ZEHN

Es war ein langer, anstrengender Flug. Die Hercules besaß keine kostspielige Vorrichtung zur Luftbetankung, da sie nur ein Gefangenentransporter war, der der afghanischen Regierung einen Gefallen erwies, denn eigentlich hätte diese ihren Staatsbürger in Kuba abholen müssen, besaß aber kein Flugzeug für eine solche Aufgabe.

Nach Zwischenstopps auf den amerikanischen Stützpunkten auf den Azoren und in Ramstein begann die C-130 am Spätnachmittag des nächsten Tages ihren Landeanflug auf den großen Luftwaffenstützpunkt Bagram am Südrand der öden Shomali-Ebene.

Die Flugbesatzung hatte zweimal gewechselt, doch die Eskorte war an Bord geblieben; die Männer lasen, spielten Karten und schliefen, während die vier großen Propeller draußen vor den Fensterluken sie immer weiter nach Osten trieben. Der Gefangene blieb gefesselt. Auch er schlief, so gut es ging.

Die Hercules hielt auf dem Rollfeld vor den riesigen Hangars, die die amerikanische Zone des Stützpunkts Bagram dominieren, und das Empfangskomitee wartete schon. Der U. S. Provost Major, der die Eskorte anführte, sah befriedigt, dass die Afghanen kein Risiko eingegangen waren. Neben dem Gefangenentransporter standen zwanzig Soldaten der afghanischen Special Forces unter Führung von Brigadier Yusuf.

Der Major trabte die Rampe hinunter, um den Papierkram zu erledigen, bevor er den Gefangenen übergab. Das dauerte nicht lange. Dann nickte er seinen Kollegen zu. Sie schlossen die Kette auf, mit der der Afghane an der Innenwand befestigt war, und führten ihn mit schlurfenden Schritten hinaus in den eisigen afghanischen Winter. Die Soldaten nahmen ihn in die Mitte, zerrten ihn zu dem Gefangenentransporter und stießen ihn hinein. Die Tür schlug zu. Der amerikanische Major entschied, dass er mit dem Mann nicht würde tauschen wollen. Er salutierte vor dem Brigadier, und der erwiderte den Gruß.

»Passen Sie gut auf ihn auf«, sagte der Amerikaner. »Das ist ein ziemlich harter Mann.«

»Keine Sorge, Major«, antwortete der afghanische Offizier. »Er wird den Rest seines Lebens im Gefängnis Pul-i-Charki verbringen.«

Kurz darauf fuhr der Gefängnisbus davon, und die afghanischen Soldaten folgten ihm mit ihrem Laster. Sie nahmen die Straße nach Kabul. Erst als es völlig dunkel war, wurden Bus und Lastwagen durch einen, wie es später heißen würde, unglückseligen Zufall getrennt. Der Bus fuhr allein weiter.

Pul-i-Charki ist ein furchterregender, düsterer Klotz im Osten von Kabul, kurz vor der Felsschlucht am Ostrand der Ebene von Kabul. In der sowjetischen Besatzungszeit regierte hier die Geheimpolizei Khad, und die Schreie der Gefolterten gellten unablässig durch das Gebäude.

Während des Bürgerkriegs gab es Zehntausende von Häftlingen, die das Gefängnis nicht lebend verließen. Seit Gründung der neuen Republik Afghanistan mit ihrer demokratisch gewählten Regierung haben sich die Zustände gebessert, aber es ist, als hallten die steinernen Bastionen, Korridore und Gewölbe immer noch von den Schreien der Geister wider. Zum Glück kam der Gefängnisbus niemals dort an.

Zehn Meilen hinter der Stelle, wo die Militäreskorte abgehängt worden war, bog ein Pick-up aus einer Nebenstraße und folgte dem Bus. Als er seine Scheinwerfer aufblitzen ließ, hielt der Busfahrer an einem vorher erkundeten flachen Gelände am Straßenrand, hinter einigen verkümmerten Bäumen. Dort gelang dem Gefangenen die »Flucht«.

Man hatte ihm die Handschellen abgenommen, sowie der Bus die letzte Sicherheitskontrolle auf dem Gelände von Bagram hinter sich gelassen hatte. Dann hatte er das warme, grauwollene shalwar kameez und die Stiefel angezogen, die man ihm gab, und schließlich hatte er sich den gefürchteten schwarzen Turban der Taliban um den Kopf gewunden.

Brigadier Yusuf hatte die Fahrerkabine des Busses verlassen und den Pick-up bestiegen. Jetzt übernahm er das Kommando. Vier Leichen lagen auf der Ladefläche des Kleinlasters.

Alle kamen frisch aus dem städtischen Leichenschauhaus. Zwei waren bärtig, und man hatte ihnen Talibankleidung angezogen. In Wahrheit handelte es sich um Bauarbeiter, die auf einem sehr wackligen Gerüst gestanden hatten, als es zusammenbrach.

Die beiden anderen waren bei Autounfällen ums Leben gekommen. Afghanische Straßen sind dermaßen von Schlaglöchern übersät, dass man nur auf dem Mittelstreifen einigermaßen undurchgerüttelt fahren kann. Da es als ziemlich weibisch gilt, auszuweichen, nur weil jemand entgegenkommt, ist die Todesrate bei Unfällen beeindruckend. Die beiden glatt rasierten Toten trugen Gefängniswärter-Uniformen.

