SECHZEHN
Nach zwei Wochen begann die Begeisterung für die Jagd nach einem scheinbar unsichtbaren Geisterschiff allmählich abzuflauen, und die neue Stimmung kam aus Washington.
Wie viel Zeit, Mühe und Geld konnte man auf das unbestimmte Gekritzel auf einer Landing Card verwenden, die jemand auf einer Insel, von der man noch nie gehört hatte, in eine Tauchertasche gesteckt hatte? Marek Gumienny war nach London geflogen, um sich mit Steve Hill zu besprechen, als der Experte für maritimen Terrorismus, Sam Seymour, aus der Zentrale des Lloyd's Register in Ipswich angerufen und alles noch schlimmer gemacht hatte. Er hatte seine Meinung geändert. Hill beorderte ihn nach London, damit er eine Erklärung abgab.
»Im Rückblick«, sagte Seymour, »war die Möglichkeit, dass al-Qaida versuchen könnte, mit einem großen Schiff eine lebenswichtige Wasserstraße zu blockieren, um den Welthandel zu torpedieren, immer die wahrscheinlichste. Aber sie war nie die einzige.«
»Wieso glauben Sie jetzt, dass wir auf der falschen Fährte waren?«, fragte Marek Gumienny.
»Weil inzwischen jedes Schiff auf der Welt, das groß genug ist, um dieses Ziel zu erreichen, überprüft wurde. Und sie sind alle in Ordnung. Damit bleiben die Optionen zwei und drei, die beinahe identisch, aber auf unterschiedliche Ziele gerichtet sind. Ich glaube, wir sollten uns die Nummer drei ansehen: Massenmord in einer Küstenstadt. Bin Ladens öffentlicher Schwenk zu ökonomischen Zielen war vielleicht ein Täuschungsmanöver. Oder er hat es sich wieder anders überlegt.«
»Okay, Sam, überzeugen Sie mich. Steve und ich haben politische Herren, die entweder Resultate oder unseren Kopf fordem. Um was für ein Schiff kann es sich handeln, wenn es nicht um eine Blockade geht?«
»Im Bedrohungsfall Nummer drei geht es weniger um das Schiff als um die Ladung. Es braucht nicht groß zu sein, wenn nur die Ladung tödlich ist. Lloyd's hat eine spezielle Abteilung für gefährliche Frachten, denn natürlich ändert sich da die Versicherungsprämie.«
»Ein Munitionstransporter?«, fragte Hill. »Eine Großexplosion wie in Halifax?«
»Nach Auskunft der Experten explodiert militärische Munition nicht mehr auf diese Weise. Moderner Sprengstoff braucht eine machtvolle Provokation, um in der Hülse loszugehen. Eine Explosion in einer Feuerwerksfabrik hätte heutzutage schlimmere Folgen, aber auch die würde nicht annähernd die Bezeichnung ›spektakulär‹ verdienen, wie es bei 9/11 der Fall war. Der Chemie-Unfall in Bhopal war weit schlimmer, und das war Dioxin, ein tödliches Pflanzengift.«
»Also müsste ein Tanklaster mit Dioxin in die Park Avenue fahren und die Sache mit Semtex zu Ende bringen?«, schlug Hill vor.
»Aber solche Chemikalien werden bei Produktion und Lagerung streng bewacht«, wandte Gumienny ein. »Wie sollten sie an eine solche Ladung kommen, ohne dass man es bemerkt?«
»Und uns wurde ausdrücklich mitgeteilt, dass es sich um ein Schiff handelt«, sagte Seymour. »Bei der Entführung einer solchen Ladung käme es unverzüglich zu Gegenmaßnahmen.«
»Außer in manchen Teilen der Dritten Welt, die buchstäblich gesetzlos sind«, sagte Gumienny.
»Aber in diesen Gegenden werden keine ultraletalen Toxine mehr hergestellt, Sir. Nicht mal aus Gründen der Lohnkostenersparnis.«
»Also zurück zum Schiff«, meinte Hill. »Eine Explosion auf einem Öltanker?«
»Rohöl explodiert nicht«, gab Seymour zu bedenken. »Als die Torrey Canyon südwestlich der englischen Küste aufriss, brauchte man Phosphorbomben, um das Öl in Brand zu setzen und es abbrennen zu lassen. Ein gefluteter Öltanker würde nur ökologische Schäden, aber keinen Massenmord anrichten. Ein eher kleiner Gastanker könnte es dagegen schaffen. Flüssiggas, massiv komprimiert für den Transport.«
»Erdgas in flüssiger Form?«, fragte Gumienny. Er überlegte, wie viele Häfen in den USA flüssiges Gas für den Energiebedarf der Industrie importierten, und die Zahl war beunruhigend. Hafenanlagen dieser Art waren jedoch bestimmt meilenweit von stark besiedelten Gegenden entfernt.
»Flüssiges Erdgas ist schwer entzündlich«, antwortete Seymour. »Es wird bei minus hundertfünfundzwanzig Grad in speziellen doppelwandigen Schiffen transportiert. Selbst wenn jemand so ein Schiff in seine Gewalt bringen könnte, würde das Zeug stundenlang in die Atmosphäre strömen müssen, bevor es brennbar würde. Aber nach Auskunft der Fachleute gibt es eines, das ihnen eine Höllenangst macht: flüssiges Petroleumgas. Wenn man einen ziemlich kleinen Tanker binnen zehn Minuten nach einer Havarie anzündet, entspräche die Explosion der Sprengkraft von dreißig Hiroshima-Bomben. Das wäre dann wirklich die größte nichtnukleare Explosion in der Geschichte des Planeten.«
In dem Zimmer über der Themse herrschte Totenstille. Steve Hill stand auf, ging zum Fenster und schaute hinunter auf den Fluss, der in der Aprilsonne funkelte.
»Sagen Sie uns in einer für Laien verständlichen Sprache, was Sie uns mitzuteilen haben, Sam.«
»Ich glaube, wir haben das falsche Schiff auf dem falschen Ozean gesucht. Unser einziger Vorteil ist, dass es ein kleiner und sehr spezialisierter Markt ist. Aber der größte Importeur von flüssigem Petroleumgas sind die USA. Ich weiß, dass in Washington die Stimmung vorherrscht, es handle sich vielleicht um eine Phantomjagd. Ich finde jedoch, wir sollten den letzten Schritt noch tun. Die USA können jeden Petroleumgastanker überprüfen, der in ihren Gewässern erwartet wird, und nicht nur die aus Fernost. Man kann sie stoppen und an Bord gehen. Von Lloyd's kann ich weltweit jede Flüssiggasfracht in Erfahrung bringen.«
Marek Gumienny flog mit der nächsten Maschine zurück nach Washington. Er hatte an Besprechungen teilzunehmen und Arbeit zu erledigen. Als sein Flugzeug in Heathrow startete, fuhr die Countess of Richmond gerade um Kap Agulhas, Südafrika, in den Atlantik.
