KAPITEL ELF
»Was denn? Alle? Alle auf einmal?«, fragte der Sergeant hinter dem Schreibtisch.
»Ja, bitte«, sagte ich entschlossen. »Wir müssen Inspector Ross sprechen, falls er da ist.«
Während wir unserem Ziel entgegenrumpelten, war mir bewusst geworden, dass der Inspector möglicherweise nicht da sein würde und dass es weit schwieriger sein würde, alles irgendeinem anderen Beamten zu erklären. Andererseits glaubte ich nicht, dass Bessie und ich imstande sein würden, Wally Slater davon zu überzeugen, noch einmal zum Scotland Yard zu fahren, falls der jetzige Besuch umsonst war. Ich hielt den Atem an.
»Er ist noch nicht lange zurück«, räumte der Sergeant unwillig ein. »Er hatte eine Besprechung mit dem Superintendent, doch ich schätze, er ist inzwischen wieder in seinem Büro. Ich werde gehen und ihn fragen, ob er bereit ist, einen von Ihnen zu empfangen.« Seine Blicke wanderten über uns, blieben misstrauisch bei Wally hängen, taten Bessie rasch ab und kehrten wieder zu mir zurück. »Sie vielleicht, Ma’am?«
»Wir alle!«, wiederholte ich. »Bitte sagen Sie dem Inspector, Miss Martin wäre gekommen und hätte ein Mitglied vom Hauspersonal vom Dorset Square … und einen weiteren Zeugen mitgebracht.«
»Ich werde es ausrichten«, sagte der Sergeant. »Ich hoffe nur, Sie haben nicht vor, die Zeit des Inspectors zu verschwenden. Darf ich erfahren, in welcher Angelegenheit Sie gekommen sind, Ma’am?«
»Das habe ich Ihnen doch soeben gesagt. Ich komme vom Dorset Square – dem Haus, in dem Miss Hexham gewohnt hat, das Mordopfer.«
»Ah, dieser Fall«, sagte der Sergeant und rieb sich das Kinn. »Warten Sie bitte einen Augenblick.«
Wally hatte mit den Füßen gescharrt und sich während dieser Unterhaltung immer wieder nervös umgesehen. Wäre es noch länger so weitergegangen, er hätte wahrscheinlich Fersengeld gegeben. Was Bessie anging, so war sie inzwischen in Hochstimmung. Sie hatte die Fahrt im Growler genossen. Sie hatte kerzengerade auf ihrem Sitz gesessen, die Füße vor sich ausgestreckt, und eifrig aus dem Fenster gespäht.
Der Sergeant kam zurück und gab Bescheid, dass der Inspector uns zu sehen wünsche. Wir folgten ihm ein paar Treppen hinauf und durch ein Vorzimmer, in dem ein junger Constable mit rosiger Gesichtsfarbe und bandagierter linker Hand kritzelnd an einem Schreibtisch saß. Von dort wurden wir ins Büro von Inspector Ross geführt.
Er war von seinem Schreibtisch aufgestanden, um uns entgegenzukommen und zu begrüßen, und er wirkte verständlicherweise verblüfft bei unserem Anblick. Wir stellten uns in einer Reihe abnehmender Körpergröße vor ihm auf: Wally, dann ich und schließlich Bessie. Mir kam der Gedanke, dass wir wahrscheinlich aussahen wie die berühmten drei Bären aus dem Kindermärchen.
»Ich danke Ihnen«, sagte ich, »dass Sie sich die Zeit nehmen, uns zu empfangen. Ich wäre nicht hergekommen, um Sie zu belästigen; aber ich glaube, es ist sehr wichtig.«
»Ich bin sicher, Sie wären nicht wegen irgendeiner trivialen Angelegenheit gekommen, Miss Martin«, erwiderte Ross; dann schaute er sich suchend um und zog den einzigen freien Stuhl heran. »Bitte setzen Sie sich doch.«
Ich nahm Platz. Wally bezog hinter mir Position und schaffte auf diese Weise ein Hindernis zwischen sich und dem Inspector, während Bessie sich schützend an meine Seite stellte. Ein Photograph hätte uns nicht besser arrangieren können.