Die toten Gefängniswärter würden Pistolen in den Händen halten. Man feuerte ein paar Kugeln in die Leichen. Die Taliban, die im Hinterhalt gelegen hatten, wurden am Straßenrand abgelegt, und die Wachen schossen auch auf sie. Die Tür des Busses wurde mit einer Axt zertrümmert, sodass sie offen an den Angeln hing. So würde der Bus irgendwann am nächsten Tag gefunden werden.

Als die Kulisse fertig gestellt war, setzte Brigadier Yusuf sich neben den Fahrer in den Pick-up. Der ehemalige Gefangene kletterte mit den beiden Special-Forces-Männern, die im Bus gewesen waren, hinten auf die Ladefläche. Alle drei schlangen sich das lose Ende ihres Turbans vor das Gesicht, um sich vor der Kälte zu schützen.

Der Pick-up fuhr an Kabul vorbei und über Land bis zu der Landstraße, die südwärts nach Ghazni und Kandahar führt. Dort wartete wie in jeder Nacht eine lange Kolonne von Fahrzeugen, die in ganz Asien als »Jingly Trucks« bekannt sind.

Sie alle sehen aus, als wären sie vor hundert Jahren gebaut worden. Fauchend und grollend schleichen sie über jede Straße im Mittleren und Fernen Osten und stoßen dicke schwarze Rauchwolken aus. Oft stehen sie mit einer Panne am Straßenrand, und der Fahrer muss meilenweit laufen, um das benötigte Ersatzteil zu finden und zu kaufen.

Anscheinend überwinden sie dennoch die steilsten Gebirgspässe und rollen auf holprigen Pisten an kahlen Berghängen entlang. Manchmal sieht man das ausgebrannte Skelett eines solchen Trucks auf dem Grund einer Schlucht neben der Straße liegen. Aber sie sind das Blut in den Adern des Handels eines ganzen Kontinents, und sie bringen eine unglaubliche Vielfalt von Waren in die winzigsten und entlegensten Siedlungen und zu den Menschen, die dort leben.

Wegen ihrer Verzierungen haben die Briten sie schon vor vielen Jahren »Jingly Trucks« getauft. Jede freie Fläche ist mit religiösen und historischen Szenen sorgsam bemalt. Man sieht Bilder aus dem Christentum, Islam, Hinduismus, Sikhismus und Buddhismus, oft prachtvoll zusammengemixt. Außerdem sind sie behängt mit Girlanden, Flitter und kleinen Glöckchen. Sie klingeln – daher »Jingly Trucks«.

In der Schlange auf der Landstraße südlich von Kabul standen ein paar hundert davon. Die Fahrer schliefen in ihren Kabinen und warteten auf den Morgen. Rutschend kam der Pick-up neben der Schlange zum Stehen. Mike Martin sprang hinunter und ging nach vorn. Das Gesicht des Mannes am Steuer war mit einem karierten Tuch verhüllt.

Brigadier Yusuf auf dem Beifahrersitz nickte nur stumm. Das Ende der Straße. Der Anfang der Reise. Als Martin sich abwandte, hörte er die Stimme des Fahrers.

»Viel Glück, Boss.«

Wieder diese Anrede. Nur SAS-Männer nannten ihre Offiziere »Boss«. Der amerikanische Provost Major in Bagram hatte nicht nur nicht gewusst, wer sein Gefangener war, er ahnte auch nichts davon, dass die afghanischen Special Forces nach dem Amtsantritt von Präsident Hamid Karsai auf dessen Bitte hin vom britischen SAS ins Leben gerufen und ausgebildet worden waren.

Martin ging an der Reihe der Lastwagen entlang. Hinter ihm verschwanden die Heckleuchten des Pick-ups, der jetzt nach Kabul zurückfuhr. Der SAS-Sergeant am Steuer rief über sein Handy eine Nummer in Kabul an. Sein Vorgesetzter nahm den Anruf entgegen. Der Sergeant sagte zwei Worte und trennte die Verbindung.

Auch der Afghanistan-Chef des SIS telefonierte auf einer abhörsicheren Leitung. In Kabul war es halb vier Uhr morgens, in Schottland elf Uhr abends. Auf einem der Monitore erschien eine einzeilige Meldung. Phillips und McDonald waren bereits im Raum und hofften zu sehen, was sie jetzt sahen: »Crowbar läuft.«

Auf der eisigen, von Schlaglöchern übersäten Landstraße warf Mike Martin einen letzten Blick zurück. Die roten Schlusslichter des Pick-ups waren verschwunden. Er ging weiter. Nach hundert Schritten war er der Afghane.

Er wusste, was er suchte, aber er fand es erst, als er viele Lastwagen passiert hatte. Ein Nummernschild aus Karachi, Pakistan. Der Fahrer so eines Lasters würde kaum Paschtune sein und deshalb nicht merken, dass Martins Paschto nicht perfekt war. Wahrscheinlich war es ein Belutschi auf dem Heimweg in die pakistanische Provinz Belutschistan.

