SECHS

Das Fallschirmjägerregiment nahm Mike Martin wieder auf und stellte keine Fragen, denn so lautete die Anweisung, aber allmählich umgab ihn der Ruf des Absonderlichen. Zweimal war er innerhalb von vier Jahren ohne Erklärung dienstabwesend gewesen und jedes Mal sechs Monate weggeblieben; so etwas führte bei jeder militärischen Einheit zu hochgezogenen Augenbrauen am Frühstückstisch. 1992 schickte man ihn auf das Staff College nach Camberley und von dort zurück ins Ministerium, nun als Major.

Er arbeitete wieder im Büro der Military Operations Unit, aber jetzt als Staff Officer Two in der Abteilung drei, die für den Balkan zuständig war. Dort tobte immer noch der Krieg. Die Serben unter Milosevič waren die herrschende Kraft, und die als »ethnische Säuberungen« bekannten Massaker wurden von der Welt mit Abscheu verfolgt. Zwei Jahre lang fuhr Martin im dunklen Anzug aus dem Vorort nach London, gequält von Tatendurst.

Offiziere, die im SAS gedient haben, können zu einem zweiten Turnus zurückkehren, jedoch nur auf Einladung. Der Ruf aus Hereford kam Ende 1994. Es war das Weihnachtsgeschenk, auf das er gehofft hatte. Aber Lucinda war nicht erfreut.

Sie hatten kein Kind, und ihre beiden beruflichen Laufbahnen strebten auseinander. Lucinda hatte ein großartiges Angebot; sie nannte es die Chance ihres Lebens, doch es würde bedeuten, dass sie in den Midlands arbeiten musste. Die Ehe stand unter Druck. Mike Martin bekam den Befehl, das Kommando über die B Squadron, 22 SAS, zu übernehmen und sie verdeckt nach Bosnien zu führen. Nach außen hin wären sie Teil der UN-Friedensmission UNPROFOR. Tatsächlich sollten sie Kriegsverbrecher jagen und fangen. Details durfte er Lucinda nicht anvertrauen – nur, dass er wieder fortgehen würde.

Es war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Sie vermutete, er gehe wieder nach Arabien, und stellte ihm ein regelrechtes Ultimatum: Du kannst deine Fallschirmjäger, den SAS und deine verdammte Wüste haben, oder du kannst mit mir nach Birmingham kommen und eine Ehe führen. Er dachte darüber nach und entschied sich für die Wüste.

 

Fern von der Abgeschiedenheit der Hochlandtäler in den Weißen Bergen starb Izmat Khans alter Parteiführer Yunis Khalis, und die Hizb-i-Islami-Partei geriet vollends unter die Kontrolle Hekmatjars, den Izmat Khan wegen seines grausamen Rufes verabscheute.

Als sein Kind im Februar 1994 zur Welt kam, war Präsident Nadschibullah gestürzt, aber er lebte noch, untergebracht in einem Gästehaus der UN in Kabul. Als sein Nachfolger galt Professor Rabbani, doch Rabbani war Tadschike und deshalb für die Paschtunen inakzeptabel. Außerhalb von Kabul regierten nur die Warlords in ihren Territorien, die eigentlichen Herrscher hießen jedoch Chaos und Anarchie.

Aber noch etwas anderes war im Gange. Nach dem Krieg gegen die Sowjets waren Tausende junger Afghanen in die pakistanischen madrasas zurückgekehrt, um ihre Ausbildung zu beenden. Andere, die zu jung zum Kämpfen gewesen waren, gingen über die Grenze, um eine Ausbildung zu erhalten – irgendeine Ausbildung. Was sie bekamen, war eine jahrelange wahhabitische Gehirnwäsche. Jetzt kehrten sie zurück, doch sie waren anders als Izmat Khan.

Weil der alte Yunis Khalis, so ultrafromm er gewesen war, noch einen Rest von Mäßigung in sich gehabt hatte, war in seinen madrasas in den Flüchtlingslagern ein leicht gemäßigter Islam gelehrt worden. Andere konzentrierten sich auf die ultraaggressiven Passagen aus den Versen des Schwerts im Heiligen Koran. Und der alte Nuri Khan, obgleich ebenfalls fromm, war menschlich und sah nichts Schlimmes in Gesang, Tanz, Sport und Toleranz gegenüber anderen.