»Sie haben Glück, mich hier anzutreffen«, fuhr Ross fort. »Ich bin gerade erst vom Dorset Square zurückgekehrt.«
»Von unserem Haus?«, fragte Bessie.
Ross musterte sie ernst, bevor er antwortete. »Nein. Ich habe eine andere Anwohnerin des Dorset Square besucht.«
»Doch wohl nicht Mrs Belling, oder?«, fragte ich. »Wir sind ihrem Sohn James begegnet, als wir das Haus verlassen haben.«
Ross hob die Augenbrauen. »Tatsächlich? Der Gentleman war zu Hause, als ich dort war.«
Ich runzelte die Stirn, als mir die Bedeutung seiner Worte klar wurde. James war also wieder zu Hause gewesen, als Ross dort eingetroffen war. Er konnte kaum ausreichend Zeit gehabt haben, nachdem wir uns begegnet waren, um einmal den Block zu umrunden!
Dann kam mir ein weiterer Gedanke, und der gefiel mir genauso wenig. Hatte James Belling vielleicht gesehen, wie Bessie und ich aus dem Haus von Mrs Parry gegenüber gekommen waren und war nach unten auf den Platz geeilt, um ein ›zufälliges‹ Treffen zu arrangieren? Das Spiel mit der Taschenuhr und das eilige Gehabe waren nichts weiter als Schauspielerei gewesen, reines Theater. Nachdem Belling mit mir gesprochen hatte, war er nur einen Block weit gegangen oder so und dann nach Hause zurückgekehrt, rechtzeitig für Ross’ Eintreffen. Ich rechnete aus, dass Ross ungefähr zu der Zeit bei den Bellings gewesen sein musste, zu der ich bei King’s Cross auf Wally Slater gewartet hatte.
»Ah, ja«, sagte Ross. »Mr James Belling. Er interessiert sich für Fossilien.«
Ross schaute ebenfalls nachdenklich drein, als würde er in Gedanken einen Zeitplan für die Aktivitäten von James Belling an diesem Morgen ausrechnen. Ich erinnerte mich daran, dass Frank über Bellings Interesse für Fossilien gesprochen hatte, doch ich konnte mir nicht vorstellen, wie dieses Thema im Verlauf von Ross’ Besuch wegen seiner polizeilichen Ermittlungen aufgekommen war. Der Inspector erläuterte es jedenfalls nicht, und so blieb ich im Dunkeln.
Ross war ebenfalls noch im Dunkeln, was den Zweck unseres gemeinsamen Besuchs anging. »Nun?«, drängte er und musterte uns noch immer ein wenig ratlos. »Was kann ich für Sie tun?«
»Wir fangen am besten mit Bessie Newman an …«, sagte ich rasch und deutete auf meine kleine Begleiterin, die sich die Zeit mit dem gründlichen Betrachten ihrer Umgebung vertrieb. »Mit Bessie und dem Tag, an dem Madeleine Hexham das Haus auf dem Dorset Square verlassen hat und nie wieder lebend gesehen wurde. Bessie ist die Küchenmagd. Erzähl dem Inspector, was sich an diesem Morgen ereignet hat, Bessie«, forderte ich sie auf.
Bessie gehorchte und erzählte ihre Geschichte bis zu dem Punkt, als Madeleine aus dem Haus geeilt war, um in Wallys wartenden Growler zu steigen.
Als sie verstummte, glaubte ich, ein Wort der Erklärung anfügen zu müssen. »Bessie hätte dem Constable alles erzählt, dem Beamten, der in das Haus kam, um das Personal zu vernehmen. Doch sie war besorgt wegen Miss Hexhams Ruf und fürchtete darüber hinaus, dass sie Ärger mit Mrs Parry bekommen könnte, weil sie Madeleine Hexham bei ihrer heimlichen Flucht geholfen hatte. Bessie ist ein Waisenkind, und Dorset Square ist ihr einziges Zuhause.«
»Ich verstehe«, sagte Ross ernst. »Ich verstehe das sehr gut.«
»Und nun wird Mr Slater Ihnen erzählen, was danach geschehen ist. Er hat es mir noch nicht verraten; daher weiß ich genauso wenig wie Sie«, fügte ich hinzu.