Für die Lastwagenfahrer war es noch zu früh zum Aufstehen, und es wäre unklug, einen von ihnen zu wecken: Müde Männer, die plötzlich geweckt wurden, waren nicht in bester Laune, und für Martin war es wichtig, dass der Fahrer großzügig gestimmt war. Also rollte er sich frierend für zwei Stunden unter dem Laster zusammen.

Gegen sechs regte sich erstes Leben, und der Himmel im Osten färbte sich rosig. Am Straßenrand zündete jemand ein Feuer an und hängte einen Wasserkessel darüber. In Zentralasien dreht sich ein großer Teil des Lebens um das Teehaus, das chaikhanna, das manchmal nur aus einem Feuer, einer Kanne Tee und ein paar Männern besteht. Martin stand auf, ging zu dem Feuer und wärmte sich die Hände.

Der Teekocher war ein Paschtune von der wortkargen Sorte, was Martin nur recht sein konnte. Martin hatte den Turban abgenommen und in seiner Schultertasche verstaut. Es wäre unklug, sich als Talib zu erkennen zu geben, solange er nicht wusste, dass er damit auf Sympathie stieß. Mit einer Hand voll Afghanis bezahlte er für einen Becher Tee und trank dankbar. Ein paar Minuten später kletterte der Belutschi schlaftrunken aus seinem Führerhaus und kam herüber, um sich einen Tee zu holen.

Es wurde heller. Einige Lastwagen erwachten mit dicken schwarzen Rauchwolken zum Leben. Der Belutschi ging zu seinem Wagen zurück. Martin folgte ihm.

»Ich grüße dich, mein Bruder.«

Der Belutschi erwiderte den Gruß, aber nicht ohne Misstrauen.

»Fährst du zufällig nach Süden, zur Grenze nach Spin Boldak?«

Wenn der Mann nach Pakistan zurückwollte, würde er die Grenze in dieser kleinen Grenzstadt südlich von Kandahar überschreiten. Bis dahin würde auf Martins Kopf ein Preis ausgesetzt sein. Die Grenzkontrollen würde er zu Fuß umgehen müssen.

»Wenn es Allah gefällt«, antwortete der Belutschi.

»Würdest du im Namen des Allbarmherzigen einen armen Mann, der zu seiner Familie will, mitfahren lassen?«

Der Belutschi überlegte. Normalerweise begleitete ihn sein Vetter auf diesen langen Fahrten nach Kabul, aber jetzt lag er krank in Karachi. Er hatte die Fahrt allein gemacht, und das war anstrengend.

»Kannst du so einen fahren?«, fragte er.

»Ich bin viele Jahre lang Lastwagenfahrer gewesen.«

So fuhren sie in geselligem Schweigen nach Süden und hörten die orientalische Popmusik aus dem alten Plastikradio, das auf dem Armaturenbrett klemmte. Es kreischte und pfiff aus dem Lautsprecher, und Martin war nicht sicher, ob es Störungen waren oder ob es zur Musik gehörte.

Der Tag nahm seinen Lauf. Dröhnend fuhren sie durch Ghazni und weiter nach Kandahar. Unterwegs machten sie Halt, um Tee zu trinken und zu essen – das übliche Ziegenfleisch mit Reis – und um zu tanken. Martin steuerte von seinem Bündel Afghanis etwas zu den Kosten bei, worauf der Belutschi noch freundlicher wurde.

Martin sprach weder Urdu noch den Belutschidialekt, und der Mann aus Karachi konnte nur ein paar Worte Paschto, aber mit Hilfe von Gesten und ein wenig Koran-Arabisch verständigten sie sich gut.

Nördlich von Kandahar hielten sie wieder an, um zu übernachten, denn der Belutschi wollte im Dunkeln nicht fahren. Sie waren jetzt in der Provinz Zabol, einem wilden Land, bevölkert von wilden Menschen. Es war sicherer, bei Tageslicht inmitten von Hunderten anderer Lastwagen zu fahren. Nachts würden Banditen unterwegs sein.

Als sie die Ortschaften am Nordrand von Kandahar erreichten, behauptete Martin, er sei müde, und rollte sich auf der Bank hinter den Vordersitzen zusammen, die dem Belutschi als Koje diente. Kandahar war Hauptquartier und Festung der Taliban gewesen, und Martin wollte nicht, dass irgendein geläuterter Talib in einem vorbeifahrenden Lastwagen einen alten Freund zu erkennen glaubte.

Südlich von Kandahar löste er den Belutschi am Steuer ab. Es war noch Nachmittag, als sie in Spin Boldak ankamen. Martin behauptete, er lebe am Nordrand der Stadt, verabschiedete sich dankbar von seinem Gastgeber und stieg ein paar Meilen vor der Grenzkontrolle aus.

Weil der Belutschi kein Paschto verstand, hatte er die ganze Zeit einen Popsender laufen lassen und keine Nachrichten gehört. An der Grenze war die Warteschlange noch länger als sonst, und als er schließlich an die Schranke herangerollt war, zeigte man ihm ein Foto. Ein schwarzbärtiger Talib schaute ihn an.