Die jetzt Heimkehrenden waren schlecht ausgebildet. Imame, die selbst kaum lesen und schreiben konnten, waren ihre Lehrer gewesen. Sie wussten nichts über das Leben, die Frauen (viele dieser Heimkehrer lebten und starben im Zustand der Jungfräulichkeit) oder wenigstens ihre eigene Stammeskultur, die Izmat durch seinen Vater kennen gelernt hatte. Abgesehen vom Koran kannten sie nur eins: den Krieg. Die meisten stammten aus dem tiefen Süden Afghanistans, wo schon immer die strengste Variante des Islam praktiziert worden war.

Im Sommer 1994 verließ Izmat Khan zusammen mit einem Cousin das Hochlandtal und reiste nach Jalalabad. Es war ein kurzer Besuch, aber doch lang genug, um das von Hekmatjars Anhängern angerichtete grauenhafte Massaker in einem Dorf zu sehen, das sich schließlich geweigert hatte, ihm weiter Tribut zu zahlen. Die Männer, die die beiden Reisenden vorfanden, waren gefoltert und getötet worden, die Frauen verprügelt, das Dorf in Brand gesetzt. Izmat Khan sah es mit Abscheu. In Jalalabad erfuhr er, dass das, was er gesehen hatte, nichts Ungewöhnliches war.

Dann geschah etwas tief im Süden. Nach dem Verschwinden jeder Art von Zentralregierung hatte sich die staatliche Armee einfach demjenigen örtlichen Warlord unterstellt, der sie am besten bezahlte. Außerhalb von Kandahar schleppten ein paar Soldaten zwei halbwüchsige Mädchen in ihr Camp und vergewaltigten sie.

Der Prediger des Dorfes, das sie überfallen hatten, führte ebenfalls eine religiöse Schule und zog mit dreißig seiner Schüler und sechzehn Gewehren in das Armeecamp. Wider alles Erwarten besiegten sie die Soldaten und hängten den Kommandanten am Geschützrohr eines Panzers auf. Der Name des Predigers war Mohammed Omar oder Mullah Omar. Er hatte in diesem Kampf sein rechtes Auge verloren.

Die Geschichte sprach sich herum. Andere wandten sich Hilfe suchend an ihn. Seine Anhängerschaft wuchs, und er folgte den Hilferufen. Sie nahmen kein Geld, sie vergewaltigten keine Frauen, sie stahlen keine Ernte, sie forderten keine Belohnung. Bald galten sie in der ganzen Gegend als Helden. Im Dezember 1994 war ihre Zahl auf zwölftausend gewachsen, und sie alle trugen den schwarzen Turban dieses Mullahs. Sie nannten sich »Schüler«. Das Paschto-Wort für Schüler ist talib, der Plural ist »Taliban«. Aus einer dörflichen Vigilantentruppe war eine Bewegung geworden, und als sie die Stadt Kandahar eroberten, bildeten sie eine Alternativregierung.

Pakistan hatte mit Hilfe der Ränke seines ISI versucht, den Tadschiken Rabbani in Kabul zu stürzen, indem es Hekmatjar unterstützte, aber dieser scheiterte immer wieder. Ultraorthodoxe Muslime unterwanderten den ISI, und bald schwenkte Pakistan um und unterstützte fortan die Taliban. In Kandahar hatte die neue Bewegung ein riesiges Waffenlager an sich gebracht, außerdem Panzer, Panzerwagen, Lastwagen, Kanonen, sechs von den Sowjets zurückgelassene MiG21-Kampfflugzeuge und sechs schwere Hubschrauber. Sie begannen sich nach Norden auszubreiten. 1995 umarmte Izmat Khan seine Frau, küsste sein Kind und stieg von den Bergen hinab, um sich ihnen anzuschließen.

Später, auf dem Boden einer Zelle in Kuba, sollte er sich daran erinnern, dass die Tage mit Frau und Kind in dem Hochlanddorf die glücklichste Zeit seines Lebens gewesen war. Er war dreiundzwanzig.

Zu spät erfuhr er, dass die Taliban eine dunkle Seite hatten. Die Paschtunen in Kandahar waren schon immer fromm gewesen, aber jetzt herrschte hier das härteste Regiment, das die Welt des Islam je gesehen hatte.