Sie war schnell vorangekommen, und ihr Steuermann, einer der drei Indonesier, schätzte, dass der Agulhasstrom und der nordwärts führende Benguelastrom ihr einen zusätzlichen Tag einsparen würden, sodass sie reichlich Zeit hätten, ihr Ziel zu erreichen.
Weiter draußen auf dem Meer vor dem Kap und auf dem Atlantik waren andere Schiffe aus dem Indischen Ozean unterwegs nach Europa und Nordamerika. Riesige Erzfrachter waren darunter, aber auch normale Frachter, die asiatische Waren in zunehmenden Mengen zu den beiden westlichen Kontinenten brachten, weil die dortigen Märkte ihre Produktion in die Niedriglohnbetriebe Asiens auslagern. Wieder andere waren Supertanker, die sogar für den Suezkanal zu groß waren. Ihre Computer folgten der Hundertfadenrinne von Osten nach Westen, während die Besatzung Karten spielte.
Sie alle wurden bemerkt. Hoch über ihnen, unsichtbar und vergessen, zogen die Satelliten durch den Weltraum, und ihre Kameras sandten jede Kontur ihrer Aufbauten und den Namen an ihrem Heck nach Washington. Und mehr noch: Nach der neuesten Gesetzgebung waren sie alle mit Transpondern ausgerüstet, die ihr individuelles Rufzeichen an die lauschenden Ohren übermittelten. Jedes so identifizierte Schiff wurde überprüft, auch die Countess of Richmond, für die sowohl Lloyd's als auch Abercrombie & Siebart bestätigten, dass sie ein in Liverpool beheimateter kleiner Frachter sei, der eine legale Fracht auf der vorgesehenen Route von Surabaya nach Baltimore brachte. Für die USA gab es keinen Grund für eingehendere Nachforschungen; sie war Tausende von Meilen weit von der amerikanischen Küste entfernt.
Wenige Stunden nach Marek Gumiennys Rückkehr nach Washington wurden die amerikanischen Vorsichtsmaßnahmen geändert. Im Pazifik wurde der Kontrollkordon auf einen Tausendmeilenstreifen vor der Küste verlagert. Ein gleicher Kordon reichte im Atlantik von Labrador bis Puerto Rico und quer durch die Karibik zur mexikanischen Halbinsel Yucatán.
Ohne großes Aufsehen verlegte sich das Interesse von den Riesentankern und -frachtern (die inzwischen ohnehin alle überprüft worden waren) auf die vielen Dutzend kleineren Tanker, die das Meer von Venezuela bis zum St.-Lorenz-Strom befahren. Jede verfügbare P-3 Orion wurde für die Küstenwache requiriert, und sie alle überflogen hunderttausende Quadratmeilen tropischer und subtropischer Gewässer und hielten Ausschau nach kleineren Tankern, vor allem nach Gastankern.
In vorbehaltloser Kooperation lieferte die amerikanische Industrie detaillierte Informationen über jede Fracht und darüber, wann und wo sie erwartet wurde. Gastanker durften erst in einen Hafen einlaufen, wenn sie zweihundert Meilen vor der Küste eine Abteilung der U. S. Navy, der Marineinfanterie oder der Küstenwache an Bord genommen hatten, die sie dann hineineskortierte.
Die Doña Maria war wieder in Port of Spain, als die beiden Terroristen, die zu ihrer Besatzung gehörten, das Signal sahen, das man ihnen angekündigt hatte. Und als sie es sahen, handelten sie befehlsgemäß.
Die Republik Trinidad und Tobago ist ein bedeutender Lieferant eines breiten Spektrums petrochemischer Produkte für die USA. Die Doña Maria lag vor der Ölinsel, einer Tankfarm, die von großen und kleinen Tankern angefahren werden konnte. Hier nahmen sie ihre Ladung an Bord und legten wieder ab, ohne sich je der Hafenstadt zu nähern.
Die Doña Maria gehörte zur Flotte der kleineren Tanker, die an solchen Inseln festmachen, deren Anlagen nicht auf Riesentanker eingerichtet sind. Die Giganten bringen venezolanisches Rohöl zu den auf dem Festland gelegenen Raffinerien, wo es zu diversen Produkten verarbeitet und dann durch eine Pipeline zu der Insel gepumpt wird, um weitertransportiert zu werden.
Zusammen mit zwei anderen kleineren Tankern lag die Doña Maria an einem entlegenen Teil der Ölinsel und nahm flüssiges Petroleumgas auf. Während des Beladens wollte niemand ihr näher als nötig kommen. Am Spätnachmittag war sie abgefertigt, und Kapitän Montalban machte sie zum Auslaufen bereit.
Ungefähr zwei Stunden des tropischen Tageslichts waren noch übrig, als die Leinen losgemacht wurden und sie ablegte. Eine Meile weit vor der Küste passierte sie ein starres Schlauchboot, in dem vier Männer mit Angelruten saßen. Das war das erwartete Signal.
Die beiden Inder verließen ihren Posten, liefen unter Deck zu ihren Spinden und holten ihre Pistolen. Der eine begab sich zur Mitte des Tankers, wo die Speigatten am tiefsten über dem Wasser lagen: Hier würden die Männer an Bord kommen. Der andere ging auf die Brücke und richtete die Mündung seiner Waffe auf Kapitän Montalbans Schläfe.
»Tun Sie bitte nichts, Kapitän«, sagte er mit großer Höflichkeit. »Sie brauchen die Fahrt nicht zu verlangsamen. Meine Freunde werden in ein paar Minuten an Bord kommen. Versuchen Sie nicht, einen Funkspruch abzusetzen, denn dann muss ich Sie erschießen.«
Der Kapitän war so verblüfft, dass er gehorchte. Als er sich wieder gefasst hatte, warf er einen Blick auf das Funkgerät an der Seite der Brücke, aber der Inder sah es und schüttelte den Kopf. Der Kapitän gab auf. Minuten später waren die vier anderen Terroristen an Bord, und jeder Widerstand war zwecklos.
Der Letzte, der das Schlauchboot verließ, schlitzte es mit einem Messer auf; es versank im Kielwasser, als die Leine gekappt war. Die drei anderen waren inzwischen mit ihren Segeltuchtaschen über das Spaghettigewirr von Rohren, Schläuchen und Tankventilen auf dem Vorschiff des Tankers gestiegen und auf dem Weg nach achtern.