Er war ein ehrlicher, hart arbeitender Mann. Er wollte nach Hause zu seiner Frau und seinen vier Kindern. Das Leben war schon schwer genug. Warum sollte er Tage, vielleicht Wochen, in einem afghanischen Gefängnis verbringen und immer wieder beteuern, er habe keine Ahnung gehabt?

»Beim Propheten, den habe ich noch nie gesehen«, schwor er, und sie ließen ihn durchfahren.

Nie wieder, dachte er, als er auf der Straße nach Quetta südwärts weiterrumpelte. Vielleicht stammte er aus der korruptesten Stadt in ganz Asien, aber zumindest wusste man in seiner eigenen Heimatstadt, woran man war. Die Afghanen waren nicht sein Volk. Warum sollte man sich von ihnen in irgendetwas hineinziehen lassen? Er fragte sich, was der Talib verbrochen haben mochte.

Martin war gewarnt worden: Die Entführung des Gefängnisbusses, die Ermordung zweier Gefängniswärter und die Flucht eines Rückkehrers aus Guantanamo Bay würden sich nicht vertuschen lassen. Als Erstes würde die amerikanische Botschaft Alarm schlagen.

Der Schauplatz des »Mordes« war von einer Patrouille entdeckt worden, die man von Bagram heraufgeschickt hatte, als der Bus nicht im Gefängnis angekommen war. Dass er seine militärische Eskorte verloren hatte, war mit Inkompetenz erklärt worden. Aber die Befreiung des Gefangenen war eindeutig das Werk einer kriminellen Bande übrig gebliebener Taliban. Auf sie machte man jetzt Jagd.

Leider ließ sich nicht verhindern, dass die US-Botschaft der Karsai-Regierung ein Foto anbot. Die CIA und der Chef der SIS-Niederlassung bemühten sich, den Vorgang zu bremsen, aber viel konnten sie nicht tun. Martin war immer noch nördlich von Spin Boldak, als alle Grenzposten ein Fax dieses Fotos erhalten hatten.

Obwohl er davon nichts wusste, war er entschlossen, bei Grenzüberschreitungen kein Risiko einzugehen. Er versteckte sich in den Bergen oberhalb von Spin Boldak und wartete auf die Nacht. Von seiner hohen Warte aus konnte er das Land übersehen und sich überlegen, welchen Weg er bei dem bevorstehenden Nachtmarsch nehmen würde.

Die Kleinstadt lag fünf Meilen vor und eine halbe Meile unter ihm. Er sah die Straße, die sich hinschlängelte, und die Lastwagen, die sie befuhren. Er sah auch die massige alte Burg, die einst eine Festung der britischen Armee gewesen war.

Er wusste, dass die britische Armee bei der Eroberung dieser Festung zum letzten Mal mittelalterliche Sturmleitern eingesetzt hatte. Im Schutz der Nacht hatten sie sich herangeschlichen, und abgesehen vom Geschrei der Maultiere, dem Klappern der Kellen an den Kesseln und dem Fluchen der Soldaten, die sich im Dunkeln die Zehen anstießen, waren sie mucksmäuschenstill gewesen, um die Besatzung nicht zu wecken.

Die Leitern waren drei Meter zu kurz, daher stürzten sie mit hundert Soldaten krachend in den Graben. Zum Glück vermuteten die paschtunischen Verteidiger, die sich hinter die Mauern duckten, die angreifende Streitmacht müsse gewaltig sein, und so flüchteten sie durch die Hintertür in die Berge. Die Festung fiel, ohne dass ein Schuss abgefeuert wurde.

Vor Mitternacht stahl sich Martin an ihren Mauern vorbei, durch die Stadt und über die Grenze nach Pakistan. Bei Sonnenaufgang hatte er zehn Meilen auf der Straße nach Quetta zurückgelegt. In einem chaikhanna wartete er, bis ein Lastwagen vorbeikam, der zahlende Passagiere mitnahm, und fuhr mit ihm nach Quetta. Endlich war der schwarze Taliban-Turban, der in dieser Gegend sofort erkannt wurde, ein Vorteil und keine Belastung. Und so ging es weiter.

Wenn Peschawar eine ziemlich extreme Islamistenstadt ist, so ist Quetta es noch mehr; nur Miram Schahr übertrifft es noch in seiner glühenden Sympathie für al-Qaida. Beide liegen in den nordwestlichen Grenzprovinzen, in denen regionales Stammesrecht regiert. Formal gesehen gehört dieses Land nicht mehr zu Afghanistan, aber die Paschtunen sind die beherrschende Volksgruppe, und beherrschend sind auch die paschtunische Sprache und die extreme Hingabe an einen ultratraditionellen Islam. Der Taliban-Turban ist das Kennzeichen eines Mannes, mit dem man rechnen muss.

Die Hauptstraße, die von Quetta weiter nach Süden führt, ist die Straße nach Karachi, aber Martin hatte den Rat bekommen, eine kleinere Landstraße zu nehmen, die nach Südwesten ging und in der unangenehmen Hafenstadt Gwador endete.