Alle Mädchenschulen wurden unverzüglich geschlossen. Frauen durften das Haus nur noch in Begleitung eines männlichen Verwandten verlassen. Die Burka, das alles verhüllende Gewand, war das einzige erlaubte Kleidungsstück, und das Klappern weiblicher Sandalen auf den Fliesen wurde verboten, weil es zu aufreizend klang. Gesang, Tanz, Musik, Sport und das Drachenfliegen, ein nationaler Zeitvertreib, wurden verboten. Fünfmal am Tag musste gebetet werden. Für Männer herrschte Bartpflicht. Die Vollstrecker mit ihren schwarzen Turbanen waren oft halbwüchsige Fanatiker, die nichts anderes kannten als die Verse des Schwertes, Grausamkeit und Krieg. Aus Befreiern wurden neue Tyrannen, aber ihr Vormarsch war unaufhaltsam. Ihre Mission war es, die Herrschaft der Warlords zu brechen, und da diese bei der Bevölkerung verhasst waren, fügte man sich der neuen Strenge. Zumindest herrschten jetzt Recht und Ordnung, es gab keine Korruption, keine Vergewaltigungen, keine Kriminalität mehr. Es gab nur noch fanatische Rechtgläubigkeit.

Mullah Omar war Kämpfer und Prediger und sonst nichts. Nachdem er seine Revolution begonnen hatte, indem er einen Vergewaltiger an einem Geschützrohr erhängte, zog er sich in die Abgeschiedenheit seiner südlichen Festung Kandahar zurück. Seine Anhänger waren Erscheinungen aus dem Mittelalter, und zu den vielen Dingen, die sie nicht kannten, gehörte die Angst. Sie verehrten den einäugigen Mullah hinter seinen Mauern; bevor die Taliban schließlich fielen, sollten achtzigtausend für ihn sterben. Und der hochgewachsene Saudi im fernen Sudan, der die zwanzigtausend jetzt in Afghanistan stationierten Araber befehligte, beobachtete das alles und wartete ab.

Izmat Khan schloss sich einer lashkar von Männern aus seiner Heimatprovinz Nangarhar an. Rasch fand er Respekt bei ihnen, denn er war reif, er hatte gegen die Russen gekämpft und war verwundet worden.

Die Taliban-Armee war keine richtige Armee: Sie hatte keinen kommandierenden General, keinen Generalstab, kein Offizierskorps, keine Dienstgrade und keine Infrastruktur. Jede lashkar war eine halb unabhängige Einheit unter dem Befehl ihres Stammesführers, der oft nur aufgrund seiner Persönlichkeit und seines Mutes im Kampf als Führer anerkannt wurde – und natürlich wegen seiner Frömmigkeit. Wie die ursprünglichen Muslimkrieger der ersten Kalifate fegten sie ihre Gegner mit fanatischem Mut beiseite, was ihnen den Ruf der Unbesiegbarkeit verlieh, sodass ihre Gegner oft kapitulierten, ohne dass ein Schuss gefallen war. Als sie schließlich auf echte Soldaten trafen, auf die Streitmacht des charismatischen Tadschiken Schah Massud, erlitten sie ungeheure Verluste. Ein Sanitätskorps hatten sie nicht, deshalb verreckten ihre Verwundeten am Straßenrand. Aber sie drängten weiter.

Vor den Toren Kabuls verhandelten sie mit Massud, der ihre Bedingungen jedoch nicht akzeptierte, sondern sich in seine Berge im Norden zurückzog, wo er siegreich gegen die Russen gekämpft hatte. So begann der nächste Bürgerkrieg, der zwischen den Taliban und der Nordallianz des Tadschiken Massud und des Usbeken Dostum. Es war das Jahr 1996. Nur Pakistan (das ihr auf die Beine geholfen hatte) und Saudi-Arabien (das sie finanzierte) hatten die verrückte neue Regierung Afghanistans anerkannt.

Für Izmat Khan waren die Würfel gefallen. Sein alter Verbündeter Schah Massud war jetzt sein Feind.

