FÜNFZEHN

Während sich die große amerikanische Schlinge um die Philippinen, Borneo und das östliche Indonesien und quer über den Pazifik bis zur amerikanischen Küste spannte, verließ die Countess of Richmond die Flores-See und fuhr durch die Lombok-Straße zwischen Lombok und Bali hinaus in den Indischen Ozean. Dann ging sie auf Westkurs, in Richtung Afrika.

 

Der Notruf des sterbenden Eagle war an mindestens drei Stellen gehört worden. McChord Air Force Base hatte natürlich alles auf Band, denn sie hatte Kontakt mit der Mannschaft gehabt. Die Marineflugstation auf Whidbey Island, nördlich von McChord, hörte regelmäßig Kanal 16 ab, ebenso die Küstenwache oben in Bellingham. Wenige Sekunden nach dem Notruf waren sie miteinander in Kontakt und standen bereit, die Position der abgesprungenen Besatzung zu triangulieren.

Die Zeit, als Piloten hilflos in einem Schlauchboot dümpelten oder irgendwo in einem Wald lagen und darauf warteten, gefunden zu werden, ist längst vorbei. Die heutigen Flieger tragen eine Rettungsjacke mit einem Hightech-Peilsender, klein, aber leistungsstark, und einem Funkgerät, das die Kommunikation per Sprechfunk ermöglicht.

Die Peilsender wurden sofort geortet, und die drei Lauschposten hatten die Männer bald auf ein paar Meter genau lokalisiert. Major Duval befand sich im Herzen des Nationalparks, Captain Johns war im Nutzwald gelandet. Beide Bereiche waren wegen des Winters immer noch für die Öffentlichkeit gesperrt.

Die Wolkendecke unmittelbar über den Baumwipfeln würde die Rettung per Hubschrauber verhindern, auch wenn das die schnellste und bevorzugte Methode war. Ein Rettungsunternehmen nach altmodischer Art musste gestartet werden. Geländewagen oder Halbkettenfahrzeuge würden die Bergungsmannschaft über die vorhandenen Pisten so nah wie möglich an die Landeplätze bringen, dann ginge es mit Schweiß und Muskelkraft weiter.

Der größte Feind war jetzt die Unterkühlung, und wegen des gebrochenen Beins kam bei Johns ein traumatischer Schock dazu. Der Sheriff von Watcom County teilte über Funk mit, seine Deputys seien einsatzbereit und könnten sich innerhalb von dreißig Minuten in dem Städtchen Glacier am Rande des Waldgebiets treffen. Dort waren sie dem Wizzo mit seinem gebrochenen Bein am nächsten. Mehrere Holzfäller, die in der Nähe von Glacier wohnten, kannten jeden Holzweg, der durch den Wald führte. Der Sheriff bekam Johns Position auf ein paar Meter genau mitgeteilt und machte sich mit seinen Männern auf den Weg.

Um die Moral des Verletzten zu stärken, verband McChord den Sheriff mit dem Funkgerät an der Rettungsweste des Wizzos, damit er ihm Mut zusprechen konnte, während sie sich ihm näherten.

Der Washington National Park Service widmete sich Major Duval. Die Ranger hatten Erfahrung im Überfluss: Jedes Jahr verunglückten Camper und mussten geborgen werden. Sie kannten alle Straßen und Pfade im Park. Mit Schneemobilen und Vierrad-Bikes fuhren sie los. Der Major war unverletzt, daher würden sie hoffentlich keine Trage benötigen.

Aber von Minute zu Minute sank die Körpertemperatur der beiden Flieger – bei Johns, der sich nicht bewegen konnte, schneller als bei Duval. Es war ein Wettlauf gegen die Zeit; die beiden Männer brauchten Handschuhe, Stiefel, Thermodecken und heiße Suppe, bevor die Kälte sie überwältigte.

Niemand sagte den Rettungstrupps – weil niemand es wusste –, dass sich an diesem Tag noch ein Mann durch die Wildnis schlug und dass er sehr gefährlich war.

Zum Glück für das CIA-Team in der zertrümmerten Hütte war ihre Telekommunikationseinheit unbeschädigt geblieben. Der Commander brauchte nur eine Nummer anzurufen, aber die war gut. Sie verband ihn über eine abhörsichere Leitung mit dem Schreibtisch Marek Gumiennys in Langley. Drei Zeitzonen weiter östlich, gegen vier Uhr nachmittags, nahm der den Anruf entgegen.

Als er die Neuigkeiten erfuhr, wurde er sehr still. Er tobte und fluchte nicht, obwohl das, was er da hörte, eine größere Katastrophe für die Company war. Bevor sein Untergebener in der Cascades Wilderness zum Schluss gekommen war, analysierte Gumienny die Katastrophe bereits. Die beiden Toten würden in der Eiseskälte eine Weile warten können. Die drei Verletzten mussten dringend evakuiert werden. Und der Flüchtige musste gefasst werden.

»Kann ein Hubschrauber zu Ihnen durchkommen?«

»Nein, Sir. Die Wolkendecke liegt dicht über den Baumwipfeln, und es wird bald wieder schneien.«

»Welches ist der nächste Ort, den Sie über eine Piste erreichen können?«

»Mazama. Das liegt außerhalb der Wilderness, aber es gibt eine Gutwetterpiste, die von dort zum Hart's Pass führt. Der ist eine Meile weit von hier entfernt. Doch von hier aus gibt es keine Piste dorthin.«

»Was Sie da haben, ist eine streng geheime Forschungseinrichtung, verstanden? Es hat einen schweren Unfall gegeben. Sie brauchen dringend Hilfe. Alarmieren Sie den Sheriff in Mazama; er soll zu Ihnen kommen mit allem, was er hat. Halbkettenfahrzeuge, Schneemobile, Offroader. So dicht heran wie möglich. Die letzte Meile mit Skiern, Schneeschuhen, Schlitten. Schaffen Sie die Verletzten ins Krankenhaus. Können Sie sich einstweilen warmhalten?«

»Ja, Sir. Zwei Räume sind zerstört, drei andere haben wir verschließen können. Die Zentralheizung ist hin, aber wir haben ein Holzfeuer.«

»Gut. Wenn der Rettungstrupp kommt, schließen Sie alles ab, zerstören Sie die geheimen Kommunikationseinrichtungen, nehmen Sie alle Codes mit und bringen Sie die Verletzten ins Krankenhaus.«

»Sir?«

»Ja?«

»Was ist mit dem Afghanen?«

»Den überlassen Sie mir.«

Marek Gumienny dachte an das Schreiben, das John Negroponte ihm zu Beginn von Operation Crowbar gegeben hatte. Allumfassende Vollmachten. Ohne Einschränkungen. Es war Zeit, dass die Army ihre Steuerdollars verdiente. Er rief im Pentagon an.