Diese Stadt liegt kurz vor der iranischen Grenze am extremen westlichen Rand von Belutschistan. Früher ein verschlafenes und übel riechendes Fischerdorf, hat sie sich zu einem bedeutenden Umschlaghafen entwickelt, der hauptsächlich dem Schmuggel dient, vor allem dem Opiumschmuggel. Der Islam verurteilt den Genuss von Rauschgift, aber das gilt nur für Muslime. Wenn die Ungläubigen im Westen sich vergiften und für dieses Privileg auch noch gut bezahlen wollen, berührt das die wahren Diener Allahs und Anhänger des Propheten nicht.

Und so wird der Mohn im Iran, in Pakistan und vor allem in Afghanistan angebaut, an Ort und Stelle zu Morphinbase raffiniert und dann in den Westen geschmuggelt, wo er zu tödlichem Heroin wird. In diesem heiligen Handel spielt Gwador seine Rolle.

In Quetta hatte Martin, der jedes Gespräch mit Paschtunen mied, die ihn demaskieren könnten, wieder einen Belutschi gefunden, der mit seinem Lastwagen nach Gwador unterwegs war. Erst in Quetta erfuhr Martin, dass man ein Kopfgeld von fünf Millionen Afghani auf ihn ausgesetzt hatte – aber nur in Afghanistan.

Drei Tage nachdem er die Worte »Viel Glück, Boss« gehört hatte, stieg er aus dem Lastwagen und ließ sich dankbar auf ein Glas grünen Tee in einem Straßencafe nieder. Er wurde erwartet, aber nicht von Einheimischen.

 

Der erste der beiden Predators hatte Thumrai vierundzwanzig Stunden zuvor verlassen. Im Rotationsflug würden die Drohnen Tag und Nacht über dem ihnen zugewiesenen Überwachungsbereich patrouillieren.

Der UAV-RQ1L-Predator, gebaut bei General Atomics, macht äußerlich nicht viel her. Er sieht aus, als komme er geradewegs aus dem Skizzenblock eines Luftfahrtingenieurs.

Er ist acht Meter lang und dünn wie ein Bleistift. Seine schrägen Möwenflügel haben eine Spannweite von vierzehn Metern. Im Heck sitzt ein 113-PS-Rotax-Propellertriebwerk, das sich sehr sparsam aus einem 400-Liter-Tank speist.

Mit diesem kümmerlichen Antrieb kann der Predator eine Geschwindigkeit von bis zu 117 Knoten erreichen oder mit gemächlichen 73 Knoten dahersegeln. Die maximale Flugzeit beträgt vierzig Stunden, aber bei einem normalen Einsatz würde er sich in einem Radius von vierhundert nautischen Meilen von seiner Heimatbasis entfernen, vierundzwanzig Stunden über seinem Zielgebiet verbringen und dann wieder nach Hause fliegen.

Da es sich um einen heckgetriebenen Schubflugkörper handelt, befinden sich die Steuerelemente vorn. Sie lassen sich manuell bedienen oder durch ein Computerprogramm veranlassen, das Erforderliche so lange zu tun, bis neue Anweisungen kommen.

Das eigentlich Geniale am Predator verbirgt sich in seiner Knollennase: die abnehmbare Skyball-Bordelektronik.

Die gesamte Kommunikation ist aufwärts gewandt und kommuniziert mit Satelliten im Weltraum: Diese empfangen das gesamte Fotomaterial und die abgehörten Gespräche und senden sie weiter an die Basis.

Nach unten gerichtet sind das Synthetic Aperture Radar vom Typ Lynx und die L-3-Wescam-Fotografieeinheit. Modernere Versionen der Drohne, wie die beiden über Oman eingesetzten, können mit ihrem multispektralen Zielerfassungssystem Dunkelheit, Wolken, Regen, Hagel und Schnee durchdringen.

Nach dem Einmarsch in Afghanistan, als die schönsten Ziele ausgemacht, aber nicht rechtzeitig angegriffen werden konnten, wanderte der Predator zurück zum Hersteller, der eine neue Version entwickelte. Sie war mit der Hellfire-Rakete ausgerüstet, und das »Auge im Himmel« war nun bewaffnet.

Zwei Jahre später verließ der jemenitische al-Qaida-Chef zusammen mit vier seiner Komplizen sein unsichtbar im Landesinneren verborgenes Camp in einem Toyota Land Cruiser. Er wusste es nicht, aber auf einem Monitor in Tampa, Florida, beobachteten ihn dabei mehrere amerikanische Augenpaare.

Auf Kommando verließ die Hellfire den Bauch des Predators, und Sekunden später war der Land Cruiser mitsamt seinen Insassen einfach verdampft. Und auf einem Plasmabildschirm in Florida war das alles in Farbe mit anzusehen.

Die beiden Predators, die in Thumrait stationiert waren, hatten keine Waffen an Bord. Ihre einzige Aufgabe bestand darin, in zwanzigtausend Fuß Höhe zu kreisen, unsichtbar, unhörbar, immun gegen Radar, und das Land und das Meer unter ihnen zu beobachten.

 

In Gwador gab es vier Moscheen, aber diskrete britische Anfragen beim pakistanischen ISI ergaben, dass die vierte und kleinste als Treibhaus fundamentalistischer Agitation galt. Wie die meisten kleineren Moscheen hatte sie nur einen Imam und lebte von den Spenden der Gläubigen. Hier war es Imam Abdullah Halabi, der sie gegründet hatte und immer noch leitete.