Ross schaute den Kutscher fragend an.
Wally räusperte sich und richtete sich auf. »Ich bin hier, weil die junge Lady mich angesprochen und um Hilfe gebeten hat. Sie ist eine wirklich seltene Person, das sollten Sie wissen!«
»Ich denke, ich weiß es«, sagte Ross unerwartet. »Aber wer sind Sie?«
»Ich bin Walter Slater, lizenzierter Droschkenfahrer aus Kentish Town«, stellte sich der Kutscher mit rauer Stimme vor. »Ich bin ein aufrichtiger Mann, doch ich wurde zu mehr als einer Gelegenheit ungerechtfertigt von der Polizei beschuldigt, Falschgeld herausgegeben zu haben. Ich habe niemals wissentlich so etwas getan, und ich möchte, dass Sie das zu den Akten nehmen.«
»Hat das etwas mit Miss Hexham zu tun?«, fragte Ross.
Wally starrte ihn finster an. »Nein. Das hat nur mit mir zu tun.«
»Mich interessiert nicht, ob Sie Falschgeld herausgegeben haben«, sagte Ross gepresst. »Ich untersuche einen Mordfall. Fahren Sie bitte fort, wenn es recht ist.«
»Also schön, nur keine Aufregung«, empfahl Wally. »Wie Sie wahrscheinlich wissen, ist ein lizenzierter Droschkenfahrer verpflichtet, jeden Fahrgast zu befördern. So lautet das Gesetz. Es sei denn natürlich, der Fahrgast ist betrunken, beschimpft mich oder leidet an einer schrecklichen Krankheit, dann habe ich das Recht, ihn abzulehnen. Aber die junge Lady an dem fraglichen Tag war nichts von alledem. Ich hatte daher die Pflicht, sie hinzubringen, wohin sie wollte, auch wenn es mir recht eigenartig erschien.«
Er zögerte, doch da keiner von uns etwas sagte und Ross lediglich mit der Hand winkte zum Zeichen fortzufahren, sprach er schließlich weiter. »Sie war eine hübsche junge Lady, sehr gut gekleidet und sauber.«
An dieser Stelle unterbrach Ross die Erzählung. »Erinnern Sie sich an Einzelheiten ihrer Kleidung? Die Farbe ihres Kleides oder Schals?«
»Sehe ich vielleicht aus wie ein Mann, der Modeblätter liest?«, entgegnete Wally. »Sie war sehr ordentlich gekleidet, das ist alles, was ich weiß.« Er runzelte die Stirn. »Ihr Kleid war, glaube ich, gestreift. Fragen Sie mich nicht nach der Farbe, blau oder rosa oder irgendwas. Ich bin ein Droschkenkutscher, und ich merke mir nur, wohin die Leute gefahren werden wollen. ›Zur St. Luke’s Kirche‹, sagte sie. ›In Agar Town, falls Sie die kennen.‹ Ich sagte ihr, dass ich sehr wohl wüsste, wo diese Kirche wäre, und ob sie sicher wäre, dass sie dorthin wollte? Weil sie nämlich abgerissen werden sollte und weil dort, soweit ich wusste, keine Gottesdienste mehr abgehalten wurden. Doch sie bestand darauf, dass ich sie nach St. Luke’s bringen sollte. Also fuhren wir dorthin. Das war für mich nicht einfach zu begreifen, nicht nur, weil sie ausgerechnet nach Agar Town wollte, was ich überhaupt nicht verstehen konnte, sondern auch, weil die Art und Weise, wie ich hinter der Ecke warten sollte und alles, normalerweise ein bevorstehendes Rondeevuh romantischer Natur bedeutet. Warum sollte sie sich so aus dem Haus stehlen, wenn sie nur zur Kirche wollte?«
»Und? Haben Sie Miss Hexham zu dieser Kirche gebracht?«, fragte Ross.