Und weit im Süden landete ein Flugzeug. Es brachte den hochgewachsenen Saudi ins Land, der acht Jahre zuvor in einer Höhle in Jaji mit ihm gesprochen hatte, und den rundlichen Arzt, der ein Stück sowjetischen Stahl aus Izmats Bein geschnitten hatte. Sofort erwiesen beide Mullah Omar ihre Reverenz; sie zahlten ihm einen hohen Tribut an Geld und Ausrüstung und sicherten sich damit seine lebenslange Loyalität.

Nach Kabul trat eine Pause im Bürgerkrieg ein. Nahezu die erste Tat der Taliban in Kabul war es, den gestürzten Expräsidenten Nadschibullah aus seinem Hausarrest zu zerren, zu foltern, zu verstümmeln und hinzurichten, bevor sie den Leichnam an einem Laternenmast aufhängten. Damit stand die Tonart der nun einsetzenden Herrschaft fest. Izmat Khan hatte nichts übrig für Grausamkeit um ihrer selbst willen. Er hatte hart genug für sein Land gekämpft, um vom Freiwilligen zum Befehlshaber seiner eigenen lashkar aufzusteigen, und diese wiederum wurde immer größer, je weiter seine Führungsqualitäten sich herumsprachen, bis sie eine der vier Divisionen der Taliban-Armee geworden war. Schließlich bat er um die Erlaubnis, in seine Heimatprovinz Nangarhar zurückzukehren, und man ernannte ihn zum Provinzgouverneur. Von Jalalabad aus konnte er seine Familie besuchen, seine Frau und sein Kind.

Von Nairobi oder Dar es Salaam hatte er noch nie gehört, auch nicht von einem Mann namens William Jefferson Clinton. Viel dagegen hatte er von einer Gruppe gehört, die jetzt in seinem Land beheimatet war und sich al-Qaida nannte. Er wusste, dass ihre Anhänger den globalen Dschihad gegen alle Ungläubigen ausgerufen hatten, vor allem gegen den Westen und ganz besonders gegen ein Land namens Amerika. Aber das war nicht sein Dschihad.

Er führte seinen Kampf gegen die Nordallianz, um sein Vaterland ein für alle Mal zu einigen, und die Allianz war in zwei kleine, obskure Enklaven zurückgedrängt worden. Die eine war eine Gruppe von Widerstandskämpfern des Hazara-Stammes, eingeschlossen in den Bergen von Dara-i-Suf. Massud selbst saß im unzugänglichen Tal des Pandschir, in der nordöstlichen Ecke namens Badakshan.

Am 7. August 1998 explodierten Bomben vor den amerikanischen Botschaften in zwei afrikanischen Hauptstädten. Izmat wusste davon nichts. Ausländische Rundfunksender zu hören war verboten, und er gehorchte. Am 20. August schoss Amerika siebzig Tomahawk-Cruise-Missiles auf Afghanistan ab. Sie kamen von den beiden Raketenkreuzern Cowpen und Shiloh im Roten Meer und von den Zerstörern Briscoe, Elliot, Hayler und Milius sowie von dem U-Boot Columbia, die allesamt südlich von Pakistan im Arabischen Golf lagen.

Sie waren auf die al-Qaida-Ausbildungslager und auf die Höhlen von Tora Bora gerichtet. Eine von denen, die ihr Ziel verfehlten, fuhr in eine natürliche, leere Höhle hoch oben im Berg über Maloko-zai. Die Detonation tief in der Höhle spaltete den Berg und sprengte eine ganze Flanke ab. Zehn Millionen Tonnen Fels gingen krachend zu Tal.

Als Izmat Khan den Berg erreichte, erkannte er nichts wieder. Das gesamte Tal war unter Felstrümmern begraben. Es gab keinen Bach mehr, kein Dorf, keine Obstgärten, keine Pferche, keine Moschee, keine Stallungen, keine Häuser. Seine Familie und alle seine Nachbarn waren ausgelöscht. Seine Eltern, Onkel, Tanten, Schwestern, seine Frau und sein Kind lagen tot unter Millionen Tonnen von Granit. Graben konnte er nirgends, und es gab auch nichts auszugraben. Er war jetzt ein Mann ohne Wurzeln, ohne Familie, ohne Sippe.