Kurz darauf erschienen sie auf der Brücke: zwei Algerier und zwei Marokkaner, die Dr. al-Khattab einen Monat zuvor hergeschickt hatte. Sie sprachen nur nordafrikanisches Arabisch, aber die beiden Inder, höflich wie zuvor, übersetzten. Die vier südamerikanischen Besatzungsmitglieder wurden auf das Vorschiff geschickt, wo sie warten sollten. Als Nächstes würde man einen neuen Kurs berechnen.
Eine Stunde nach Einbruch der Dunkelheit wurden die vier Besatzungsmitglieder kaltblütig ermordet. Jedem wurde eine Kette um die Knöchel gewickelt, dann warf man sie über Bord. Wenn Kapitän Montalban noch einen Rest von Widerstandsgeist in sich gehabt hatte, war es jetzt damit vorbei. Die Exekutionen gingen mechanisch vonstatten; die beiden Algerier hatten in ihrer Heimat der Bewaffneten Islamischen Front angehört und Hunderte wehrloser Fellachen ermordet, ein Massenmord, der nichts weiter bezweckte, als ein Signal an die algerische Regierung zu senden. Männer, Frauen und Kinder, Kranke und Alte – sie hatten so viele getötet, dass vier Matrosen eine reine Formalität für sie waren.
Die Nacht hindurch fuhr die Doña Maria nach Norden, aber ihr Ziel war nicht mehr Puerto Rico. An ihrer Backbordseite lag das weite karibische Becken, das ununterbrochen bis Mexiko reichte. An Steuerbord, nicht allzu weit entfernt, lagen die beiden Inselketten, die Inseln unter dem Winde und Inseln über dem Winde genannt werden. In der warmen See ringsum sieht man sie oft nur als Urlaubsziele, aber es wimmelt dort auch von Hunderten kleiner Trampschiffe und Tanker, die diese Inseln versorgen und für die Touristen am Leben erhalten.
In diesem Gewirr von Küstenfrachtern und kleinen Inseln würde die Doña Maria verschwinden und verschwunden bleiben, bis man sie in Puerto Rico als überfällig registrierte. Als die Countess of Richmond die Kalmenzone erreichte, beruhigte sich die See, und Jusuf Ibrahim kam aus seiner Kabine. Er war bleich und erschöpft von der Seekrankheit, aber die hasserfüllten schwarzen Augen waren immer noch unverändert, als er seine Befehle erteilte. Die Crew schleppte ein aufblasbares, zwanzig Fuß langes Schnellboot aus dem Maschinenraum, wo es gelagert hatte, und als es starr aufgeblasen war, hängten sie es an die beiden Davits über dem Heck.
Sechs Mann waren nötig, die schwitzend und grunzend den 100-PS-Außenbordmotor heraufholten und am Heck des Bootes anbrachten. Dann wurde das Boot in die sanfte Dünung am Heck hinuntergelassen.
Treibstofftanks wurden auf dem Boot verzurrt. Nach einigen Fehlstarts erwachte der Motor stotternd zum Leben. Der indonesische Steuermann übernahm das Ruder und fuhr einen schnellen Kreis um die Countess.
Schließlich kletterten die anderen sechs Mann über ein Fallreep zu ihm hinunter, und nur der Killer mit dem verkrüppelten Arm blieb am Steuer des Schiffes zurück. Offensichtlich handelte es sich um eine Generalprobe.
Sinn der Übung war, den Kameramann Suleiman ungefähr dreihundert Meter weit von dem Frachter wegzubringen und zu wenden, damit er ihn mit seiner digitalen Ausrüstung fotografieren konnte. Über seinen mit dem Mini-M-Satellitentelefon verbundenen Laptop konnten die Bilder dann zu einer Website auf der anderen Seite der Welt gesandt werden, wo man sie aufzeichnen und veröffentlichen würde.
Mike Martin wusste, was er da mit ansah. Für Terroristen sind Internet und Cyberspace unentbehrliche Propagandawaffen geworden. Jede Gräueltat, die in den Nachrichten erscheint, ist von Vorteil, jede Gräueltat, die von Millionen muslimischer Jugendlicher in siebzig Ländern gesehen wird, ist reiner Goldstaub. Denn daher kommen die Rekruten: Sie sehen, was passiert, und lechzen danach, es nachzuahmen.
Auf Forbes Castle hatte Martin Videoaufzeichnungen aus dem Irak gesehen: Selbstmordattentäter grinsten in die Kamera, bevor sie wegfuhren, um vor laufenden Kameras zu sterben. In solchen Fällen überlebte der Kameramann. Hier bei dem kreisenden Schnellboot war klar, dass das Ziel des Angriffs ebenfalls im Bild sein musste und das Fotografieren zu Ende sein würde, wenn das Boot mit den sieben Mann vernichtet wäre. Nur Ibrahim, so schien es, würde an Bord des Schiffes und am Steuer bleiben.
Aber Martin wusste immer noch nicht, wann und wo es geschehen würde und welches Grauen sich in den Containern verbarg. Er zog eine Möglichkeit in Betracht: Er könnte als Erster wieder an Bord klettern, die Leine des Schlauchboots loswerfen, Ibrahim umbringen und den Frachter übernehmen. Doch dabei hätte er keine Chance. Das Boot war so schnell, dass die sechs Männer in Sekundenschnelle über die Reling entern würden.
Als die Übung vorbei war, blieb das Schnellboot leer an den Davits hängen und sah aus wie ein gewöhnliches Rettungsboot. Der Ingenieur stellte die Maschinen auf volle Kraft, und die Countess fuhr auf Nordwestkurs an der Küste von Senegal vorbei.
Nachdem er sich von seiner Seekrankheit erholt hatte, verbrachte Jusuf Ibrahim mehr Zeit auf der Brücke und in der Messe, wo die Crew ihre Mahlzeiten einnahm. Die Atmosphäre war ohnehin über alle Maßen angespannt, was durch seine Anwesenheit noch verstärkt wurde.
Alle acht Männer an Bord hatten beschlossen, als schahid zu sterben – als Märtyrer. Aber das änderte nichts daran, dass das Warten und die Langeweile an ihren Nerven zerrten. Nur das ständige Beten und die obsessive Koranlektüre machten es ihnen möglich, ruhig zu bleiben und den Glauben an das, was sie taten, zu bewahren.