Dank seiner jahrelangen Zugehörigkeit zur Company und dem neuen Geist der Informationsweitergabe hatte er gute Kontakte zum Militärischen Nachrichtendienst, und dieser wiederum war bestens befreundet mit den Special Forces. Zwanzig Minuten später erfuhr er, dass er vielleicht den ersten Glückstreffer an einem wirklich üblen Tag gelandet hatte.

Keine vier Meilen weit von der McChord AFB entfernt liegt der Army-Stützpunkt Fort Lewis. Ein Teil dieser großen Garnison ist für unbefugtes Personal gesperrt, und hier befindet sich das Quartier der First Special Forces Group, einer Einsatzgruppe, die unter ihren wenigen Freunden als Operational Detachment Group (OD) Alpha 143 bekannt ist. Die Ziffer 3 am Ende besagt, dass es sich um eine Gebirgsjägereinheit handelt, ein »A«-Team. Der befehlshabende Offizier war Senior Captain Michael Linnett.

Als der Adjutant der Einheit den Anruf des Pentagons entgegennahm, hatte er wenig Hilfreiches zu sagen, obwohl er mit einem Zweisternegeneral sprach.

»Im Moment, Sir, sind sie nicht in der Basis. Sie nehmen an einer taktischen Übung am Mount Rainier teil.«

Der in Washington stationierte General erinnerte sich dunkel daran, dass dieser trostlose Berggipfel weit im Süden von Tacoma in Pierce County lag.

»Können Sie sie per Hubschrauber zur Basis zurückholen lassen, Lieutenant?«

»Ja, Sir, ich denke schon. Die Wolkendecke ist hoch genug.«

»Können Sie sie dann auch mit einem Airlift zu einem Ort namens Mazama bringen, in der Nähe des Hart's Pass in der Wilderness?«

»Das muss ich überprüfen, Sir.«

Der General wartete. Nach drei Minuten war der Lieutenant wieder am Apparat.

»Nein, Sir. Die Wolkenuntergrenze liegt dicht über den Baumwipfeln, und es ist Schneefall angesagt. Da hinauf kommen sie nur per Lastwagen.«

»Na, dann schaffen Sie sie auf dem schnellstmöglichen Weg dorthin. Sie sagen, sie sind im Manöver?«

»Ja, Sir.«

»Haben sie alles bei sich, was sie für einen Einsatz in der Pasayten Wilderness brauchen?«

»Alles für den Einsatz im rauen Gelände bei Minustemperaturen, Sir.«

»Auch scharfe Munition?«

»Ja, Sir. Die Übung ist eine simulierte Terroristenjagd im Rainier National Park.«

»Tja, jetzt ist es keine Übung mehr, Lieutenant. Die gesamte Einheit soll sich beim Büro des Sheriffs in Mazama melden. Setzen Sie sich mit einem CIA-Agenten namens Olsen in Verbindung. Halten Sie ständig Kontakt mit Alpha, und erstatten Sie mir über den Fortgang Bericht.«

Um Zeit zu sparen, forderte Captain Linnett, der beim Abstieg vom Mount Rainier informiert wurde, dass ein Notfalleinsatz angesetzt war, selbst die Luftevakuierung an. Fort Lewis hatte einen eigenen Chinook-Mannschaftstransporter, der das Alpha-Team dreißig Minuten später auf einem leeren Parkplatz am Fuße des Berges abholte.

Der Chinook flog das Team so weit nach Norden, wie es die Bewölkung gestattete, und setzte es auf einem kleinen Flugfeld westlich von Burlington ab. Der Lastwagen war eine Stunde früher losgefahren, und sie kamen fast gleichzeitig an.

Von Burlington schlängelte sich die Interstate 20 durch die unwirtliche Landschaft am Skagit River entlang in die Cascades. Diese Straße ist im Winter geschlossen und darf nur von behördlichen und speziell ausgerüsteten Fahrzeugen befahren werden, aber der Mannschaftstransporter der Special Forces war für alle bekannten und ein paar noch nicht erfundene Arten von Gelände eingerichtet. Trotzdem kamen sie nur langsam voran. Sie brauchten vier Stunden, bis der erschöpfte Fahrer den Lastwagen knirschend in die Kleinstadt Mazama rollen ließ.

Das CIA-Team, das sie vorfanden, war ebenfalls erschöpft, aber zumindest waren ihre verletzten Kollegen jetzt, mit Morphin versorgt, in einem richtigen Krankenwagen auf dem Weg nach Süden, wo ein Hubschrauber sie aufnehmen und ins Tacoma Memorial Hospital fliegen würde.

Olsen berichtete Captain Linnett so viel, wie er für nötig hielt. Linnett erklärte gereizt, er sei Geheimnisträger, und bestand darauf, Genaueres zu erfahren.

»Dieser Flüchtling – hat er Polarkleidung und Stiefel?«

»Nein. Feste Schuhe, warme Hose, eine leichte Steppjacke.«

»Keine Skier oder Schneeschuhe? Ist er bewaffnet?«

»Nein.«

»Es ist schon dunkel. Hat er eine Nachtsichtbrille? Irgendetwas, womit er sich im Gelände bewegen kann?«

»Nein, ganz sicher nicht. Er war Einzelhäftling in einer Hochsicherheitszelle.«

»Dann ist er erledigt«, sagte Linnett. »Bei diesen Temperaturen, ohne Kompass im meterhohen Schnee, läuft er im Kreis. Wir kriegen ihn.«

»Da ist nur eins. Er ist ein Mann aus den Bergen. Dort geboren und aufgewachsen.«

»Hier in der Gegend?«

»Nein. In Tora Bora. Er ist Afghane.«

Linnett starrte ihn verblüfft an. Er hatte in Tora Bora gekämpft. Er war bei der ersten Invasionswelle dabei gewesen, als die britischen und amerikanischen Special Forces der Koalitionstruppen durch die Berge der Spin Ghar gestreift waren und eine flüchtige Gruppe von Saudi-Arabern gesucht hatten, von denen einer einen Meter neunzig groß war. Und er war noch einmal da gewesen und hatte an der Operation Anaconda teilgenommen. Auch die war schlecht gelaufen. Bei Anaconda waren ein paar gute Männer verloren gegangen. Mit Paschtunen aus Tora Bora hatte Linnett noch eine Rechnung zu begleichen.

»Aufsitzen«, rief er, und das Team Alpha stieg wieder in den Lastwagen, der sie zum Hart's Pass hinauffahren würde. Von dort an würde es weitergehen wie vor dreitausend Jahren: auf Skiern und Schneeschuhen.