»Habe ich. Als wir dort ankamen, sagte ich ihr noch einmal, dass es nicht so aussehe, als würden dort noch Gottesdienste abgehalten. Es war niemand sonst in der Nähe, nicht eine Menschenseele, nur ein Friedhof voller Verstorbener.«
»Es waren keine Arbeiter dort? Niemand, der irgendwelche Häuser abgerissen hätte?«, fragte Ross.
Wally schüttelte den Kopf. »Damals waren sie noch nicht bis dorthin gekommen. Sie fingen gerade erst an, die Fläche für den Bahnhof und die Frachtanlagen zu räumen; aber sie waren ein gutes Stück weit entfernt, und die Gegend um die Kirche herum war noch nicht angetastet. Es war ihnen noch nicht gelungen, einen Weg zu finden, wie sie mit den Gräbern umgehen sollten, jedenfalls hatte ich das gehört. Deswegen vermute ich, dass sie die Finger davon gelassen haben, bis ihnen etwas eingefallen war. Wie dem auch sei, sie sagte zu mir, dass sie ein Grab besuchen wolle. Nun ja!« Wally hob einen breiten, verkrümmten Finger und schüttelte ihn. Seine Knöchel hatten im Boxring schwer gelitten und waren voller Narben.
»Ich schätze, das hat sie nur gesagt, um mich zu beruhigen. Leute, die ein Grab besuchen, bringen im Allgemeinen Blumen mit. Zumindest sehen sie ein wenig nach Trauer aus, schluchzen vielleicht sogar, selbst wenn sie nur so tun, und sie tat nichts dergleichen. Sie sah im Gegenteil ziemlich zufrieden mit sich aus, wenn Sie mich fragen. Also fragte ich sie, ob sie vielleicht wollte, dass ich warte, während sie das Grab besuchte? Ich wollte sie nicht gern ganz allein dort lassen. Aber sie sagte Nein, es würde eine Weile dauern. ›Sie kriegen hier kein anderes Taxi, Miss?‹, sagte ich zu ihr. ›Nicht hier in Agar Town. Sie müssen ein ganzes Stück weit laufen, bis zur Hauptstraße.‹ Es nutzte nichts. Sie sagte mir, alles wäre arrangiert. Was konnte ich anderes tun als ihr zu glauben?« Ein flehentlicher Unterton schlich sich in die Stimme des Droschkenfahrers. »Ich konnte ja nicht ahnen, dass sie ermordet werden würde!«
»Selbstverständlich nicht«, pflichtete ich ihm bei.
»Nein, ich nehme nicht an, dass Sie das wissen konnten, Mr Slater«, sagte Ross.
»Der Mörder hat auf sie gewartet«, verkündete Bessie. »Vermutlich hat er sich hinter einem von diesen Grabsteinen oder Monumenten versteckt! Ich hoffe, sie hängen diesen Kerl auf!«
»Heutzutage hängen sie kaum noch irgendjemanden wegen irgendwas«, bemerkte Wally. »Bis vor ein paar Jahren haben sie dich noch für nichts aufgeknüpft. Mein toter Großvater war ein Droschkenfahrer. Wir sind eine Familie von Kutschern. Nachdem ich den Boxring auf Bitten der Lady, die heute Mrs Slater ist, verlassen hatte, bin ich ebenfalls in dieses Geschäft zurückgekehrt. Nicht, dass ich es bedaure, keine Frage, obwohl es keine Freude ist, bei jedem Wetter draußen zu sein und Fahrgäste zu befördern. Andererseits … um ehrlich zu sein, sich den Schädel zu Brei schlagen zu lassen, ist auch nicht so angenehm. Obwohl, bisweilen kommt man als Preisboxer mit richtig hohen Tieren und feinen Pinkeln zusammen, und das Preisgeld ist manchmal recht gut. Und wenn man die Menge hört, die einen anfeuert, dann ist das schon was Besonderes. Aber wie ich bereits gesagt habe: Damals, in den Tagen meines Großvaters, wurden ehrliche Droschkenfahrer, die nichts anderes getan hatten, als ohne es zu wissen eine falsche Münze herauszugeben …«
An dieser Stelle bemerkte er, dass wir anderen alle deutliche Anzeichen von beginnender Ungeduld zeigten. Insbesondere Ross sah aus, als überlege er, ob es irgendein Vergehen gab, das er Wally zur Last legen konnte.