Niemand außer Ibrahim und dem Sprengstoffingenieur wusste, was sich in den Stahlcontainern verbarg, die von der Brücke der Countess of Richmond fast bis zum Bug reichten. Und nur Ibrahim schien ihr Ziel und ihren Auftrag zu kennen. Die anderen sieben mussten auf das Versprechen vertrauen, dass ihr Ruhm ewig währen würde.
Als der Kommandant der Operation wieder bei ihnen war, merkte Martin schon nach wenigen Stunden, dass Ibrahims leerer, verrückter Blick ständig auf ihn gerichtet war. Es war nur menschlich, dass dieses Phänomen ihn nervös machte.
Beunruhigende Fragen plagten ihn. War Ibrahim in Afghanistan vielleicht doch mit Izmat Khan zusammengetroffen? Würde sich Martin demnächst vielleicht mit Fragen konfrontiert sehen, die er einfach nicht beantworten konnte? Hatte er beim unablässigen Rezitieren der Gebete vielleicht doch einmal einen winzigen Fehler gemacht? Würde Ibrahim ihn prüfen, indem er ihn aufforderte, Passagen zu rezitieren, die er nicht auswendig gelernt hatte?
Tatsächlich hatte er mit diesen Gedanken halb Recht, halb Unrecht. Der jordanische Psychopath, der ihm da am Tisch in der Messe gegenübersaß, hatte Izmat Khan nie gesehen, aber er hatte von dem legendären Taliban-Kämpfer gehört. Und Martin hatte beim Beten keinen Fehler gemacht. Ibrahim hasste den Paschtunen einfach wegen seines im Kampf erworbenen Ansehens, das er selbst nie bekommen hatte. Aus diesem Hass erwuchs der Wunsch, der Afghane möge am Ende doch ein Verräter sein, den er demaskieren und töten könnte.
Aber aus einem der ältesten Gründe der Welt hielt er seine Wut im Zaum: Er hatte Angst vor dem Mann aus den Bergen, und obwohl er in einer Schärpe unter seinem Gewand eine Pistole trug und ohnehin zu sterben geschworen hatte, konnte er seine Ehrfurcht vor dem Mann aus Tora Bora nicht unterdrücken. Also brütete er und starrte ihn an, wartete ab und behielt seine Gedanken für sich.
Zum zweiten Mal war die Suche des Westens nach dem Geisterschiff, falls es existierte, vollständig ins Leere gegangen. Steve Hill wurde mit Informationsersuchen bombardiert. Alles war recht, um die Frustration zu beschwichtigen, die bis in die Downing Street hinaufreichte.
Aber er hatte keine Antwort auf die vier Fragen, die der britische Premierminister und der US-Präsident immer wieder stellten. Gibt es dieses Schiff wirklich? Und wenn ja: Was für ein Schiff ist es? Wo ist es? Wo fährt es hin? Die täglichen Konferenzen wurden zur Hölle.
Der Chef des SIS – immer nur bekannt und gegrüßt als »C« – blieb eisern in seinem Schweigen. Nach Peschawar waren alle leitenden Instanzen sich darin einig gewesen, dass ein spektakulärer Terrorakt in Vorbereitung war. Aber in der Welt aus Spiegellabyrinthen gibt es keine Nachsicht für den, der seine politischen Herren enttäuscht.
Seit am Zoll die gekritzelte Nachricht auf der gefalteten Landing Card entdeckt worden war, hatte es von Crowbar kein Lebenszeichen mehr gegeben. War er tot, oder lebte er noch? Niemand wusste es, und einige interessierte es schon fast nicht mehr. Inzwischen waren fast vier Wochen vergangen, und mit jedem weiteren Tag wuchs die Auffassung, dass er ein Ding der Vergangenheit war.
Manche murmelten, er habe seinen Auftrag erfüllt: Er sei enttarnt und getötet worden, aber seinetwegen habe man den Plan aufgegeben. Nur Hill riet zur Zurückhaltung und weiteren Suche nach einer immer noch unentdeckten Bedrohung. In düsterer Stimmung fuhr er nach Ipswich, um mit Sam Seymour und den beiden Experten in der Abteilung für gefährliche Frachten bei Lloyd's Register zu sprechen, die ihm halfen, jede noch so bizarre Möglichkeit durchzuspielen.
»Sie haben in London eine ziemlich haarsträubende Formulierung gebraucht, Sam: das Dreißigfache der Hiroshima-Bombe. Wie um alles in der Welt kann ein kleiner Tanker schlimmer sein als das ganze Manhattan-Projekt?«
Sam Seymour war erschöpft. Mit zweiunddreißig Jahren sah er, wie eine vielversprechende Karriere im britischen Geheimdienst mit einer höflichen Abschiebung auf das Abstellgleis der Archive im Zentralregister enden würde, auch wenn man ihm einen Auftrag aufgebürdet hatte, dessen Erfüllung mit jedem Tag unmöglicher erschien.
»Bei einer Atombombe, Steve, kommt der Schaden in vier Wellen. Der Blitz ist so gleißend hell, dass er die Hornhaut im Auge des Betrachters kauterisieren kann, wenn der keine schwarze Schutzbrille trägt. Dann kommt die Hitzewelle, die alles auf ihrem Weg einäschert. Die Druckwelle zerstört noch meilenweit entfernte Gebäude, und die Gammastrahlung wirkt langfristig und verursacht Karzinome und Missbildungen. Bei einer Explosion von flüssigem Petroleumgas können Sie drei der vier Auswirkungen vergessen. Hier geht es nur um Hitze. Aber diese Hitze ist so ungeheuer, dass Stahl zerfließt wie Honig und Beton zu Staub zerfällt. Haben Sie schon mal von der Aerosolbombe gehört? Sie ist so gewaltig, dass Napalm dagegen sanft erscheint, aber beides basiert auf demselben Stoff: Petroleum.
Flüssiges Petroleumgas ist schwerer als Luft. Transportiert wird es nicht wie Erdgas bei sehr niedrigen Temperaturen, sondern unter Druck. Deshalb haben Petroleumgastanker Doppelwände. Wenn die Tanks aufreißen, strömt das Gas unsichtbar an die Luft. Weil es schwerer ist, verbreitet es sich in Wirbeln um den Austrittsort und bildet so eine gewaltige Aerosolbombe. Wird sie entzündet, explodiert die gesamte Ladung in einer gewaltigen Stichflamme, deren Temperatur rasend schnell auf fünftausend Grad Celsius ansteigt. Und dann geht es erst richtig los.