Als sie abrückten, kam über das Funkgerät des Sheriffs die Meldung, dass die beiden Piloten gefunden und evakuiert worden waren, stark unterkühlt, aber lebend. Sie waren jetzt im Krankenhaus in Seattle. Das war eine gute Nachricht, doch für einen Mann namens Lemuel Wilson kam sie ein bisschen zu spät.

 

Die angloamerikanischen Schifffahrtsexperten, die Operation Crowbar übernommen hatten, konzentrierten sich immer noch auf die Möglichkeit Nummer eins: dass al-Qaida planen könnte, eine lebenswichtige internationale Wasserstraße zu schließen.

In diesem Fall käme es entscheidend auf die Größe des Schiffes an. Die Ladung war ohne Bedeutung, einmal abgesehen davon, dass auslaufendes Öl die Arbeit von Abwracktauchern unmöglich machen würde. Nachfragen wanderten rund um den Globus; ihr Ziel war es, jedes Schiff oberhalb einer bestimmten Tonnage-Grenze auf den Weltmeeren zu erfassen.

Natürlich, je größer ein solches Schiff ist, desto weniger gab es von seiner Sorte, und die meisten gehörten respektablen und gigantischen Konzernen. Die fünfhundert landläufig als »Supertanker« bekannten Schiffe wurden überprüft und als ungefährdet erkannt. Danach wandte man sich in Zehntausend-Tonnen-Schritten den kleineren Frachtern zu. Als alle Schiffe von mehr als 50000 Bruttoregistertonnen für unbedenklich befunden waren, ließ die »Blockadepanik« allmählich nach.

Das Lloyd's Register ist wahrscheinlich immer noch das umfassendste Archiv der Welt. Das Team in Edzell richtete eine Standleitung zu Lloyd's ein, die ständig offen blieb. Auf den Rat von Lloyd's konzentrierte man sich auf Schiffe, die unter Billigflaggen fuhren, in zwielichtigen Häfen beheimatet waren oder suspekten Reedereien gehörten. Lloyd's und die Antiterror-Abteilung des Secret Intelligence Service in Zusammenarbeit mit der CIA belegten mehr als zweihundert Schiffe mit einem Küstenannäherungsverbot, ohne dass ihre Kapitäne oder Reedereien etwas davon wussten. Aber noch immer tauchte am Horizont nichts auf, was die Alarmglocken schrillen ließ.

 

Captain Linnett kannte die Berge und wusste, dass ein Mann ohne spezielles Schuhwerk, der versuchte, durch den hohen Schnee, durchsetzt von unsichtbaren Baumstümpfen, Wurzeln, Spalten, Gräben und Bachläufen voranzukommen, nicht mehr als eine klägliche halbe Meile in der Stunde zurücklegen würde.

Ein solcher Mann würde wahrscheinlich durch den verharschten Schnee in ein Wasserrinnsal brechen, und dann würde – bei nassen Füßen – seine Körpertemperatur in alarmierendem Tempo sinken, was zu Unterkühlung und Erfrierungen an den Zehen führen würde.

Olsens Nachricht aus Langley ließ keinen Platz für Zweifel: Unter keinen Umständen durfte der Flüchtling Kanada oder auch nur ein funktionierendes Telefon erreichen.

Linnett war seiner Sache ziemlich sicher. Ohne Kompass würde der Flüchtling im Kreis herumlaufen. Bei jedem zweiten Schritt würde er stolpern und fallen. In der Dunkelheit unter den Bäumen konnte er nichts sehen; selbst wenn der Mond nicht hinter einer zwanzigtausend Fuß dicken Eiswolkendecke verborgen gewesen wäre, hätte er hier nicht durchdringen können.

Schön, der Mann hatte fünf Stunden Vorsprung, aber selbst wenn er sich in gerader Linie voranbewegte, würde er nicht mehr als drei Meilen zurückgelegt haben. Auf Skiern konnten die Männer der Special Forces das Dreifache schaffen, und wenn Felsen und Baumstümpfe sie zwangen, Schneeschuhe zu benutzen, wären sie immer noch doppelt so schnell wie der Flüchtling.

Was die Skier anging, hatte er Recht. Vom Ende der Piste, wo der Lastwagen sie absetzte, bis zu der zerstörten CIA-Hütte brauchte er weniger als eine Stunde. Er und seine Männer untersuchten sie kurz, um festzustellen, ob der Flüchtige zurückgekehrt war und sich eine bessere Ausrüstung geholt hatte, aber darauf wies nichts hin. Die beiden Toten lagen steif gefroren mit auf der Brust gefalteten Händen aufgebahrt in der Kantine, wo sie vor streunenden Tieren sicher waren. Sie würden warten müssen, bis die Wolkendecke sich hob und ein Hubschrauber landen konnte.

In einem »A«-Team sind zwölf Mann. Linnett war der einzige Offizier, seine Nummer zwei war ein Unteroffizier. Die übrigen zehn waren erfahrene Soldaten, und der Rangniedrigste war ein Staff Sergeant. Zwei von ihnen waren Pioniere (und Experten für Sprengungen), zwei waren Funker, zwei Sanitäter, einer Team Sergeant (mit zwei Spezialgebieten), einer Nachrichtensergeant und zwei Scharfschützen. Während Linnett in der zerstörten Hütte war, suchte sein Team Sergeant, der ein erfahrener Spurenleser war, den Boden ringsum ab.

Der drohende Neuschnee war nicht gefallen; das Gelände um den Hubschrauberlandeplatz und vor dem Vordereingang war ein Gewirr von Schneeschuhspuren. Aber von der geborstenen Hofmauer führte eine einzelne Fußspur in Richtung Norden.

Zufall?, fragte sich Linnett. Es war genau die Richtung, die der Flüchtige unter keinen Umständen einschlagen durfte. Sie führte nach Kanada, das zweiundzwanzig Meilen weit entfernt war. Doch für den Afghanen bedeutete das einen Fußmarsch von vierundvierzig Stunden. Er würde es niemals schaffen, selbst wenn es ihm gelänge, in gerader Linie zu marschieren. Auf halbem Wege würde das Alpha-Team ihn schnappen.

Die nächste Meile zurückzulegen dauerte eine Stunde auf Schneeschuhen. Dann fanden sie die andere Hütte. Niemand hatte je von den zwei oder drei Hütten gesprochen, die in der Pasayten Wilderness stehen durften, weil sie in der Zeit vor dem Bauverbot errichtet worden waren. Und in diese hier war eingebrochen worden. Die zerbrochene Dreifach-Verglasung und der Stein, der neben den Scherben lag, ließen keinen Zweifel daran.