»… jedenfalls, die Zeiten ändern sich, das ist alles«, beendete der Droschkenfahrer seinen Satz.
Ross erhob sich und ging zur Tür. Er rief ins Vorzimmer: »Biddle! Kommen Sie bitte her, und kümmern Sie sich um diese Leute, verstanden?«
»Hören Sie!«, protestierte Bessie erschrocken. »Wollen Sie uns etwa verhaften oder was?«
»Nein, nein, Miss Newman«, beeilte Ross sich, sie zu beruhigen. »Aber es ist erforderlich, dass Sie Ihre Aussagen noch einmal wiederholen, damit Constable Biddle hier sie niederschreiben kann. Anschließend wird er Sie bitten, die Protokolle zu unterschreiben. Können Sie Ihren Namen schreiben?«
Bessie, die sehr zufrieden dreingeblickt hatte, weil sie mit ›Miss Newman‹ angesprochen worden war, fiel in ihre übliche kratzbürstige Verteidigungshaltung zurück. »Selbstverständlich kann ich das! Wir haben im Waisenhaus lesen und schreiben gelernt!«
Der Constable mit dem bandagierten Handgelenk betrat das Büro, und jetzt bemerkte ich auch, dass er ein wenig humpelte.
Bessie musterte ihn von oben bis unten. »Waren Sie im Krieg oder was?«, fragte sie.
»Die Aussagen, Biddle!«, befahl Ross in scharfem Ton. »Von Mr Slater und Miss Newman. Nicht von Ihnen, Miss Martin. Könnten Sie vielleicht noch einen Augenblick warten?«
Meine Begleiter verließen den Raum, und Constable Biddle schloss die Tür. Ross stieß einen Seufzer aus.
»Möchten Sie vielleicht einen Tee, Miss Martin? Ich denke, wir können welchen besorgen. Ich hätte schon früher danach fragen sollen.«
Ich lehnte dankend ab. »Ich kann nicht mehr viel länger bleiben. Ich muss zurück zum Dorset Square und Bessie mitnehmen, oder man wird uns viele Fragen stellen, die wir unmöglich alle beantworten können!«
Bei diesen Worten gestattete sich Ross ein flüchtiges Lächeln. »Ich habe volles Vertrauen in Ihren Einfallsreichtum, Miss Martin.«
Er kehrte an seinen Platz zurück, setzte sich und legte die Hände auf die Holzlehnen. »Nun«, sagte er, »Sie scheinen in dieser Angelegenheit eine ganze Menge und bessere Fortschritte gemacht zu haben als ich. Auch ich habe eine Vielzahl von Fragen, auf die ich noch keine Antworten gefunden habe.«
»Es war reiner Zufall«, sagte ich zu ihm. »Reiner Zufall, dass ich den Droschkenfahrer anhand von Bessies Beschreibung wiedererkannt habe.« Ich zögerte kurz, bevor ich fortfuhr: »Madeleine Hexham war schwanger, nicht wahr? Das haben Sie nicht erwähnt, als Sie ins Haus von Mrs Parry gekommen sind, um sie über Madeleines Tod zu informieren. Bessie brachte jeden Morgen heißes Wasser aufs Zimmer von Madeleine. Sie traf sie mehrmals an, als ihr sehr übel war und sie sich übergeben musste.«
Ross musterte mich sekundenlang, bevor er leise antwortete: »Ja, Madeleine Hexham war bereits im vierten Monat schwanger. Vielleicht ist das der Grund, warum sie ermordet wurde. Ich bin allerdings nicht dafür, dass diese Information gegenwärtig weitergegeben wird. Es ist auch so schon schwer genug, jemanden dazu zu bringen, über sie zu sprechen. Wenn die Leute von ihrer Schwangerschaft erfahren, dann wage ich zu behaupten, dass sie sich völlig verschließen. Wir … Ich habe es hier mit höchst ehrbaren Bürgern zu tun. Ich muss vorsichtig sein und ihre Befindlichkeiten respektieren.«