Die Explosion schafft ihren eigenen Wind. Eine tosende Flammenflut rollt vom Explosionsherd kreisförmig nach außen und zerstört alles auf ihrem Weg, bis sie sich selbst verzehrt hat. Dann blakt sie wie eine verlöschende Kerze und erstirbt.«
»Wie weit rollt dieser Feuerball?«
»Na ja, nach meinen neuen Freunden, den Experten, würde ein kleiner Tanker von, sagen wir, achttausend Tonnen bei einer kompletten Explosion im Radius von fünf Kilometern alles zerstören und alles menschliche Leben vernichten. Aber noch ein Letztes: Ich habe gesagt, die Explosion schafft ihren eigenen Wind. Dieser Wind saugt die Luft von der Peripherie ins Zentrum, sodass selbst Menschen, die sich fünf Kilometer weit vom Epizentrum entfernt in geschützter Umgebung befinden, einfach ersticken.«
Im Geiste sah Steve Hill die Ruinen einer Stadt rings um ihren Hafen nach einer solchen Horror-Explosion. Nicht einmal die äußeren Vororte würden überleben.
»Werden diese Tanker überprüft?«
»Jeder einzelne. Die großen, die kleinen, die ganz kleinen. Das Team für gefährliche Frachten hier besteht nur aus zwei Mann, aber sie sind gut. Sie haben übrigens inzwischen nur noch eine Handvoll Petroleumgastanker zu checken.
Was die Mehrzweckfrachter angeht, mussten wir wegen ihrer gewaltigen Zahl bei denen unter zehntausend Tonnen aufhören. Nur wenn sie in die verbotene Zone vor den beiden amerikanischen Küsten eindringen, werden die Yankees sie sehen und untersuchen. Was die übrigen angeht – jeder größere Hafen der Welt ist davon in Kenntnis gesetzt worden, dass die westlichen Geheimdienste vermuten, ein gekapertes Geisterschiff könnte auf hoher See unterwegs sein, und sie müssen ihre eigenen Vorsichtsmaßnahmen treffen. Aber offen gesagt, ein Hafen, den al-Qaida für ein Blutbad ausersehen hat, dürfte in einem entwickelten, westlichen Land liegen, nicht in Lagos oder Dakar, und nicht in einem muslimischen, hinduistischen oder buddhistischen Land. Damit umfasst die Liste der nichtamerikanischen Häfen, die in Gefahr sein könnten, unter dreihundert.«
Es klopfte, und jemand steckte den Kopf zur Tür herein. Ein sehr junger Mann mit rosigen Wangen namens Conrad Phipps.
»Eben haben wir den Letzten hereinbekommen, Sam. Die Wilhelmina Santos aus Caracas bringt flüssiges Petroleumgas nach Galveston. Sie bestätigt, dass alles okay ist, und die Amerikaner bereiten sich darauf vor, an Bord zu gehen.«
»Das war's?«, fragte Hill. »Jeder Petroleumgastanker der Welt ist erfasst?«
»Die Auswahl ist nicht groß, Steve«, sagte Seymour.
»Sieht trotzdem so aus, als wäre die Idee mit den Gastankern eine Sackgasse gewesen.« Hill stand auf und wollte nach London zurückfahren.
»Eins macht mir noch Sorgen, Mr. Hill«, sagte der Frachtexperte.
»Nennen Sie mich Steve«, sagte Hill. Beim SIS redet man sich seit jeher mit Vornamen an, vom höchsten bis zum niedrigsten Mitarbeiter mit Ausnahme des obersten Chefs. Diese Formlosigkeit gehört zum Team-Ethos.
»Na ja, vor drei Monaten ging ein Petroleumgastanker mit der gesamten Besatzung verloren.«
»Und?«
»Niemand hat ihn wirklich sinken sehen. Der Kapitän hat einen Notruf abgesetzt: Er habe einen unlöschbaren Brand im Maschinenraum und könne sein Schiff wohl nicht retten. Und dann … nichts mehr. Das Schiff hieß Java Star.«
»Keine Spuren?«, fragte Seymour.
»Doch. Spuren. Bevor der Funkkontakt abbrach, hat er seine exakte Position angegeben. Als Erstes an Ort und Stelle war ein Kühlschiff, das von Süden heraufkam. Der Kapitän meldete selbst aufblasende Rettungsboote, Rettungswesten und diverses Treibgut. Keine Spur von Überlebenden. Von Kapitän und Mannschaft hat man nie wieder gehört.«
»Tragisch, aber warum interessiert uns das?«, fragte Hill.
»Wegen der Gegend, wo es passiert ist, Sir … äh … Steve. In der Celebes-See. Zweihundert Meilen weit von einer Insel namens Labuan.«
»Scheiße«, sagte Steve Hill und fuhr nach London.
Während Hill im Wagen saß, überquerte die Countess of Richmond den Äquator. Sie war auf Kurs Nord-Nordwest, und nur der Steuermann wusste, wohin er führte. Das Ziel war ein Punkt achthundert Meilen weit westlich der Azoren und zwölfhundert Meilen weit östlich der amerikanischen Küste. Weiter nach Westen fortgesetzt, würde dieser Kurs die Countess nach Baltimore bringen, am oberen Ende der dicht bevölkerten Chesapeake Bay.
Einige der Männer an Bord begannen schon frühzeitig mit ihren Vorbereitungen für den Eingang ins Paradies: Sie rasierten ihre Körperbehaarung ab und verfassten ihr letztes Testament des Glaubens, und jeder verlas es vor laufender Kamera.
Auch der Afghane tat es, doch er zog es vor, es auf Paschto zu tun. Aus seiner Zeit in Afghanistan kannte Jusuf Ibrahim ein paar Worte dieser Sprache, und er gab sich Mühe, zu verstehen, was gesagt wurde. Aber selbst wenn seine Sprachkenntnisse fließend gewesen wären, hätte er an diesem Testament nichts aussetzen können.
Der Mann aus Tora Bora sprach von der Vernichtung seiner Familie durch eine amerikanische Rakete und seiner Freude darüber, dass er sie nun bald Wiedersehen werde, während er dem Großen Teufel endlich seine gerechte Strafe zukommen lasse. Während er sprach, war ihm klar, dass nichts von all dem je in physischer Form das Land erreichen würde. Suleiman würde es in seinem Datastream übermitteln, bevor auch er starb, und seine Ausrüstung mit ihm. Aber anscheinend wusste immer noch niemand, wie sie sterben und auf welche Weise den USA Gerechtigkeit widerfahren sollte – mit Ausnahme des Sprengstoffexperten und Ibrahims selbst. Doch die beiden schwiegen.
Da die gesamte Besatzung sich von Konserven ernährte, bemerkte niemand, dass ein Kochmesser mit einer achtzehn Zentimeter langen Klinge aus der Kombüse verschwunden war.