Captain Linnett ging als Erster hinein, den entsicherten Karabiner im Anschlag. Durch die eingeschlagene Fensterscheibe gaben zwei Mann ihm Deckung. Nach weniger als einer Minute stand fest, dass niemand da war, weder in der Hütte noch im benachbarten Holzschuppen, noch in der leeren Garage. Aber die Spuren waren überall. Linnett versuchte das Licht einzuschalten, doch der Strom wurde offenbar durch einen Generator erzeugt, wenn der Eigentümer hier war, und das Gerät stand abgeschaltet hinter der Garage. Sie waren auf ihre Taschenlampen angewiesen.

Neben dem großen Kamin im Wohnzimmer lagen eine Schachtel Streichhölzer und ein paar lange Kienspäne, um die Holzscheite auf dem Rost anzuzünden, und für den Fall, dass der Generator ausfiel, war auch ein dickes Bündel Kerzen da. Der Einbrecher hatte beides benutzt, um sich zurechtzufinden. Captain Linnett wandte sich an einen der beiden Funker.

»Treiben Sie den Sheriff auf, und stellen Sie fest, wem die Bude gehört«, befahl er und fing an, sich umzusehen. Anscheinend war nichts beschädigt, aber alles war durchsucht worden.

»Ein Chirurg aus Seattle«, meldete der Sergeant. »Macht im Sommer hier Urlaub und schließt im Herbst ab.«

»Name und Telefonnummer. Er muss beides beim Sheriff hinterlassen haben.« Als der Sergeant diese Informationen erhalten hatte, bekam er den Befehl, mit Fort Lewis Verbindung aufzunehmen; dort sollte man den Arzt zu Hause in Seattle anrufen und per Funk zur Hütte weiterverbinden. Dass es sich um einen Chirurgen handelte, war ein glücklicher Zufall: Chirurgen haben Piepser für Notfälle. Und diese Situation war einer.

 

Das Geisterschiff kam nicht einmal in die Nähe von Surabaya. Es gab dort keine Ladung teurer Seidenstoffe, und die sechs Scheincontainer standen ja bereits auf dem Vorderdeck der Countess of Richmond.

Sie nahm die Südroute an Java vorbei, passierte die Weihnachtsinsel und fuhr hinaus in den Indischen Ozean. Für Mike Martin wurde die Routine an Bord zu einem Ritual.

Der psychopathische Ibrahim blieb die meiste Zeit in seiner Kabine und war zum Glück fast immer seekrank. Der Ingenieur kümmerte sich um seine Maschinen, die auf vollen Touren liefen. Der Dieselverbrauch spielte keine Rolle – da, wo die Countess hinfuhr, brauchte sie keinen Treibstoff für die Rückfahrt.

Martin hatte noch immer keine Antwort auf die beiden entscheidenden Fragen. Wohin fuhr das Schiff, und welche Sprengkraft lag unter seinen Decks? Niemand schien es zu wissen, vielleicht mit Ausnahme des Chemieingenieurs. Aber der redete nie darüber, und das Thema wurde nicht angesprochen.

Der Funker hörte den Äther ab, wobei er von einer Suchaktion erfahren haben musste, die sich über den ganzen Pazifik erstreckte und an der Straße von Hormuz und am Suezkanal stattfand. Vielleicht berichtete er Ibrahim davon, aber den andern gegenüber erwähnte er es nicht.

Die anderen fünf Männer aßen abwechselnd in der Kombüse Teller um Teller Konservenmahlzeiten und wechselten sich auch am Steuer ab. Der Steuermann gab den Kurs vor, zuerst lange nach Westen und dann nach Südwesten, zum Kap der Guten Hoffnung.

Sie beteten fünfmal am Tag, wie die Schrift es verlangte, lasen im Koran und starrten auf das Meer hinaus.

Martin dachte daran, das Schiff in seine Gewalt zu bringen. Er hatte keine Waffe; allenfalls konnte er ein Küchenmesser stehlen, und er würde sieben Männer töten müssen, von denen einer – Ibrahim – vermutlich mindestens eine, vielleicht mehrere Schusswaffen besaß. Außerdem waren die Männer vom Maschinenraum bis zur Funkerkabine auf dem Vorderkastell verteilt. Wenn sie sich einem klar erkennbaren Ziel an der Küste näherten, würde er es versuchen müssen, das wusste er. Aber solange sie auf dem Indischen Ozean waren, musste er abwarten.

Er wusste nicht, ob seine Nachricht in der Tauchertasche gefunden oder ungelesen auf irgendeinen Dachboden gewandert war, und er wusste nicht, dass er eine weltumspannende Schiffssuche ausgelöst hatte.

 

»Hier ist Dr. Berenson. Mit wem spreche ich?«

Michael Linnett nahm das Mikro von dem Set auf dem Rücken des Sergeants und log: »Ich gehöre zum Büro des Sheriffs in Mazama. Im Augenblick bin ich bei Ihrer Hütte in der Wilderness. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass hier eingebrochen wurde.«

»Verflucht, nein. Ist was beschädigt worden?«, fragte die blecherne Stimme aus Seattle.

»Er hat das große Vorderfenster mit einem Stein eingeschlagen, Doktor. Das scheint der einzige Schaden am Gebäude zu sein. Jetzt geht es darum, ob etwas gestohlen wurde. Haben Sie Schusswaffen in der Hütte?«

»Auf keinen Fall. Ich habe zwei Jagdgewehre und eine Schrotflinte, aber die nehme ich mit, wenn ich im Herbst wegfahre.«

»Okay. Und Kleidung? Haben Sie einen Schrank mit schweren Wintersachen?«

»Ja. Da ist ein begehbarer Wandschrank neben der Schlafzimmertür.«

Captain Linnett nickte seinem Team Sergeant zu, der mit einer Taschenlampe vorausging. Der geräumige Schrank war voll von Wintersachen.

»Da sollten ein Paar arktistaugliche Schneestiefel sein, eine gesteppte Hose und ein Parka mit Reißverschlusskapuze.«

Alles weg.

»Skier oder Schneeschuhe?«

»Na klar, beides. Im selben Schrank.«

Ebenfalls weg.

»Irgendwelche Waffen? Ein Kompass?«

Das große Bowiemesser hätte in seiner Scheide an der Schranktür hängen und Kompass und Taschenlampe hätten in einer Schreibtischschublade liegen müssen. Alles war weg. Außerdem hatte der Flüchtling die Küche geplündert, aber frische Lebensmittel waren nicht da gewesen. Eine kürzlich geöffnete, leere Dose Baked Beans stand neben dem Dosenöffner auf der Arbeitsplatte, und zwei leere Sodadosen waren auch da. Ein leeres Gurkenglas war noch vor kurzem voll mit Vierteldollarmünzen gewesen, aber das wusste niemand.