Ich dachte an Dr. Tibbett, der munter mit seinem Freudenmädchen von dannen gezogen war, doch ich sagte nur: »Ich verstehe das, und von mir oder Bessie wird niemand etwas erfahren.«
»Verraten Sie mir, Lizzie Martin …«, sagte Ross unvermittelt, und ich schaute überrascht auf. Er lächelte, doch das Lächeln reichte nicht bis zu seinen dunklen Augen. »… verraten Sie mir, was Sie von dieser Geschichte halten.«
»Was ich davon halte?« Ich zögerte. »Ich halte davon, dass der Mörder von Madeleine seine gerechte Strafe erhalten sollte.«
»Sie sind wie Ihr Vater«, sagte er. »Sie haben das Bedürfnis, die Schwachen zu schützen. Manchmal riskiert man mit diesem Verhalten, die Mächtigen und Einflussreichen gegen sich aufzubringen.«
»Mein Vater hat sich davon nie beeinflussen lassen, und ich hoffe, dass ich es genauso wenig tue.«
»Verzeihen Sie mir, doch Ihr Vater war ein Mann und obendrein in seiner Gemeinde jemand von einiger Bedeutung. Jeder braucht früher oder später einen Arzt. Selbst wenn er einem auf die Füße getreten ist, achtet man dennoch darauf, sich nicht völlig mit ihm zu überwerfen. Ihre Lage, wenn Sie entschuldigen, dass ich Sie darauf hinweise, erscheint mir völlig anders. Sie können es sich nicht leisten, sich Feinde zu machen.«
»Ich bin eine Frau und allein, doch ich kenne meine Pflicht«, sagte ich leise und fügte nach einem Moment hinzu: »Das klingt schrecklich tugendhaft, nicht wahr? Sagen wir einfach, ich kann nicht zulassen, dass die Erinnerung an die arme Madeleine Hexham einfach weggewaschen wird wie ein Fleck auf einem Teppich. Es ist nicht recht.«
»Also schön!«, sagte Ross forsch. »Stecken wir unsere Köpfe zusammen, und sehen wir mal, was wir tun können. Verraten Sie mir, was ist Ihrer Meinung nach mit ihr passiert? Ich kann mich nicht in den Kopf einer jungen Frau versetzen; deswegen frage ich Sie. Warum hat sie an jenem Morgen in aller Heimlichkeit das Haus verlassen, und warum hat sie sich von diesem Kutscher zu einer verlassenen Kirche bringen lassen?«
Ich hatte an meiner diesbezüglichen Theorie gearbeitet, seit ich Wallys Aussage vernommen hatte. Jetzt beugte ich mich vor und begann ernst: »Mr Slater ist sowohl ein scharfer Beobachter als auch schlau. Er hat manchmal eine komische Art, sich auszudrücken, und neigt dazu, weit auszuholen, doch das bedeutet nicht, dass das, was er zu sagen hat, nicht ernstgenommen werden muss. Er hat mich gewarnt, als er mich zum Dorset Square gefahren hat, dass ich vielleicht einen Freund benötigen würde. Er hatte sich bereits gedacht, dass irgendein Unheil im Anzug war und mit diesem Haus in Verbindung stand. Was ich denke, ist Folgendes: Madeleine wurde von einem Mann verführt, der ein hohes Ansehen genießt und sie nicht heiraten konnte oder wollte. Er überredete sie, ihre Affäre geheim zu halten. Das war leicht zu bewerkstelligen. Er könnte beispielsweise gesagt haben, dass er zuerst eine ältere Verwandte, deren Erbe er war, davon überzeugen müsste, dass die Ehe mit einer mittellosen jungen Frau akzeptabel war. Vielleicht hat er ihr gesagt, dass Mrs Parry ihn nicht guthieß und Madeleine jede Gelegenheit nehmen würde, sich mit ihm zu treffen. Aber egal. Was auch immer er ihr erzählt haben mag, sie muss es geglaubt haben.«
Ross nickte, doch er sagte nichts und beobachtete mich nur aufmerksam, während ich weitersprach.