Wenn er unbeobachtet war, schliff Martin seine Klinge mit dem Schleifstein aus der Messerschublade in aller Stille rasiermesserscharf. Er überlegte, ob er im Dunkel der Nacht über die Heckreling klettern und das Beiboot aufschlitzen sollte, aber dann verwarf er diese Idee.
Er gehörte zu den vier Mann, die in Kojen im Vorderkastell vorn im Bug schliefen. Immer stand ein Mann am Steuer, und gleich daneben war die Stelle, wo man sich über das Heck hätte abseilen können. Der Funker verließ seine winzige Kajüte hinter der Brücke so gut wie nie, und der Ingenieur war immer im Maschinenraum unter der Brücke am Heck. Jeder von ihnen konnte den Kopf herausstrecken und ihn sehen.
Und der Schaden würde entdeckt werden. Man würde sofort wissen, dass ein Saboteur an Bord war. Der Verlust des Bootes wäre ein Rückschlag, aber er würde die Mission nicht gefährden. Martin verwarf den Gedanken, band sich jedoch das in einen Lappen gewickelte Messer an den Leib und bewahrte es am Kreuz auf. Jedes Mal, wenn er auf der Brücke am Steuer stand, versuchte er herauszufinden, welchen Hafen sie ansteuerten und was sich in den Containern verbarg, damit er es vielleicht zerstören könnte. Aber auf seine Fragen fand er keine Antwort, und die Countess blieb weiter auf Kurs Nord-Nordwest.
Die globale Suche verlagerte und verengte sich. Alle Giganten der Weltmeere, alle Tanker und alle Gasschiffe waren überprüft und für unbedenklich befunden worden. Alle ihre ID-Transponder sendeten ordnungsgemäß, alle Schiffe befanden sich auf dem angemeldeten Kurs, und dreitausend Kapitäne hatten per Sprechfunk mit ihren Reedereien und Agenten gesprochen und private Details über Herkunft und Geburt übermittelt, bei denen, selbst wenn sie bedroht wurden, kein Hijacker wissen konnte, ob sie logen oder nicht.
Die Marine, die Marineinfanterie und die Küstenwache der USA arbeiteten ohne Urlaub und Freizeit an den Grenzen ihrer Möglichkeiten; sie enterten und eskortierten jedes Frachtschiff, das in einen größeren Hafen einlaufen wollte. Das schaffte ökonomische Ungelegenheiten, aber nichts, was der größten Ökonomie der Welt wirklichen Schaden zufügen konnte.
Nach dem Tipp aus Ipswich wurden Geschichte und Besitzverhältnisse der Java Star eingehend unter die Lupe genommen. Weil ihre Reederei klein war, verbarg sie sich hinter einer Scheinfirma unter dem Dach einer Bank, die sich als Messingschild in irgendeinem fernöstlichen Steuerparadies erwies. Die Raffinerie in Borneo, aus der die Ladung stammte, war legal, aber sie wusste wenig über das Schiff. Die Werft wurde ermittelt – die Java Star hatte in ihrem Leben sechs Eigner gehabt –, und sie machte die Baupläne zugänglich. Ein Schwesterschiff wurde gefunden, über das Amerikaner mit Maßbändern herfielen. Computergrafik-Programme lieferten ein genaues Abbild der Java Star, aber nicht das Schiff selbst.
Die Regierung des Landes, unter dessen Billigflagge sie fuhr, als sie zuletzt gesehen worden war, bekam eindrucksvollen Besuch. Doch es war eine indonesische Atoll-Republik, und die Kontrolleure hatten sich bald davon überzeugt, dass der Gastanker noch nie hier gewesen war.
Die westliche Welt brauchte die Antwort auf drei Fragen: War sie wirklich untergegangen? Wenn nicht, wo war sie jetzt? Und wie lautete ihr neuer Name? Die KH-11-Satelliten wurden angewiesen, ihre Suche einzuschränken auf alles, was Ähnlichkeit mit der Java Star hatte.
In der ersten Aprilwoche wurde die Gemeinschaftsoperation in der schottischen Edzell Air Base geschlossen. Ihre Mitarbeiter konnten jetzt nichts mehr tun, was die großen westlichen Nachrichtendienste nicht sehr viel effizienter tun konnten.
Michael McDonald kehrte erleichtert in sein heimatliches Washington zurück. An der Suche nach dem Geisterschiff arbeitete er weiter mit, aber jetzt von Langley aus. Unter anderem begann die CIA, jeden Gefangenen in ihren geheimen Inhaftierungslagern, der vor seiner Ergreifung vielleicht etwas von einem Projekt namens al-Isra hatte raunen hören, noch einmal zu verhören. Und sie zapften jede ihrer Quellen in der Schattenwelt des islamistischen Terrorismus an. Aber niemand hatte etwas zu sagen. Das Wort von der großen Reise durch die Nacht zur Erleuchtung war anscheinend geboren und gestorben mit einem ägyptischen Financier, der im September in Peschawar von einem Balkon gestürzt war.
Mit Bedauern vermutete man, dass Colonel Mike Martin seine Mission nicht überlebt hatte. Er hatte offensichtlich getan, was er konnte, und wenn die Java Star oder eine andere schwimmende Bombe mit Kurs auf die USA entdeckt werden sollte, wäre er auch erfolgreich gewesen. Aber niemand rechnete damit, ihn wiederzusehen. Sein letztes Lebenszeichen in einer Tauchertasche auf der Insel Labuan lag einfach zu lange zurück.
Drei Tage vor dem G8-Treffen war die Geduld mit der globalen Suchaktion auf der Grundlage des Hinweises aus Großbritannien zu Ende, und zwar an höchster Stelle. Von seinem Schreibtisch in Langley aus rief Marek Gumienny über die abhörsichere Leitung bei Steve Hill an und teilte ihm die Neuigkeit mit.
»Steve, es tut mir leid. Für Sie und noch mehr für Ihren Mike Martin. Aber hier ist man davon überzeugt, dass er tot ist, und nachdem wir jetzt die größte Kontrollaktion der globalen Seeschifffahrt aller Zeiten durchgeführt haben, muss er sich wohl geirrt haben.«
»Und was ist mit Sam Seymours Theorie?«, fragte Hill.