»Danke, Doc. An Ihrer Stelle würde ich, sobald das Wetter aufklart, mit einem Glaser herkommen, das Fenster reparieren lassen und den Schaden der Versicherung melden.«

Der Alpha-Commander trennte die Verbindung und sah sich nach seiner Einheit um.

»Weiter.« Mehr sagte er nicht. Er wusste, dass die Hütte und das, was der Afghane daraus entwendet hatte, die Chancen seines Teams verschlechtert hatten. Vielleicht standen sie jetzt sogar gegen ihn und seine Männer. Er schätzte, dass der Flüchtige, der über eine Stunde in der Hütte verbracht haben musste – während Linnett dreißig Minuten hier gewesen war –, zwei oder drei Stunden Vorsprung hatte, aber jetzt viel schneller vorankam.

Linnett schluckte seinen Stolz hinunter und beschloss, die Kavallerie zu Hilfe zu rufen. Er befahl eine Pause und sprach wieder mit Fort Lewis.

»Sagen Sie McChord, ich will einen Spectre, und zwar sofort. Ziehen Sie jede Autorität hinzu, die Sie brauchen – das Pentagon, wenn es sein muss. Ich will ihn über den Cascades haben, und ich will eine direkte Verbindung zu ihm.«

Während sie darauf warteten, dass ihr neuer Verbündeter erschien, marschierten die Männer von Alpha 143 mit hohem Tempo weiter. Der Spurenleser ging an der Spitze; seine Taschenlampe beleuchtete die Spuren der Schneeschuhe im gefrorenen Schnee. Sie gaben ihr Letztes, schleppten jedoch viel mehr Ausrüstung mit sich als der Mann vor ihnen. Linnett schätzte, dass sie mit ihm Schritt hielten, aber holten sie auf?

Dann fing es an zu schneien. Das war ein Segen und ein Fluch zugleich. Trügerisch sanft wehten die Flocken von den Nadelbäumen. Sie bedeckten Steine und Baumstümpfe und ermöglichten es den Männern, in einer kurzen Marschpause von Schneeschuhen auf Skier zu wechseln. Aber sie deckten auch die Spur zu.

Linnett brauchte eine leitende Hand vom Himmel, und sie kam kurz nach Mitternacht in Gestalt einer Lockheed Martin AC-130 Hercules, die auf 20000 Fuß Höhe über der Wolkendecke kreiste, allerdings durch sie hindurchschauen konnte.

Unter den vielen Spielzeugen, die den Special Forces zur Verfügung stehen, ist die Spectre aus der Sicht des Feindes am Boden ungefähr das Abscheulichste, was es gibt.

Die ursprüngliche Hercules-Transportmaschine wurde ausgekernt und ihre Innereien durch ein von der Nase bis zum Schwanz reichendes Arrangement von Technologie ersetzt, die dazu dient, den Feind am Boden zu orten, anzuvisieren und zu töten – für diesen eine schlechte Nachricht im Wert von zweiundsiebzig Millionen Dollar.

In ihrer hauptsächlichen Funktion des Ortens ist sie nicht abhängig von Tageslicht oder Dunkelheit, Wind oder Regen, Schnee oder Hagel. Die Firma Raytheon ist so freundlich, ein Synthetic Aperture Radar und ein Infrarot-Sichtgerät zur Verfügung zu stellen, das jede Gestalt in der Landschaft erkennt, die Körperwärme abstrahlt. Und das Bild, das es liefert, ist kein verschwommener Klecks; es ist so deutlich, dass man zwischen vierbeinigen und zweibeinigen Geschöpfen unterscheiden kann. Nur mit dem verrückten Mr. Lemuel Wilson konnte es trotzdem nichts anfangen.

Auch er hatte eine Hütte, dicht außerhalb der Pasayten Wilderness, an den unteren Hängen des Mount Robinson. Aber anders als der Arzt in Seattle war er stolz auf seine Fähigkeit, dort oben zu überwintern, denn er hatte kein Zuhause in der Großstadt, wohin er sich hätte zurückziehen können.

Also überlebte er ohne elektrischen Strom; er heizte mit einem lodernden Holzfeuer, und sein Licht kam von Kerosinlampen. Im Sommer ging er auf die Jagd und trocknete das Fleisch streifenweise an der Luft, um es im Winter zu essen. Er schlug sein Holz selbst und sammelte das Futter für sein zähes Bergpony. Aber er hatte noch ein Hobby.

Mit seiner CB-Funkausrüstung, gespeist durch einen winzigen Generator, hörte er in den Winterstunden die Frequenzen des Sheriffs, der Notdienste und der öffentlichen Einrichtungen ab. So erfuhr er, dass zwei Flieger in der Wilderness gelandet waren und professionelle Bergungstrupps sich zu ihnen durchschlugen.

Lemuel Wilson bezeichnete sich gern selbst als »engagierten Bürger«. Wie so oft in solchen Fällen bevorzugten die Behörden für sein Engagement die Bezeichnung »lästige Einmischerei«. Kaum hatten die beiden Piloten ihre Lage bekannt gegeben und die Behörden ihre genaue Position ermittelt, hatte Lemuel Wilson sein Pony gesattelt und war losgeritten. Er hatte sich vorgenommen, die Südhälfte der Wilderness bis zum Nationalpark zu durchqueren und Major Duval zu retten.

Seine Funkausrüstung war zu sperrig, um sie mitzunehmen, und deshalb erfuhr er nicht, dass die beiden Flieger gerettet worden waren. Menschlichen Kontakt fand er jedoch trotzdem.

Er sah den Mann nicht kommen. Gerade noch trieb er sein Pferd auf eine ungewöhnlich hohe Schneewehe zu, und im nächsten Moment erhob sie sich und kam ihm entgegen. Die Schneewehe war ein Mann in einem gesteppten Anzug aus silbrigem Raumfahrtmaterial.

Das Bowiemesser hatte nichts Raumfahrtmäßiges an sich. Erfunden um die Zeit der Belagerung von Alamo, war es immer noch sehr effizient. Ein Arm schlang sich um Wilsons Hals und riss ihn vom Pferd, und noch während er fiel, drang die Klinge von hinten zwischen seine Rippen und ins Herz.

Ein Infrarot-Suchgerät ist dazu da, Körperwärme aufzuspüren, aber Lemuel Wilsons Leichnam, der in einer Spalte lag, zehn Schritte neben der Stelle, an der er gestorben war, kühlte sehr schnell ab. Als die AC-130 Spectre dreißig Minuten später über den Cascades zu kreisen begann, erschien Lemuel Wilson nicht auf ihren Monitoren.

