtigkeit interessiert, Mr Slater, Gerechtigkeit für jene, die keine Möglichkeit mehr haben, sie für sich selbst zu fordern.«

»Ah«, sagte Mr Slater. »Das klingt schon eher nach Ihnen, Miss. Und wie wollen Sie dieses Vorhaben durchführen? Gerechtigkeit für die junge Lady einzufordern, meine ich.«

»Indem wir alle drei direkt zum Scotland Yard gehen und Inspector Ross dort die ganze Geschichte erzählen! Er ist der leitende Ermittlungsbeamte.«

»Nein!«, sagte Wally entschieden. »Ich gehe nicht zur Polizei, nicht einmal in die Nähe, ganz zu schweigen vom Scotland Yard. Die Polizei mag schön und gut sein, auf ihre Weise, aber sie machen uns ehrlichen Kutschern Ärger ohne Ende. Sie beschuldigen uns andauernd, schlechtes Geld zu wechseln. Ich sage nicht, dass ich nie mit schlechtem Geld bezahlt worden bin! Aber ich selbst, Walter Slater, Kutscher aus Kentish Town, habe noch nie wissentlich einen falschen Sovereign oder einen falschen Sixpence herausgegeben, so wahr mir Gott helfe! Trotzdem hat man mich beschuldigt, und das mehr als einmal! Beschuldigt von Burschen, die noch nass waren hinter den Ohren, in blauen Uniformen mit albernen Helmen! Als sie noch richtige Hüte trugen, war es schon schlimm genug, aber jemandem zuhören zu müssen, der eine Menge Unsinn erzählt und zu allem Übel auch noch einen Blumentopf auf dem Kopf hat … Das ist zu viel!«

»Es tut mir sehr leid, Mr Slater, wenn Sie in letzter Zeit einige … einige Contretemps mit dem Gesetz hatten, aber … bitte, das hat doch nichts mit dieser Angelegenheit zu tun!«

»Contretemps nennen Sie das?«, entgegnete er nachdenklich. »Kong-tre-toms … das ist ein sehr hübsches Wort, und ich danke Ihnen dafür. Aber ich werde nicht mit Ihnen zum Scotland Yard gehen. Ich bitte um Verzeihung, aber so ist es nun mal. Ich kann Ihnen nicht helfen, nicht in dieser Sache. Ich habe einen Ruf, auf den ich achten muss, und Schwätzchen mit Bullen zu halten würde ihm nicht gerade gut bekommen.«

Ich starrte ihn voller Verzweiflung an, weil er so eisern war. Doch ich hatte nicht mit Bessie gerechnet, die aufmerksam gelauscht hatte und sich nun zwischen uns drängte. Sie streckte die Hände aus und packte den Kutscher am Revers seines Mantels.

»Oh, Sie können Miss Martin also nicht helfen, hm? Nun denn, dann muss ich, Bessie Newman, Küchenmagd vom Dorset Square, eben allein mit meiner Herrin zum Scotland Yard gehen. Sobald wir dort sind, werde ich dem Inspector meine Geschichte erzählen … und ich werde ihm sagen, dass wir Sie gebeten haben mitzukommen und dass Sie Nein gesagt haben. Das ist Behinderung von Ermittlungen, ist das. Das kostet Sie Ihre Kutscherlizenz, Mister Wally Slater aus Kentish Town, damit Sie das ganz genau wissen!«

»Oh, Bessie …!«, rief ich entsetzt und in dem vergeblichen Bemühen, sie zum Schweigen zu bringen. »Bitte, glauben Sie mir, Mr Slater, so etwas würde ich Ihnen niemals antun!«

»Nein«, sagte Bessie. »Miss Martin würde so etwas nicht tun. Aber ich. Ich werde es ganz sicher tun. Also, was machen Sie jetzt?«

Slater stieß einen tiefen Seufzer aus und sah uns beide an, zuerst mich, dann Bessie, dann wieder mich. »Nun ja … sieht so aus, als würde ich Sie zum Scotland Yard fahren. Das werden sie mir nie verzeihen …«, fügte er traurig und mit einem verstohlenen Blick zu seinen Kollegen am Droschkenstand hinzu. »Sie erzählen den Jungs aber nichts davon, oder?«

Ich nahm seine schwielige Pfote und rief: »Ich danke Ihnen, Sir! Ich danke Ihnen vielmals!« Bei diesen Worten lief er dunkelrot an.

»Sie sind wirklich ein seltener Mensch«, sagte er. »Ich habe es schon einmal gesagt, und ich sage es erneut.«

Dann richtete er seinen wütenden Blick auf Bessie.

»Und was dich angeht!«, sagte er. »Du wirst eines Tages irgendeinem armen Teufel eine hart arbeitende, zuverlässige Ehefrau sein, und wer immer das sein wird, er hat mein aufrichtiges Mitgefühl!«