»Ich weiß es nicht, aber ich vermute, dass er, als Madeleine ihm ihre Schwangerschaft anvertraut hat, sich einverstanden erklärt hat, sie zu heiraten, allerdings heimlich«, fuhr ich fort. »Bessie hat mir erzählt, dass Madeleine an jenem Morgen, an dem sie das Haus verließ, sehr glücklich gewirkt habe. Sie war seit Wochen nicht mehr so fröhlich gewesen. Mr Slater hat ebenfalls bemerkt, dass sie optimistisch wirkte und keine Angst hatte, allein in der St. Luke’s Kirche zurückgelassen zu werden. Sie erzählte ihm das, weil alles arrangiert war. Ich denke, dass ihr Verführer ihr weisgemacht hat, er hätte eine spezielle Lizenz für ihre Hochzeit erwirkt. Ich denke, er schlug vor, dass ihre Hochzeit an irgendeinem sehr privaten Ort stattfinden sollte, damit sie nicht bekannt wurde. Die St. Luke’s Kirche war bereits so gut wie verlassen. Er erzählte ihr, dass er einen Geistlichen überredet oder bestochen hätte, dorthin zu kommen und sie beide zu trauen. Wer würde die Zeremonie schon sehen? Selbst die Arbeiter von der Baustelle waren noch nicht bis in diese Gegend vorgedrungen.«
»Die Hochzeit würde zwei Trauzeugen erfordert haben«, bemerkte Ross.
»Dann hat er ihr erzählt, er hätte zwei gute Freunde, die absolut zuverlässig seien und deren Diskretion vollkommen wäre. Sie war in ihn verliebt. Sie glaubte alles, was er ihr erzählte. Ich denke nicht, dass sie sonderlich intelligent war. Ich weiß, dass sie eine romantische Ader hatte, weil sie eine Menge von diesen billigen Liebesromanen gelesen hat.«
»Wer hat Ihnen das erzählt?«, fragte Ross leise.
»Nun ja, das war Frank Carterton. Frank und ich halten es für möglich, dass sie diesen Verführer in der Leihbücherei kennen gelernt hat. Sie besuchte diese Büchereien häufig. Nun ja, wo war ich stehen geblieben …?«
»Miss Hexham fuhr also zur St. Luke’s Kirche, um zu heiraten, oder jedenfalls hat sie das geglaubt«, kam Ross mir zu Hilfe.
Mir wurde bewusst, dass ich an diesem Punkt ans Ende meiner Schlussfolgerungen gelangt war. »Ich weiß nicht, was als Nächstes passiert ist«, gestand ich. »Außerdem ist mir völlig klar, dass ich nichts von alledem beweisen kann.«
»Sie wissen, dass Madeleine seit mehr als zwei Monaten vermisst wurde und erst seit zwei Wochen oder weniger tot ist«, sagte Ross.
Auf irgendeine Weise war das die beunruhigendste Tatsache von allen, und ich sagte: »Ich wage gar nicht, daran zu denken. Er hielt sie gefangen. Er hatte Angst, sie gehen zu lassen. Am Ende brachte er sie um. Ich denke, er fand sich in einer Situation wieder, in der er keinen anderen Ausweg mehr zu haben glaubte.«
Ross’ Augenbrauen schossen in die Höhe. »Einen Ausweg?«
»Nein, natürlich nicht. Nicht moralisch gesehen. Aber wir reden hier nicht über einen moralischen Mann. Wir reden über ein Monster.«
»Oh, Monster«, sagte Ross. »Ja, ich bin in meiner Zeit bei der Polizei bereits dem ein oder anderen Monster begegnet. Ich bin aber auch einer ganzen Reihe sehr verängstigter Menschen begegnet, die aus lauter Angst grauenvolle Dinge getan haben. Mörder sind nicht immer von Geburt an schlecht. Manchmal werden sie erst zu Mördern gemacht.«
»Aber sie so lange gefangen zu halten!«, platzte ich heraus. »Das ist in meinen Augen das Verhalten eines Monsters!«
»Und wo hat er sie gefangen gehalten?«, fragte Ross.