»Hier Spectre Echo Foxtrott, ich rufe Team Alpha, hören Sie mich, Alpha?«

»In Stärke fünf«, antwortete Captain Linnett. »Wir sind zwölf Mann auf Skiern hier unten. Sehen Sie uns?«

»Lächeln Sie freundlich, und ich mache ein Foto von Ihnen«, sagte der Infrarot-Techniker vier Meilen hoch über ihnen.

»Darüber lache ich später«, erwiderte Linnett. »Ungefähr drei Meilen weit nördlich von uns ist ein entlaufener Häftling. Ein einzelner Mann auf Skiern, unterwegs in Richtung Norden. Bestätigen Sie das?«

Es folgte eine Pause, eine lange Pause.

»Negativ. Nichts zu sehen«, sagte die Stimme vom Himmel dann.

»Er muss da sein«, widersprach Linnett. »Er ist da irgendwo vor uns.«

Die letzten Ahornbäume und Lärchen lagen weit hinter ihnen, und sie stiegen einen kahlen Geröllhang hinauf. Der Schnee fiel senkrecht auf sie herab, ungefiltert vom Astwerk. Weit hinter ihnen lagen Lake Mountain und Monument Peak. Die Männer sahen aus wie Gespenster, weiße Zombies in einer weißen Landschaft. Wenn Linnett mit seinen Männern mühsam vorankam, ging es dem Afghanen genauso. Und dafür, dass es kein Infrarot-Bild von ihm gab, konnte es nur eine Erklärung geben: Der Afghane war in einer Höhle oder in einem Schneeloch untergekrochen, sodass seine Körperwärme nicht nach oben dringen konnte. In diesem Fall aber holte Linnett den Vorsprung des Flüchtigen auf. Die Skier glitten leicht über die Bergflanke auf ein weiteres Waldgebiet zu.

Die Spectre hatte Linnetts Position bis auf einen Meter genau erfasst. Noch zwölf Meilen bis zur kanadischen Grenze. Noch fünf Stunden bis zur Morgendämmerung – oder das, was in diesem Land aus Schnee, Bergen, Felsen und Bäumen als Morgendämmerung gelten konnte.

Linnett schätzte, dass es noch eine Stunde dauern würde. Die Spectre kreiste und spähte, aber sie sah nichts, was sie hätte melden können.

»Checken Sie noch mal«, verlangte Captain Linnett. Allmählich schwante ihm, dass etwas schiefgegangen war. War der Afghane hier oben gestorben? Möglich; das würde die Abwesenheit jeder Wärmeabstrahlung erklären. Oder hockte er in einer Höhle? Auch möglich, doch dann würde er bald herauskommen und laufen, wenn er nicht darin sterben wollte. Und dann …

Izmat Khan hatte das energische, aber müde Pferd vom Geröllhang in den Wald getrieben und hatte seinen Vorsprung in Wahrheit vergrößern können. Der Kompass sagte ihm, dass er immer noch nach Norden ritt, und es ging bergauf.

»Ich scanne einen Bogen von neunzig Grad mit Ihnen im Zentrum«, meldete der Späher. »Bis hinauf zur Grenze. Innerhalb dieses Bogensegments sehe ich acht Tiere. Vier Rehe, zwei Schwarzbären, die sehr schwach zu erkennen sind, weil sie in tiefer Deckung im Winterschlaf liegen. Dann etwas, das aussieht wie ein streunender Berglöwe, und einen einzelnen Elch, der nach Norden wandert. Ungefähr vier Meilen vor Ihnen.«

Die Arktiskleidung des Chirurgen war einfach zu gut. Das Pferd schwitzte vor Erschöpfung und war deutlich zu erkennen, aber der Mann, der darauf saß und sich über seinen Hals beugte, um es anzutreiben, war mit seiner wärmeisolierenden Kleidung so gut getarnt, dass er mit dem Tier verschmolz.

»Sir«, sagte einer der Pionier-Sergeants, »ich bin aus Minnesota.«

»Heben Sie sich Ihre Probleme für den Militärpfarrer auf«, blaffte Linnett.

»Ich will nur sagen, Sir«, fuhr das schneeverkrustete Gesicht neben ihm fort, »dass Elche bei solchem Wetter nicht auf die Berge hinaufziehen. Sie kommen in die Täler und suchen Flechten. Das kann kein Elch sein.«

Linnett ließ halten. Den Männern war es willkommen. Er starrte in das Schneetreiben vor ihnen. Wie der Mann das geschafft hatte, war Linnett schleierhaft. Vielleicht noch eine einsame Hütte, mit einem Idioten, der dort überwinterte und einen Stall hatte. Irgendwie hatte der Afghane sich ein Pferd beschafft und ritt ihm davon.

Vier Meilen vor ihm, im tiefen Wald, geriet Izmat Khan, der Lemuel Wilson aufgelauert hatte, selbst in einen Hinterhalt. Der Puma war alt und ein bisschen zu langsam für Rehe, aber er war schlau und sehr hungrig. Er kam von einem Felsen zwischen den Bäumen herunter. Das Pferd hätte ihn gewittert, wenn es nicht so erschöpft gewesen wäre.

Ehe der Afghane sich versah, hatte etwas Schnelles, Braunes das Pony angefallen, das seitwärts zusammenbrach. Der Reiter hatte gerade noch Zeit, Wilsons Jagdgewehr aus der Scheide neben dem Sattelknauf zu reißen und sich rückwärts aus dem Sattel fallen zu lassen. Er landete, drehte sich um, zielte und schoss.

Es war sein Glück gewesen, dass der Berglöwe es auf das Pferd und nicht auf ihn selbst abgesehen hatte, aber er hatte sein Reittier verloren. Es lebte noch, doch 135 Pfund wütende Muskeln mit scharfen Klauen hatten ihm Hals und Schulter aufgerissen. Es würde nicht mehr aufstehen. Mit einer zweiten Kugel erlöste er es von seinen Qualen. Das Pferd sank zusammen, halb über den Kadaver des Berglöwen. Den Afghanen interessierte es nicht, dass Oberkörper und Vorderbeine der Katze unter dem Pferd lagen.

Er hakte die Schneeschuhe vom Sattel, schnallte sie unter seine Stiefel, hängte das Gewehr über die Schulter und warf einen Blick auf den Kompass. Hundert Schritte weiter war ein großer Felsüberhang. Er kauerte sich darunter, um eine kurze Pause zu machen. Er wusste es nicht, aber für das Infrarot-Sichtgerät war er hier unsichtbar.

»Schießen Sie den Elch ab«, befahl Captain Linnett. »Ich glaube, das ist ein Pferd mit dem Flüchtigen.«

Der Späher betrachtete das Bild auf seinem Monitor genauer.