In der ersterbenden Augustsonne kniete er hoch oben über seiner toten Familie auf dem Schiefer, wandte sich westwärts nach Mekka, senkte die Stirn auf den Boden und betete. Aber diesmal sprach er ein anderes Gebet: Es war ein machtvoller Eid, ein Racheschwur, ein persönlicher Dschihad bis zum Tod, und er richtete sich gegen das Volk, das ihm dies angetan hatte. Er erklärte Amerika den Krieg.

Eine Woche später hatte er sein Gouverneursamt niedergelegt und ging wieder an die Front. Drei Jahre lang kämpfte er gegen die Nordallianz. In seiner Abwesenheit hatte der taktisch brillante Massud einen Gegenangriff gestartet und den weniger kompetenten Taliban wiederum gewaltige Verluste zugefügt. In Mazar-i-Sharif war es zu Massakern gekommen; nachdem die einheimischen Hazara sich erhoben und sechshundert Taliban getötet hatten, waren die rachsüchtigen Taliban zurückgekehrt und hatten über zweitausend Zivilisten ermordet.

 

Das Dayton-Abkommen war unterschrieben. Formal gesehen war der Bosnienkrieg zu Ende. Aber seine Hinterlassenschaft war ein Albtraum. Das muslimische Bosnien war der Hauptkriegsschauplatz gewesen, auch wenn Bosnier, Serben und Kroaten gleichermaßen beteiligt gewesen waren. Es war der blutigste Konflikt in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.

Kroaten und Serben, mit Abstand am besten bewaffnet, hatten die schlimmsten Brutalitäten begangen. Ein zutiefst und zu Recht beschämtes Europa rief in Den Haag ein Kriegsverbrechertribunal ins Leben und wartete auf die ersten Anklagen. Das Problem war, dass die Schuldigen nicht mit erhobenen Händen vortreten wollten, Milosevič leistete keinerlei Hilfe – im Gegenteil, er plante neues Elend für eine weitere muslimische Provinz, den Kosovo.

Ein Teil Bosniens, das ausschließlich von Serben bewohnte Drittel, erklärte sich zur Serbischen Republik, in der die meisten Kriegsverbrecher Unterschlupf fanden. Und das war die Aufgabe: sie finden, sie identifizieren, sie ergreifen, sie vor das Tribunal bringen. Damit verbrachte der SAS das Jahr 1997; die Männer lebten hauptsächlich in Feldern und Wäldern und jagten mutmaßliche Kriegsverbrecher.

1998 war Mike Martin wieder in Großbritannien und bei den Fallschirmjägern, als Lieutenant Colonel und Ausbilder am Staff College in Camberley. Ein Jahr später wurde er Chef des Ersten Fallschirmjägerbataillons. Die NATO-Alliierten hatten erneut auf dem Balkan eingegriffen, ein wenig schneller jetzt als zuvor und wiederum zur Verhinderung eines Gemetzels, das groß genug wäre, um die Medien zu der überstrapazierten Formel vom »Völkermord« zu verleiten.

Die Nachrichtendienste hatten die britische und die amerikanische Regierung davon überzeugt, dass Milosevič die Absicht habe, die rebellische Provinz Kosovo zu »säubern«, und zwar gründlich. Zu diesem Zweck würde er den größten Teil der 1,8 Millionen Einwohner nach Westen ins benachbarte Albanien vertreiben. Unter dem Banner der NATO stellten die Alliierten Milosevič ein Ultimatum. Er ignorierte es, und endlose Kolonnen von weinenden und mittellosen Kosovaren wurden über die Gebirgspässe nach Albanien getrieben.

Die NATO reagierte nicht mit einer Bodeninvasion, sondern mit Bombenangriffen, die achtundsiebzig Tage dauerten und sowohl den Kosovo als auch das serbische Jugoslawien selbst verwüsteten. Als sein Land in Schutt und Asche lag, gab Milosevič schließlich nach, worauf die NATO im Kosovo einrückte, um die Folgen der Katastrophe zu begrenzen. Der verantwortliche Offizier war ein lebenslanger Fallschirmjäger, General Mike Jackson, und das Erste Bataillon ging mit ihm.

Das wäre wahrscheinlich Mike Martins letzter Einsatz »im Feld« gewesen, aber dann kamen die West Side Boys.