»Da gilt das Gleiche. Niete. Wir haben so gut wie jeden gottverdammten Tanker auf dem Planeten überprüft. Sämtliche Kategorien. Bleiben noch ungefähr fünfzig, die lokalisiert und identifiziert werden müssen, und dann war's das. Was immer dieses al-Isra bedeutet hat – entweder werden wir es nie erfahren, oder die Operation ist längst abgeblasen worden. Warten Sie … da klingelt's auf der anderen Leitung.«
Einen Augenblick später war er wieder da. »Ein Schiff ist überfällig. Hat vor vier Tagen Trinidad mit Kurs auf Puerto Rico verlassen. Hätte gestern ankommen müssen. Ist nicht aufgetaucht und meldet sich nicht.«
»Was für ein Schiff?«, fragte Hill.
»Ein Tanker. Dreitausend Tonnen. Hören Sie, vielleicht ist er gesunken. Aber wir checken das.«
»Was hatte er an Bord?«
»Flüssiges Petroleumgas«, war die Antwort.
Ein Keyhole-KH-11-Satellit fand den Tanker, sechs Stunden nachdem die Überfälligkeitsmeldung aus Puerto Rico bei der in Houston ansässigen Betreiberfirma der Raffinerie einen Großalarm ausgelöst hatte.
Mit seinen Lauschsensoren und Kameras beobachtete der Keyhole einen fünfhundert Meilen breiten Streifen von Meer und Inseln in der östlichen Karibik. Er fing ein Transpondersignal auf, und sein Computer bestätigte, dass es von der als vermisst gemeldeten Doña Maria kam.
Unverzüglich wurde die Information an verschiedene Instanzen weitergeleitet, und deshalb wurde Marek Gumiennys Telefonat mit London unterbrochen. Andere Empfänger waren CENTCOM in Tampa, die US-Marine und die Küstenwache. Alle erhielten die exakte Position des Tankers.
Dass die Hijacker den Transponder nicht abgeschaltet hatten, war entweder eine große Dummheit gewesen, oder sie hatten auf ihr Glück gehofft. Aber sie hielten sich nur an ihre Befehle: Der Transponder verriet ihren Namen und ihre Position, und wenn sie ihn abschalteten, setzten sie sich damit dem Verdacht aus, ein Geisterschiff zu sein.
Der kleine Gastanker wurde noch immer von dem verängstigten Kapitän Montalban navigiert und gesteuert. Er hatte jetzt vier Tage nicht mehr geschlafen; wenn er kurz eingenickt war, hatte man ihn sofort mit einem Fußtritt geweckt. Das Schiff war im Schutze der Dunkelheit an Puerto Rico und dann westlich an den Turks und Caicos Islands vorbeigefahren, und eine Zeit lang war es in der Gruppe der siebenhundert Inseln verschwunden, aus denen die Bahamas bestehen.
Als der Keyhole es entdeckte, war es auf Westkurs südlich von Bimini, der westlichsten Insel des Archipels.
In Tampa rechnete man seinen Kurs weiter und stellte fest, dass er direkt auf die Mündung des Hafens von Miami zuführte, auf eine Wasserstraße, die geradewegs ins Herz dieser Großstadt reicht.
Innerhalb von zehn Minuten bekam der kleine Tanker eindrucksvolle Begleitung. Ein U-Boot-Jäger vom Typ P3-Orion startete auf dem Marineflughafen von Key West, fand ihn, sank auf ein paar tausend Fuß, begann zu kreisen und filmte ihn dabei aus allen Blickwinkeln. Er erschien auf einem wandgroßen Plasmabildschirm im Halbdunkel der Operationszentrale in Tampa – fast in Lebensgröße.
»Mann, seht euch das an«, murmelte einer der Techniker.
Auf hoher See war jemand mit Bürste und weißer Farbe über das Heck des Tankers gestiegen und hatte einen Querstrich durch das »i« im Namen Maria gemalt, um das Schiff in Doña Marta umzutaufen. Aber der weiße Strich war so plump geraten, dass er niemanden länger als ein paar Sekunden täuschen konnte.
In Charleston, South Carolina, waren zwei Kutter der Küstenwache stationiert; beide gehörten zur Hamilton-Klasse, und beide waren auf See: die 717 USCG Mellon und ihr Schwesterschiff, die Morgenthau. Die Mellon war näher und nahm sofort und mit voller Kraft Kurs auf den gekaperten Flüchtling. Ihr Navigator errechnete die voraussichtliche Frist bis zum Rendezvous auf neunzig Minuten. Das wäre kurz vor Sonnenuntergang.
Die Bezeichnung »Kutter« wird der Mellon kaum gerecht. Ihre Performance entspricht mit 150 Metern Länge und einem Eigengewicht von 3300 Tonnen der eines kleinen Zerstörers. Während sie durch die Aprildünung des Atlantiks pflügte, machte die Mannschaft sie eilig gefechtsklar – für alle Fälle. Der vermisste Tanker war als »wahrscheinlich feindselig« eingestuft worden.
Mit der Bewaffnung der Mellon ist nicht zu spaßen. Das leichteste ihrer drei Systeme ist die sechsläufige 20-mm-Gatling-Schiffsflak, die einen solchen Blizzard von Geschossen abfeuert, dass man sie als Raketenabwehrgeschütz benutzen kann. Theoretisch würde sogar eine anfliegende Rakete von einem solchen Kugelhagel in Fetzen gerissen. Aber die Phalanx-Gun braucht nicht gegen Flugkörper eingesetzt zu werden, denn auch wenn sie praktisch alles pulverisieren kann, benötigt sie doch kurze Distanzen.
Das zweite Waffensystem sind zwei Bushmaster-25-mm-Kanonen, nicht so schnell wie die Gatling, aber schwerer, und einem kleinen Tanker können sie den Tag komplett verderben. Das dritte ist die an Deck montierte Oto-Melara-76-mm-Schnellfeuerkanone.
Als die Doña Maria als Punkt am Horizont auftauchte, waren alle drei Systeme bemannt und gefechtsklar. Die Männer hatten sie bisher immer nur bei Übungen bedient, und sie wären mehr als heilig gewesen, wenn es sie nicht insgeheim in den Fingern gejuckt hätte, sie einmal unter realen Gefechtsbedingungen zu benutzen.
Der Orion über ihnen filmte alles und sendete die Bilder in Realzeit nach Tampa; unterdessen kurvte die Mellon achtern um den Tanker herum, ging mit etwa zweihundert Metern Abstand auf Parallelkurs und verringerte ihre Fahrt. Dann rief sie die Doña Maria mit dem Megafon an.
»Unidentifizierter Tanker, hier spricht die Mellon von der Küstenwache der Vereinigten Staaten. Drehen Sie bei. Ich wiederhole, drehen Sie bei. Wir kommen an Bord.«
Mit einem starken Fernglas war der Mann am Ruder zu sehen; zwei weitere Gestalten flankierten ihn. Der Tanker antwortete nicht und verringerte auch nicht seine Fahrt. Die Aufforderung wurde wiederholt.