Er kannte seine Gemeinde gut, und wenn er von seinem erhöhten Stuhl den Vorsitz beim Gebet führte, konnte er einen Gast auf den ersten Blick erkennen. Der schwarze Taliban-Turban fiel ihm sofort ins Auge, obwohl er ganz hinten geblieben war.

Noch bevor der schwarzbärtige Fremde am Ende seine Sandalen wieder anziehen und im Gedränge der Straße verschwinden konnte, zog der Imam ihn am Ärmel.

»Der Gruß des allbarmherzigen Herrn sei mit dir«, sagte er leise. Er sprach Arabisch, nicht Urdu.

»Und mit dir, Imam«, erwiderte der Fremde. Auch er sprach Arabisch, doch der Imam bemerkte den paschtunischen Akzent. Sein Verdacht war bestätigt: Der Mann kam aus den Stammesterritorien.

»Meine Freunde und ich gehen jetzt in die mafada«, sagte er. »Möchtest du mit uns kommen und Tee trinken?«

Der Paschtune überlegte einen Moment lang und neigte dann würdevoll den Kopf. Zu den meisten Moscheen gehört eine mafada, eine Art Club für entspannte gesellige Zusammenkünfte, Plaudereien und religiöse Unterweisung. Im Westen geschieht die extremistische Indoktrination von Teenagern oft dort.

»Ich bin Imam Halabi. Hat unser neuer Freund auch einen Namen?«

Ohne zu zögern, nannte Martin den Vornamen des afghanischen Präsidenten und den Namen des Brigadiers der Special Forces.

»Ich bin Hamid Yusuf.«

»Sei willkommen, Hamid Yusuf«, sagte der Imam. »Ich sehe, du wagst es, den Turban der Taliban zu tragen. Warst du einer von ihnen?«

»Seit ich 1995 in Kandahar zu Mullah Omar kam.«

Ein Dutzend Männer saßen in der mafada, einem schäbigen Schuppen hinter der Moschee. Tee wurde serviert. Martin bemerkte, dass einer der Männer ihn anstarrte. Dann zog der Mann den Imam aufgeregt beiseite und fing hastig an zu tuscheln. Niemals, erklärte er, werde er auch nur im Traum daran denken, sich das Fernsehen mit seinen schmutzigen Bildern anzusehen, aber er sei an einem Geschäft vorbeigekommen, und da habe ein Gerät im Fenster gestanden,

»Ich bin sicher, das ist der Mann«, zischelte er. »Er ist vor nur drei Tagen aus Kabul entkommen.«

Martin verstand kein Urdu, aber er wusste, dass die Rede von ihm war. Der Imam mochte alles Westliche und Moderne verabscheuen, doch wie die meisten fand er die verdammenswerten Handys sehr praktisch, auch wenn sie von Nokia im christlichen Finnland hergestellt wurden. Er befahl drei Freunden, den Fremden in ein Gespräch zu verwickeln und ihn nicht gehen zu lassen. Dann zog er sich in sein bescheidenes Quartier zurück und tätigte mehrere Anrufe. Sehr beeindruckt kehrte er zurück.

Ein Talib der ersten Stunde, durch die Amerikaner seiner Familie und seiner ganzen Sippe beraubt, Befehlshaber der halben Nordfront bei der Yankee-Invasion, Anführer beim Aufbrechen der Waffenkammer in Qala-i-Jangi, fünf Jahre in der amerikanischen Hölle überlebt, den Klauen des Marionettenregimes in Kabul entronnen – dieser Mann war kein Flüchtling, er war ein Held.

Imam Halabi mochte Pakistani sein, aber die Regierung in Islamabad verabscheute er leidenschaftlich wegen ihrer Zusammenarbeit mit den Amerikanern. Seine ganze Sympathie gehörte al-Qaida. Und gerechtigkeitshalber muss man sagen, dass die fünf Millionen Afghanis, die ihn für den Rest seines Lebens zu einem reichen Mann machen würden, ihn nicht einen Augenblick lang in Versuchung führten.

Er kehrte in die mafada zurück und winkte den Fremden zu sich.

»Ich weiß, wer du bist«, flüsterte er. »Du bist derjenige, den sie ›den Afghanen‹ nennen. Bei mir bist du sicher, aber in Gwador nicht. Agenten des ISI sind überall, und auf deinen Kopf ist eine Belohnung ausgesetzt. Wo wohnst du jetzt?«

»Nirgends. Ich komme gerade aus dem Norden«, sagte Martin.

»Ich weiß, woher du kommst; man hört es in allen Nachrichten. Du musst hierbleiben, aber nicht lange. Irgendwie musst du Gwador verlassen. Du brauchst Papiere, eine neue Identität, eine sichere Reisemöglichkeit. Vielleicht kenne ich jemanden.«

Er schickte einen kleinen Jungen aus seiner madrasa zum Hafen. Das Boot, das er suchte, war nicht da. Es kam vierundzwanzig Stunden später. Aber der Junge wartete geduldig am Kai, wo es immer anlegte.