 

Am 9. September 2001 verbreitete sich in Windeseile eine Nachricht durch die Taliban-Armee, die die Soldaten in begeisterte Allahu-akhbar-Rufe ausbrechen ließ: Gott ist groß. Über Izmat Khans Lager außerhalb von Bamian knatterten die im Freudentaumel abgefeuerten Schüsse. Jemand hatte Ahmed Schah Massud ermordet. Ihr Feind war tot. Der Mann, dessen Charisma das Lager des nutzlosen Rabbani zusammengehalten hatte, dessen Geschick als Guerilla-Führer die Sowjets wider Willen ehrfürchtig bewundert hatten, und dessen Generalstalente die Taliban-Truppen dezimiert hatten – dieser Mann existierte nicht mehr.

Zwei Selbstmordattentäter hatten die Tat vollbracht, ultrafanatische Marokkaner mit gestohlenen belgischen Pässen, die sich als Journalisten ausgegeben hatten und von Osama bin Laden geschickt worden waren, um seinem Freund Mullah Omar eine Gefälligkeit zu erweisen. Aber nicht der Saudi steckte hinter dem Komplott, sondern der viel gerissenere Ägypter Aiman al-Sawahiri, der erkannt hatte: Wenn al-Qaida dem einäugigen Mullah eine solche Gefälligkeit erwiese, würde Omar sie niemals aus seiner Obhut vertreiben können, nachdem geschehen wäre, was als Nächstes geschehen sollte.

Am 11. September wurden vier Passagierflugzeuge über der amerikanischen Ostküste entführt. Neunzig Minuten später hatten zwei das World Trade Center in Manhattan zerstört, eines hatte das Pentagon verwüstet, und das vierte war, nachdem rebellische Passagiere ins Cockpit eingedrungen waren und die Hijacker überwältigt hatten, auf freiem Feld abgestürzt.

Innerhalb weniger Tage war klar, wer die neunzehn Hijacker gewesen waren und was sie zu ihrer Tat inspiriert hatte, und wiederum nur wenige Tage später hatte der neue amerikanische Präsident ein klares Ultimatum an Mullah Omar gerichtet: Liefert die Rädelsführer aus, oder tragt die Konsequenzen. Wegen Massud konnte Omar nicht kapitulieren. Das war das Gesetz.

 

In dem westafrikanischen Höllenloch Sierra Leone hatten Jahre des Bürgerkriegs und der Barbarei die einstmals reiche ehemalige britische Kolonie in ein Chaos von Banditentum, Schmutz, Krankheiten, Armut und abgehackten Gliedmaßen gestürzt. Jahre zuvor hatten die Briten beschlossen einzuschreiten, und die Vereinten Nationen hatten sich bewegen lassen, eine Truppe von fünfzehntausend Mann ins Land zu bringen, die aber im Wesentlichen in ihren Kasernen in der Hauptstadt Freetown herumsaßen. Der Dschungel außerhalb der Stadt galt einfach als zu gefährlich für die UN-Streitkräfte. Nur eine im Land stationierte britische Einheit stand unter nationalem Kommando und war bereit einzuschreiten, daher blieb es ihr allein überlassen, Patrouillen im Hinterland durchzuführen.

Gegen Ende August wurde eine elf Mann starke Patrouille der Royal Irish Rangers von der Hauptstraße herunter und in ein Dorf gelockt, das als Hauptquartier einer Rebellenbande diente, die sich als West Side Boys bezeichnete – im Grunde nichts weiter als ein Haufen außer Kontrolle geratener Psychopathen. Sie waren ständig betrunken vom einheimischen, hochprozentigen Schnaps, sie massierten sich Kokain ins Zahnfleisch oder ritzten sich die Arme auf, um das Rauschgift in die Schnitte zu reiben und so einen schnelleren »Hit« zu erzielen. Das Grauen, das sie weit und breit unter den Bauern anrichteten, war unbeschreiblich. Sie waren vierhundert Mann stark und bis an die Zähne bewaffnet. Die Rangers wurden rasch überwältigt und als Geiseln genommen.

Nach dem Kosovo-Einsatz war Mike Martin mit dem Ersten Fallschirmjägerbataillon nach Freetown gegangen. Sie waren im Waterloo Camp stationiert. Nach komplizierten Verhandlungen wurden fünf der Ranger gegen ein Lösegeld freigelassen, aber die übrigen sechs waren anscheinend dazu verdammt, in Stücke gehackt zu werden. Aus London erging der Befehl des Generalstabschefs Sir Charles Guthrie: Greift gewaltsam ein, und holt sie heraus.