»Wieso?«, entgegnete ich. »In einem der verlassenen Häuser von Agar Town. Jeder weiß, dass sie leer stehen. Jeder sieht, wo die Bauarbeiter sind. In der Nacht war niemand zugegen, und bei Tage war der Lärm der Abrissarbeiten so groß, dass niemand ihre Hilfeschreie gehört hat!«
Ross trommelte mit den Fingern auf der Schreibtischplatte. »Wenn das, was Sie sagen, richtig ist – und sagen wir mal, es stimmt mehr oder weniger mit meinen eigenen Gedankengängen überein –, dann gibt es immer noch ein Problem: Warum hat er sie nicht sogleich umgebracht? Jeder Tag, den sie in Gefangenschaft am Leben blieb, erhöhte das Risiko, dass sie gefunden wurde. Wir müssen annehmen, dass er sie gleich am ersten Tag gefangen nahm, als Slater sie zur St. Luke’s Kirche gefahren hat.«
»Er hatte wahrscheinlich zuerst einen anderen Plan«, schlug ich vor. »Aber der ging nicht auf.« Ich zermarterte mir das Gehirn auf der Suche nach einer anderen Erklärung und erkannte ein wenig verspätet, dass ich auf meiner Unterlippe kaute, wie ich es als Kind getan hatte, wenn ich über etwas rätselte. »Vielleicht hat er sie zuerst irgendwo anders festgehalten«, überlegte ich laut, »und sie erst später nach Agar Town gebracht.«
Ross murmelte etwas, das ich nicht verstand. Laut sagte er: »Nun, ich weiß, was ich als Nächstes zu tun habe, aber Sie müssen wieder zurück zu dem Haus am Dorset Square. Ich werde eine Transportmöglichkeit für Sie und Bessie arrangieren.«
»Ich bin sicher, Mr Slater wird uns fahren«, sagte ich und stand auf.
Ross kam um seinen Schreibtisch herum und stellte sich vor mich. »Ich bin Ihnen äußerst dankbar, Miss Martin«, sagte er. »Und ich mache mir große Sorgen um Sie.«
Er sah tatsächlich besorgt aus. Seine Stirn unter dem wirren Schopf schwarzer Haare war in Falten gelegt. Die unordentlichen Haare erinnerten mich an den Knaben von damals bei der Grube. Vielleicht hatte er sich gar nicht so sehr verändert, wie ich zuerst geglaubt hatte.
»Machen Sie sich wegen mir keine Gedanken«, sagte ich leise. »Sie haben genügend andere Dinge, um die Sie sich kümmern müssen.«
»Und ich möchte unter keinen Umständen, dass Sie zu einem dieser Dinge werden!«, lautete seine unerwartete Erwiderung. »Verstehen Sie mich nicht falsch, Miss Martin. Ja, ich mache mir Gedanken um Ihr Wohlergehen, schon allein um Ihretwillen. Aber ich mache mir auch als Polizeibeamter Gedanken. Sie müssen sehr vorsichtig sein. Wir haben es hier mit einem Mann zu tun, der bereits einmal gemordet hat. Er denkt jetzt wahrscheinlich, dass er einen Schritt auf einem Weg gemacht hat, von dem es kein Zurück mehr gibt. Er wird erneut töten, sollte er es als notwendig erachten. Lassen Sie niemanden sehen, wie sehr Sie sich für diese Geschichte interessieren. Es wäre nicht klug.«
Unerwartet lächelte er. »Dr. Martin hat sich sehr um mich gekümmert«, sagte er. »Sollte ich mich da nicht genauso sehr um seine Tochter kümmern?«
Ich öffnete meinen Mund, schluckte und murmelte etwas vor mich hin, ich weiß nicht mehr was; dann zog ich mich verwirrt aus seinem Büro zurück. Seine Warnung war fest in mein Gehirn gebrannt.