Faisal bin Selim war in Qatar geboren, Sohn eines armen Fischers in einer Hütte am Ufer eines schlammigen Flüsschens in der Nähe eines Dorfes, aus dem später die betriebsame Hauptstadt Doha werden sollte. Aber das geschah nach der Entdeckung des Öls, dem Zusammenschluss der arabischen Vertragsstaaten zu den Vereinigten Emiraten, dem Abzug der Briten, dem Eintreffen der Amerikaner, und lange bevor das Geld hereinströmte wie eine tosende Flut.

In seiner Kindheit hatte er nur die Armut gekannt, die automatische Verneigung vor den hochherrschaftlichen weißhäutigen Fremden. Doch von frühester Jugend an war Bin Selim entschlossen gewesen, es in der Welt zu etwas zu bringen. Den Weg dazu suchte er da, wo er sich auskannte: auf dem Meer. Er wurde Deckmatrose auf einem Küstenfrachter, und während sein Schiff von der Insel Masirah und von Salalah in der omanischen Provinz Dhofari zu den Häfen von Kuwait und Bahrain am Ende des Persischen Golfs hinauffuhr, lernte er mit seinem wachen Verstand eine ganze Menge.

Er lernte, dass es immer jemanden gab, der etwas zu verkaufen hatte und bereit war, es billig zu verkaufen. Und irgendwo gab es auch immer jemanden, der es kaufen und gut dafür bezahlen wollte. Zwischen diesen beiden stand eine Einrichtung namens Zoll. Faisal bin Selim gelangte durch Schmuggel zu Wohlstand.

Auf seinen Reisen sah er vieles, das er zu bewundern lernte: schöne Kleider und Teppiche, islamische Kunst, wahre Kultur, alte Koranschriften, kostbare Manuskripte und die Schönheit großer Moscheen. Und andere Dinge, die er sah, lernte er zu verachten: reiche Westler, hummerrote Schweinsgesichter in der Sonne, abstoßende Weiber in winzigen Bikinis, betrunkene Kerle, all das unverdiente Geld.

Die Tatsache, dass die Herrscher der Golfstaaten ebenfalls von dem Geld profitierten, das da in schwarzen Strömen aus dem Wüstensand floss, entging ihm nicht. Und als auch sie westliche Gewohnheiten zur Schau trugen, importierten Alkohol tranken und mit den goldenen Huren schliefen, begann er sie genauso zu verachten.

Als er Mitte vierzig war, zwanzig Jahre bevor ein kleiner Belutschi im Hafen von Gwador auf ihn wartete, waren mit Faisal bin Selim zwei Dinge geschehen.

Er hatte genug Geld verdient und gespart, um ein Frachtschiff in Auftrag zu geben, zu bezahlen und zu besitzen, eine prachtvolle hölzerne Dhau, die von den besten Handwerkern in Sur, Oman, gebaut wurde und Rasha hieß: die Perle. Und er war ein fanatischer Wahhabit geworden.

Als die neuen Propheten aufstanden, die den Lehren des Maududi und Sayyid Qutb folgten, riefen sie den Dschihad gegen die Mächte der Ketzerei und der Verlotterung aus, und er war dabei. Als junge Männer nach Afghanistan gingen, um gegen die gottlosen Sowjets zu kämpfen, begleiteten sie seine Gebete; als andere mit Passagierflugzeugen in die Türme des westlichen Götzen namens Mammon flogen, kniete er nieder und betete, dass sie tatsächlich in die Gärten Allahs eingehen mögen.

In den Augen der Welt blieb er der höfliche, sparsam lebende, gewissenhafte und fromme Kapitän und Eigner der Rasha. Sein Gewerbe führte ihn an der ganzen Golfküste entlang und weiter in die Arabische See. Er suchte keine Schwierigkeiten, aber wenn ein wahrer Gläubiger seine Hilfe brauchte, sei es in Form einer Spende, sei es die Passage an einen sicheren Ort, dann tat er für ihn, was er konnte.

Westliche Sicherheitskräfte waren auf ihn aufmerksam geworden, weil ein saudischer al-Qaida-Aktivist – er war in Hadramaut gefasst worden und hatte in einer Zelle in Riad ein umfassendes Geständnis abgelegt – geäußert hatte, dass ultrageheime Botschaften, bestimmt für Bin Laden persönlich und so geheim, dass sie nur verbal einem Boten anvertraut werden konnten, der sie dann auswendig lernte, die saudische Halbinsel gelegentlich per Schiff verließen. Der Bote werde an der Küste Belutschistans abgesetzt und gehe von dort nach Norden, in die unbekannten Höhlengebiete von Wasiristan, wo der Scheich sich aufhalte. Das Schiff sei die Rasha.

Die Rasha wurde nicht aufgebracht, aber sie wurde mit dem Einverständnis und der Unterstützung des ISI beobachtet.

Faisal bin Selim kam mit einer Ladung Weißware aus dem Freihafen von Dubai in Gwador an. Dort waren Kühlschränke, Waschmaschinen, Mikrowellenherde und auch Fernsehapparate zu einem Bruchteil dessen zu haben, was sie außerhalb der Zolllager kosteten.