Nach der dritten Aufforderung gab der Kapitän Befehl, eine Granate vor den Bug des Tankers zu feuern. Als die Fontäne über den Bug der Doña Maria sprühte und die Persennings durchnässte, mit denen jemand versucht hatte, das Gewirr von Rohren und Schläuchen zu verbergen, an dem das Schiff als Tanker zu erkennen war, mussten die Leute auf der Brücke die Botschaft verstanden haben. Aber die Doña Maria fuhr mit unverminderter Fahrt weiter.
Dann kamen zwei Gestalten aus der Luke am Achterkastell hinter der Brücke. Der eine hatte eine M60-MP umgehängt. Es war eine leere Geste, doch sie besiegelte das Schicksal des Tankers. Die nordafrikanischen Züge des Mannes waren in der untergehenden Sonne deutlich zu erkennen. Er gab einen kurzen Feuerstoß ab, der über die Mellon hinwegging, dann traf ihn eine Kugel aus einem der vier M16-Sturmgewehre, die an Deck der Mellon auf ihn gerichtet waren, mitten in die Brust.
Das war das Ende der Verhandlungen. Als der Algerier rückwärts kippte und die stählerne Luke, aus der er gekommen war, zuschlug, bat der Kapitän der Mellon um die Erlaubnis, den widerspenstigen Frachter zu versenken. Aber er bekam sie nicht. Die Antwort der Basis war unmissverständlich.
»Drehen Sie ab. Entfernen Sie sich so schnell wie möglich. Das Schiff ist eine schwimmende Bombe. Gehen Sie mit einer Meile Abstand in Position.«
Nicht ohne Bedauern drehte die Mellon ab, rauschte mit voller Kraft davon und überließ den Tanker seinem Schicksal. Die beiden F-16-Falcons waren bereits in der Luft und würden in drei Minuten hier sein.
Im Luftwaffenstützpunkt Pensacola auf der Halbinsel Florida ist eine Staffel stationiert, die rund um die Uhr innerhalb von fünf Minuten einsatzbereit ist. Hauptsächlich wird sie gegen Rauschgiftschmuggler eingesetzt, die auf dem Luft- und manchmal auf dem Seeweg versuchen, mit Kokain nach Florida und in die benachbarten Staaten zu gelangen.
Sie kamen aus der untergehenden Sonne in den klaren Abendhimmel, nahmen den Tanker westlich von Bimini ins Visier und machten ihre Maverick-Lenkraketen klar. Auf ihren Displays sahen die Piloten, dass die Smart Bombs ihr Ziel erfasst hatten, und der Tod des Tankers kam mechanisch, präzise und ohne Emotionen.
Auf einen knappen Befehl des Rottenführers verließen die Mavericks ihre Halterungen unter den Maschinen und folgten ihren Nasen. Zwei Sekunden später trafen zwei Sprengköpfe mit 135 Kilogramm Abscheulichkeit auf den Tanker.
Aus einer Meile Abstand sah die Crew der Mellon zu, wie die Doña Maria explodierte, und war gebührend beeindruckt. Die Männer spürten die Hitze auf ihren Gesichtern und rochen den stechenden Geruch von brennendem konzentriertem Benzin. Es ging schnell; nichts schwelte danach noch auf dem Wasser. Bug und Heck des Tankers versanken, zwei einzelne Brocken aus geschmolzenem Schrott. Ein Rest des schwereren Dieselöls seiner Maschine flackerte noch fünf Minuten, dann hatte die See alles verschluckt.
Genau so, wie Ali Aziz al-Khattab es gewollt hatte.
Eine knappe Stunde später wurde dem Präsidenten der Vereinigten Staaten auf einem Staatsbankett eine kurze Nachricht zugeflüstert. Er nickte und wies den Übermittler an, man solle ihm am nächsten Morgen um acht im Oval Office einen umfassenden mündlichen Bericht geben. Dann wandte er sich wieder seiner Suppe zu.
Um fünf vor acht wurden der CIA-Chef und Marek Gumienny ins Oval Office geführt. Gumienny war schon zweimal in diesem Raum gewesen, aber er war immer noch höllisch beeindruckt. Der Präsident und die anderen fünf Geheimdienstoberen waren anwesend.
Die Formalitäten waren rasch abgehandelt. Marek Gumienny wurde aufgefordert, über Fortgang und Beendigung einer langwierigen Antiterror-Operation namens Crowbar zu berichten.
Er fasste sich kurz; er wusste, dass der Mann, der vor dem runden Fenster zum Rosengarten mit den dicken, kugelsicheren Scheiben saß, lange Erklärungen hasste. Die Faustregel lautete: »Fünfzehn Minuten und Klappe.« Marek Gumienny komprimierte die komplexen Vorgänge von Crowbar auf zwölf.
Als er fertig war, herrschte Stille.
»Der Tipp von den Briten war also richtig?«, fragte der Vizepräsident.
»Ja, Sir. Ihr bei al-Qaida eingeschleuster Agent, ein sehr tapferer Offizier, den kennen zu lernen ich im letzten Herbst die Ehre hatte, muss wohl als verloren betrachtet werden. Andernfalls hätte er inzwischen ein Lebenszeichen geschickt. Aber er hat seine Nachricht hinausgeschmuggelt. Die Terrorwaffe war tatsächlich ein Schiff.«
»Ich hatte keine Ahnung, dass solche gefährlichen Frachten tagtäglich in der Welt herumgefahren werden«, sagte die Außenministerin staunend.
»Ich auch nicht«, sagte der Präsident. »Und was raten Sie mir jetzt in Bezug auf das G8-Treffen?«
Der Verteidigungsminister warf dem Geheimdienstkoordinator einen Blick zu und nickte. Offensichtlich hatten sie vereinbart, grünes Licht zu geben.
»Mr. President, wir haben allen Grund zu der Annahme, dass die terroristische Bedrohung gegen unser Land, speziell gegen Miami, gestern Abend abgewendet wurde. Die Gefahr ist vorüber. Was das G8-Treffen angeht, so werden Sie während der gesamten Konferenz unter dem Schutz der US-Marine stehen, und die Marine hat ihr Wort gegeben, dass Ihnen nichts geschehen wird. Wir raten Ihnen deshalb: Gehen Sie ganz unbesorgt zu Ihrem Treffen.«
»Na, dann werde ich das auch tun«, sagte der Präsident der Vereinigten Staaten.