»Sie haben Recht«, sagte er. »Ich erkenne sechs Beine. Er macht Pause. In der nächsten Runde ist er erledigt.«

Die Vernichtungskraft der Spectre wird durch drei Systeme gesichert. Das schwerste ist die M102-15-mm-Haubitze, deren Feuerkraft an einen einzelnen Menschen eher verschwendet wäre.

Als Nächstes kommt die 40-mm-Bofors-Kanone, die vor langer Zeit aus der schwedischen Flugabwehrwaffe entwickelt wurde, ein schnelles Repetiergeschütz, stark genug, um Gebäude oder Panzer in Stücke zu schießen. Als die Besatzung der Spectre erfuhr, dass ihr Ziel ein Mann auf einem Pferd war, entschied sie sich für das GAU-12/U-Gatling-Bordkanone. Diese schreckliche Waffe feuert 1800 Schuss in der Minute ab, und jedes einzelne der 25-mm-Geschosse kann einen menschlichen Körper auseinanderreißen. Richtet man das intensive Feuer der fünf rotierenden Läufe auf ein Football-Feld, wird nach dreißig Sekunden nichts Größeres als eine Haselmaus am Leben sein. Und die Maus wird bald darauf am Schock verenden.

Die Maximalhöhe für den Einsatz der Bordkanone ist zwölftausend Fuß; also sank die Spectre im Kreisflug auf zehntausend, visierte das Ziel an und feuerte zehn Sekunden lang – insgesamt dreihundert Kugeln auf den Pferdekadaver im Wald.

»Da ist nichts mehr«, meldete der Späher. »Mann und Pferd sind weg.«

»Danke, Echo Foxtrott«, sagte Linnett. »Wir übernehmen.« Die Spectre hatte ihre Mission erfüllt und kehrte nach McChord zurück.

Es hörte auf zu schneien. Die Skier glitten zischend über den neuen Pulverschnee, und sie kamen so schnell voran, wie ein trainierter Athlet auf Skiern vorankommen kann. Dann stieß das Alpha Team auf die Überreste des Pferdes. Wenige Fetzen waren größer als ein Männerarm, aber es waren die Reste eines Pferdes, nicht die eines Menschen. Mit Ausnahme der Fetzen von braunem Fell.

Linnett suchte zehn Minuten lang nach Resten von Arktiskleidung, Stiefeln, Schenkelknochen, Bowiemesser, Bart oder Schneeschuhen.

Die Skier lagen da, einer davon zerbrochen. Das hatte das Pferd beim Sturz getan. Eine Lammfellhülle war da, aber kein Gewehr. Keine Schneeschuhe, kein Afghane.

Noch zwei Stunden bis zur Morgendämmerung, und jetzt war es zu einem Wettrennen geworden. Ein Mann auf Schneeschuhen gegen zwölf Männer auf Skiern. Alle erschöpft, alle verzweifelt. Das Alpha Team hatte ein GPS-System. Als der Himmel im Osten kaum merklich heller wurde, bemerkte der Team Sergeant: »Eine halbe Meile bis zur Grenze.«

Zwanzig Minuten später waren sie auf einer Anhöhe und schauten in ein Tal hinunter, das von links nach rechts verlief. Ein Holzweg, der dort unten entlangführte, markierte die kanadische Grenze. Auf der Höhe gegenüber war eine Lichtung mit ein paar Blockhütten, in die kanadische Holzfäller ziehen würden, wenn der Winter vorüber war.

Linnett hockte sich hin, stützte die Ellenbogen auf und suchte die Landschaft mit dem Fernglas ab. Nichts regte sich. Das Licht nahm zu.

Unaufgefordert zogen seine Scharfschützen ihre Waffen aus den Scheiden, in denen sie während der ganzen Mission gesteckt hatten, setzten die Zielfernrohre auf und schoben eine Patrone in die Kammer. Dann legten sie sich bäuchlings hin und spähten durch ihre Teleskope über das Tal hinweg zur anderen Seite.

Nach soldatischen Maßstäben sind Scharfschützen eine sonderbare Gattung. Sie kommen niemals in die Nähe der Menschen, die sie töten, aber sie sehen sie mit größerer Klarheit und scheinbar größerer Nähe als irgendjemand sonst in der heutigen Zeit. Den Kampf Mann gegen Mann gibt es so gut wie nicht mehr, und die meisten Soldaten sterben nicht durch die Hand des Feindes, sondern durch seinen Computer. Sie werden von einer Rakete zerfetzt, die auf einem anderen Kontinent oder irgendwo unter der Meeresoberfläche abgefeuert wird. Sie werden von einer Smart Bomb aus einem Flugzeug vernichtet, das so hoch fliegt, dass sie es weder sehen noch hören. Sie sterben, weil jemand im übernächsten Land eine Granate abschießt. Da, wo die Nähe am größten ist, kauern die Tötenden hinter einem Maschinengewehr in einem herabstoßenden Hubschrauber und sehen ihre Opfer als undeutliche Gestalten, die rennen und versuchen, sich zu verstecken oder zurückzuschießen – aber nicht als Menschen.

Doch so sieht sie der Scharfschütze. Völlig still, völlig stumm liegt er da und sieht sein Ziel als einen Mann mit Dreitagebart, einen Mann, der sich reckt und gähnt, der Bohnen aus einer Dose löffelt, den Reißverschluss an seiner Hose hochzieht oder einfach dasteht und ein Objektiv anstarrt, das eine Meile weit entfernt ist, sodass er es nicht einmal sieht. Und dann stirbt er. Scharfschützen sind etwas Besonderes, auch im Kopf.

Sie leben in einer eigenen Welt. So umfassend wird ihre Genauigkeitsbesessenheit, dass sie in ein Schweigen verfallen, in dem es nichts mehr gibt als das Gewicht von Projektilköpfen, die Triebkraft bestimmter Pulverladungen und die Frage, wie groß die Winddrift über eine gegebene Distanz sein wird, wie weit die Kugel über diese oder jene Strecke sinken wird und ob am Gewehr noch eine winzige Verbesserung vorgenommen werden kann.

Wie alle Spezialisten sind sie leidenschaftliche Verfechter rivalisierender Ausrüstungen. Manche Scharfschützen bevorzugen eine winzige Kugel wie die M700 für das Remington 308, ein Geschoss, das so klein ist, dass es mit einer ablösbaren Hülle versehen werden muss, damit es überhaupt durch den Lauf fliegt.