Die Taskforce bestand aus achtundvierzig SAS-Männern, vierundzwanzig Kampfschwimmern vom Special Boat Service und neunzig Fallschirmjägern vom Ersten Bataillon. Eine Woche vor dem Angriff wurden zehn SAS-Männer in Dschungeltarnkleidung in der Umgebung des Banditendorfs abgesetzt; sie campierten unsichtbar im Busch und beobachteten und belauschten aus wenigen Metern Entfernung alles, was die West Side Boys sagten und taten, um es auf der Stelle zurückzumelden. Bald war den Briten klar, dass es keine Hoffnung auf eine friedliche Befreiung geben konnte.

Mike Martin griff mit der zweiten Welle an, nachdem ein unglücklicher Granatentreffer der Rebellen sechs Mann einschließlich des Truppführers der ersten Welle verwundet hatte, sodass sie auf der Stelle evakuiert werden mussten.

Das Dorf – genau gesagt zwei Dörfer namens Gberi Bana und Magbeni – lag an den Ufern eines schleimigen, stinkenden Flusses namens Rokel Creek. Die zweiundsiebzig Spezialisten von SAS und SBS eroberten Gberi Bana, wo die Geiseln untergebracht waren, retteten sie alle und schlugen eine Serie von manischen Gegenangriffen zurück. Die neunzig Fallschirmjäger nahmen Magbeni ein. Als der Morgen graute, befanden sich in jedem der beiden Dörfer rund zweihundert West Side Boys.

Sechs Gefangene wurden gefesselt auf den Weg nach Freetown gebracht. Ein paar von ihnen konnten in den Urwald entkommen. Niemand versuchte, die Leichen in den Ruinen der beiden Dörfer oder im Busch ringsum zu zählen, aber es wurde niemals bestritten, dass es über dreihundert Tote gegeben hatte.

SAS und Fallschirmjäger hatten zwölf Verwundete, und ein SAS-Mann, Brad Tinnion, starb an seinen Verletzungen. Mike Martin, der den Truppführer seiner ersten Welle verloren hatte, kam im zweiten Chinook-Hubschrauber und führte den endgültigen Vernichtungsangriff gegen Magbeni. Es war ein altmodischer Kampf, auf kürzeste Entfernung, Mann gegen Mann. Am Südufer des Rokel Creek hatten die Fallschirmjäger durch dieselbe Granate, die auch den Truppführer verwundet hatte, ihr Funkgerät verloren, sodass die über dem Schauplatz kreisenden Hubschrauber nicht von dem Erfolg ihres eigenen Granatfeuers berichten konnten, und der Dschungel war zu dicht, als dass man die Einschläge hätte sehen können.

Schließlich gingen die Fallschirmjäger einfach adrenalinberauscht, schreiend und fluchend zum Sturmangriff über, und die West Side Boys, die so gern Bauern und Gefangene gefoltert hatten, flohen und starben, flohen und starben, bis keiner mehr übrig war.

Fast auf den Tag genau zwölf Monate später war Martin in London, als die unglaublichen Fernsehbilder der voll besetzten und vollgetankten Maschinen, die geradewegs in die Twin Towers flogen, die Welt entsetzten. Eine Woche später war klar, dass die USA in Afghanistan einmarschieren mussten, um die Verantwortlichen dingfest zu machen, mit oder ohne Zustimmung der Regierung in Kabul.

London erklärte sich sofort bereit, aus eigenen Mitteln zu liefern, was unmittelbar gebraucht wurde: Luftbetankungsflugzeuge und Spezialeinsatzkräfte. Der SIS-Chef in Islamabad erklärte, auch er brauche alle Hilfe, die er bekommen könne.

Dies war Sache von Vauxhall Cross, aber auch der Verteidigungsattache in Islamabad bat um Hilfe. Mike Martin wurde von seinem Schreibtisch im Fallschirmjäger-Hauptquartier in Aldershot geholt und mit der nächsten Maschine als Verbindungsoffizier der Special Forces nach Islamabad entsandt.

Vier Wochen nach der Zerstörung des World Trade Centers kam er dort an, am ersten Tag des alliierten Angriffs.