Er hatte den Auftrag, eine Ladung pakistanischer Teppiche mit zurück an den Golf zu nehmen, geknüpft von den flinken Fingern kleiner Sklavenjungen, bestimmt für die Füße reicher Westler in den Luxusvillen auf den Inseln vor der Küste von Dubai und Qatar.

Ernst hörte er sich die Nachricht des Jungen an und nickte dann. Zwei Stunden später, als er seine Ladung wohlbehalten, und ohne die pakistanischen Zöllner zu belästigen, auf den Weg ins Landesinnere gebracht hatte, ließ er die Rasha in der Obhut seines Deckmatrosen, eines Omani, und wanderte gelassen durch Gwador zur Moschee.

Nach langen Jahren des Handels mit Pakistan sprach der höfliche Araber ein gutes Urdu, und er und der Imam unterhielten sich in dieser Sprache. Er trank seinen Tee, knabberte süße Kuchen und wischte sich die Finger mit einem kleinen Baumwolltaschentuch ab. Zwischendurch betrachtete er den Afghanen und nickte. Als er von dem Ausbruch aus dem Gefängnisbus hörte, lächelte er beifällig und wechselte ins Arabische.

»Und du möchtest Pakistan verlassen, mein Bruder?«

»Für mich ist hier kein Platz«, sagte Martin. »Der Imam hat Recht. Die Geheimpolizei wird mich finden und zu den Hunden in Kabul zurückbringen. Eher beende ich mein Leben.«

»Das wäre schade«, murmelte der Quatari, »so weit … ein solches Leben. Und wenn ich dich in die Golfstaaten bringe, was wirst du dann tun?«

»Ich werde versuchen, andere Wahre Gläubige zu finden, und ihnen anbieten, zu tun, was ich kann.«

»Und was könnte das sein? Was kannst du tun?«

»Ich kann kämpfen. Und ich bin bereit, in Allahs heiligem Krieg zu sterben.«

Der höfliche Kapitän dachte eine Zeit lang nach.

»Die Verladung der Teppiche findet im Morgengrauen statt«, sagte er schließlich. »Sie wird ein paar Stunden dauern. Sie müssen gut unter Deck verstaut werden, damit die Gischt ihnen nichts anhaben kann. Dann werde ich mit herabgelassenen Segeln ablegen und dicht am Ende der Hafenmole vorbeifahren. Wenn ein Mann von dort auf das Deck springen wollte, würde es niemand bemerken.«

Nach einer rituellen Verabschiedung ging er. Der Junge führte Martin im Dunkeln zum Hafen. Dort sah er sich die Rasha genau an, damit er sie am nächsten Morgen erkennen würde. Kurz vor elf glitt sie an der Mole vorbei. Die Lücke war zweieinhalb Meter breit, und nach einem kurzen Anlauf übersprang Martin sie knapp.

Der Omani stand am Steuer. Faisal bin Selim begrüßte Martin mit sanftem Lächeln. Er bot seinem Gast frisches Wasser an, damit er sich die Hände waschen konnte, und gab ihm köstliche Datteln aus Muscat.

Am Mittag breitete der ältere Mann zwei Matten vor dem Süll des Laderaums aus. Seite an Seite knieten die beiden zum Gebet nieder. Für Martin war es das erste Mal, dass er nicht in einer Menge betete, in der eine einzelne Stimme von den anderen übertönt wurde. Sein Gebet war Wort für Wort perfekt.

 

Wenn ein Agent weit draußen in der Kälte ist, auf einer »schwarzen«, gefahrvollen Mission, sind seine Führungsoffiziere zu Hause erpicht auf jedes Zeichen dafür, dass er wohlauf ist, dass er noch lebt, noch frei ist, noch funktioniert. Dieses Zeichen kann von dem Agenten selbst kommen, durch einen Telefonanruf, eine kleine Anzeige in der Zeitung, ein Kreidezeichen an einer Wand, eine am vereinbarten Ort hinterlegte Mitteilung. Es kann von einem Beobachter kommen, der keinen Kontakt mit dem Agenten aufnimmt, ihn aber im Auge behält und meldet, was er sieht. Man nennt es »Lebenszeichen«. Nach tagelangem Schweigen werden die Führungsoffiziere sehr nervös.

Es war Mittag in Thumrait, Frühstückszeit in Schottland, Nacht in Tampa. Thumrait und Tampa konnten sehen, was der Predator sah, doch sie wussten nicht, was es bedeutete – sie brauchten es nicht zu wissen, und so hatte man es ihnen nicht gesagt. Aber Edzell Air Base wusste es.

Mit kristallklarer Deutlichkeit sah man, wie der Afghane die Stirn auf das Deck senkte und das Gesicht zum Himmel hob, auf und ab, und an Deck der Rasha sein Gebet sprach. Vor den Bildschirmen in der Operationszentrale brach lauter Jubel los. Wenige Sekunden danach nahm Steve Hill am Frühstückstisch einen Anruf entgegen, sprang dann auf und gab seiner Frau ganz unverhofft einen leidenschaftlichen Kuss.

Zwei Minuten später klingelte auch das Telefon neben Marek Gumiennys Bett in Old Alexandria. Er wachte auf, hörte zu, lächelte, murmelte »Bravo« und schlief wieder ein. Der Afghane war noch auf Kurs.