Andere halten sich an das M21, die Scharfschützenversion des M14-Sturmgewehrs. Das Schwerste ist das Barrett Light Fifty, ein Monstrum, das eine Kugel von der Größe eines menschlichen Zeigefingers mit einem so hohen Produkt aus Masse mal Beschleunigung über eine Meile fliegen lässt, dass sie einen menschlichen Körper explodieren lässt.

Ausgestreckt zu Captain Linnetts Füßen lag sein Erster Scharfschütze, Master Sergeant Peter Bearpaw, Sohn eines Santee Sioux und einer hispanischen Mutter. Er stammte aus den Slums von Detroit, und die Army war sein Leben. Er hatte hohe Wangenknochen und schräge Augen wie ein Wolf. Und er war der beste Scharfschütze bei den Ledernacken.

Was in seiner Ellenbeuge lag, als er über das Tal hinwegspähte, war das Cheyenne 408 von CheyTac in Idaho. Es war eine neuere Entwicklung als andere Gewehre, aber nach über dreitausend Schuss auf dem Schießstand war es die Waffe seiner Wahl. Ein Repetiergewehr mit Bolzensystem, was er bevorzugte, weil der harte Schlag des niederfahrenden Bolzens im Augenblick der Detonation für ein winziges Maß an zusätzlicher Stabilität sorgte.

Er hatte eine einzige, sehr lange und schlanke Patrone in die Kammer geschoben und die Spitze des Projektils geputzt und poliert, um auch die geringste Vibration während des Fluges auszuschließen. Über dem Verschluss saß ein Jim-Leathewood-Zielfernrohr mit vierundzwanzigfacher Vergrößerung.

»Ich habe ihn, Captain«, flüsterte er.

Dem Fernglas war der Flüchtige entgangen, aber das Zielfernrohr hatte ihn erfasst. Zwischen den Hütten auf der anderen Seite des Tales stand eine Telefonzelle. Drei Wände waren aus Holz, die vierte war eine Glastür.

»Groß, langes, zottiges Haar, buschiger Bart?«

»Roger.«

»Was macht er?«

»Er ist in einer Telefonzelle, Sir.«

Izmat Khan hatte wenig mit seinen Mitgefangenen in Guantanamo gesprochen, aber einer, mit dem er viele Monate im Einzelhaftblock verbracht hatte, war ein Jordanier gewesen, der Mitte der neunziger Jahre in Bosnien gekämpft hatte, bevor er als Ausbilder in die al-Qaida-Lager gekommen war. Er war ein Hardliner gewesen.

Als die Sicherheitsmaßnahmen während der Weihnachtszeit weniger streng gehandhabt wurden, stellten sie fest, dass sie von Zelle zu Zelle flüsternd miteinander sprechen konnten. »Wenn du jemals hier herauskommst«, hatte der Jordanier gesagt: »Ich habe einen Freund. Wir waren zusammen in den Lagern. Er ist zuverlässig, und er wird einem Wahren Gläubigen helfen. Sag ihm meinen Namen.«

So hatte er einen Namen und eine Telefonnummer. Izmat Khan wusste nicht, wo das Telefon stand. Er verstand wenig von den Komplexitäten des Selbstwählferndienstes, für den seine Vierteldollarmünzen wohl gereicht hätten, aber noch schlimmer war, dass er die Auslandsvorwahlen von Kanada nicht kannte. Also warf er eine Münze ein und fragte nach der Vermittlung.

»Welche Nummer möchten Sie anrufen?«, fragte die kanadische Telefonistin. Langsam und in stockendem Englisch nannte er die Ziffern, die er sich so gewissenhaft eingeprägt hatte.

»Das ist eine britische Nummer«, sagte die Vermittlung. »Benutzen Sie amerikanische Vierteldollarmünzen?«

»Ja.«

»Das ist zulässig. Werfen Sie acht ein, und ich verbinde Sie. Wenn Sie den Piepton hören, müssen Sie nachwerfen, falls Sie das Gespräch fortsetzen möchten.«

»Haben Sie das Ziel im Visier?«

»Ja, Sir.«

»Schießen Sie.«

»Er ist in Kanada, Sir.«

»Schießen Sie, Sergeant.«

Peter Bearpaw atmete langsam und tief ein und drückte ab.

Sein Distanzmesser zeigte 2100 Meter bei Windstille, weit über eine Meile.

Izmat Khan warf Münzen in den Schlitz. Er schaute nicht hoch. Die Glastür der Zelle zerbarst zu nadeldünnen Acrylsplittern, und die Kugel riss ihm den Hinterkopf weg.

Die Telefonistin war sehr geduldig. Der Mann in dem Holzfällercamp hatte nur zwei Vierteldollarmünzen eingeworfen, dann hatte er anscheinend den Hörer fallen lassen und die Telefonzelle verlassen. Irgendwann blieb ihr nichts anderes übrig, als die Verbindung zu trennen.

Weil ein Schuss über die Grenze eine heikle Angelegenheit war, wurde nie ein offizieller Bericht abgefasst.

Captain Linnett erstattete seinem Vorgesetzten Bericht, und der leitete die Information an Marek Gumienny in Washington weiter. Sonst erfuhr niemand etwas.

Der Leichnam wurde gefunden, als die Holzfäller nach dem Tauwetter zurückkehrten. Der baumelnde Telefonhörer war tot. Der Staatsanwaltschaft blieb nichts anderes übrig, als den Fall ungeklärt zu den Akten zu legen. Der Mann trug amerikanische Kleidung, aber in dieser Grenzregion war das nichts Besonderes. Er hatte keine Papiere bei sich, und in der Gegend kannte ihn niemand.

Die inoffizielle Vermutung der Staatsanwaltschaft war die, dass der Mann auf tragische Weise der verirrten Kugel eines Jägers zum Opfer gefallen war. Wieder jemand, der durch einen achtlosen Schützen oder einen Querschläger gestorben war. Der Tote wurde in einem namenlosen Grab bestattet.

Weil niemand südlich der Grenze Aufsehen erregen wollte, kam man nicht erst auf den Gedanken, nachzufragen, welche Nummer der Flüchtige hatte anrufen wollen. Die bloße Nachfrage hätte die Herkunft des Schusses preisgegeben. Also ließ man es bleiben.

Tatsächlich gehörte die Nummer, die er verlangt hatte, zu einem kleinen Apartment in der Nachbarschaft des Campus der Aston University in Birmingham. Dort wohnte Dr. Ali Aziz al-Khattab, und sein Telefon wurde vom britischen MI5 abgehört. Der Geheimdienst wartete nur auf genügend Beweismaterial, um eine Razzia und eine Festnahme zu rechtfertigen. Man würde es einen Monat später bekommen. Aber an jenem Morgen versuchte der Afghane den einzigen Mann westlich von Suez anzurufen, der den Namen des Geisterschiffs kannte.