SIEBZEHN

David Gundlach schätzte, dass er den besten Job der Welt hatte. Den zweitbesten auf jeden Fall. Den vierten goldenen Streifen am Ärmel und auf der Epaulette zu haben und Kapitän des Schiffs zu sein wäre noch besser, aber er war auch glücklich und zufrieden als Erster Offizier.

An einem Abend im April stand er im Steuerbordflügel der riesigen Brücke und sah hinunter auf das Menschengewimmel sechzig Meter unter ihm auf dem Kai des neuen Brooklyn Terminal. Brooklyn überragte ihn nicht; aus der Höhe eines dreiundzwanzigstöckigen Gebäudes schaute er auf den größten Teil hinunter.

Pier zwölf am Buttermilk Channel, der an diesem Abend eröffnet wurde, war kein kleiner Liegeplatz, aber dieses Passagierschiff füllte ihn ganz aus: Mit 345 Metern Länge, 41 Metern Breite und 10 Metern Tiefgang – dafür hatte die Fahrrinne vertieft werden müssen – war sie mit Abstand das größte Passagierschiff auf den Weltmeeren. Je länger der Erste Offizier Gundlach, auf seiner ersten Überfahrt seit seiner Beförderung, sie anschaute, desto prachtvoller kam sie ihm vor.

Tief unter ihm und weit hinten in den Straßen jenseits der Terminal-Gebäude sah er die Transparente der zornigen und frustrierten Demonstranten. Mit großer Effizienz hatte die New Yorker Polizei den gesamten Terminal einfach abgesperrt. Boote der Hafenpolizei umschwärmten das Terminal zu Wasser und stellten sicher, dass keine Protestierer sich per Boot nähern konnten.

Selbst wenn es ihnen gelungen wäre, hätte es nichts genutzt. Der stählerne Rumpf des Liners ragte turmhoch über die Wasserlinie. Die niedrigsten Bullaugen lagen mehr als fünfzehn Meter hoch. So konnten diejenigen, die heute Abend an Bord gingen, das völlig ungestört tun.

Nicht, dass sie für die Demonstranten von Interesse gewesen wären. Einstweilen nahm das Schiff nur die unteren Chargen an Bord: Stenografinnen, Sekretärinnen, Diplomaten des niederen Dienstes, Sonderberater und all die anderen menschlichen Ameisen, ohne die die Großen und Guten dieser Welt anscheinend nicht über Hunger, Armut, Sicherheit, Handelsschranken, Verteidigung und Bündnisse diskutieren konnten.

Bei dem Gedanken an Sicherheit runzelte David Gundlach die Stirn. Er und seine Offizierskollegen hatten den ganzen Tag über Scharen von Agenten des amerikanischen Secret Service auf dem Schiff herumgeführt und ihnen jeden Zollbreit gezeigt. Sie sahen alle gleich aus: Alle zogen konzentriert die Stirn kraus, alle plapperten in ihre Ärmel, wo die Mikrofone versteckt waren, und alle hörten die Antworten in ihren Ohrhörern, ohne die sie sich nackt fühlten. Gundlach war am Ende zu dem Schluss gekommen, dass sie alle professionell paranoid waren – und sie hatten nichts auszusetzen gehabt.

Die zwölfhundertköpfige Besatzung war durchleuchtet und auf Herz und Nieren geprüft worden, und bei keinem einzigen hatte sich auch nur der Schimmer eines Zweifels ergeben. Das für den US-Präsidenten und die First Lady reservierte Grand Duplex Apartment war bereits versiegelt und wurde vom Secret Service bewacht, nachdem man es Zoll für Zoll durchsucht hatte. Jetzt, nachdem er es zum ersten Mal erlebt hatte, wurde David Gundlach klar, dass dieser Kokon den Präsidenten wahrscheinlich ständig umgeben musste.

Er sah auf die Uhr. Noch zwei Stunden, dann wäre das Boarding der dreitausend Passagiere beendet, und die acht Staats- und Regierungschefs würden eintreffen. Wie schon die Diplomaten in London bewunderte auch er die genial einfache Idee, für das größte und angesehenste Gipfeltreffen der Welt das größte und luxuriöseste Passagierschiff der Welt zu chartern, und das für eine fünftägige Atlantiküberquerung von New York nach Southampton.

Dieser Kunstgriff frustrierte all die Kräfte, die gewohnheitsgemäß Jahr für Jahr versuchten, das Treffen ins Chaos zu stürzen. Besser als jeder Berg, besser als jede Insel und Platz für 4200 Menschen – die Queen Mary 2 war unangreifbar.

Gundlach würde neben seinem Kapitän stehen, wenn der Bass der Typhoon-Sirenen sein tiefes »A« ertönen ließe, um sich von New York zu verabschieden. Er würde die vier Mermaid-Pod-Antriebe auf die erforderliche Schubkraft schalten, und mit einem winzigen Joystick an der Steuerkonsole würde der Kapitän die Queen in den East River und den wartenden Atlantik hinausgleiten lassen. So empfindlich waren die Steuerung und so flexibel die Achter-Pods, dass sie auf der Stelle eine 360-Grad-Wende vollführen konnte und keine Schlepper brauchte, um den Terminal zu verlassen.

 

Weit im Osten passierte die Countess of Richmond die Kanarischen Inseln, die fernab an Steuerbord lagen. Die Ferieninseln, auf denen so viele Europäer in der Dezembersonne vor der westafrikanischen Küste Zuflucht vor dem Schnee und Regen ihrer winterlichen Heimat suchen, waren nicht zu sehen – nur den Gipfel des Teide konnte man mit dem Fernglas über dem Horizont ausmachen.

Die Countess hatte noch zwei Tage bis zu ihrem Rendezvous mit der Geschichte. Der indonesische Steuermann hatte seinen Landsmann im Maschinenraum angewiesen, die Maschinen auf »langsame Kraft voraus« zu stellen, und so glitt sie im Schritttempo durch die sanfte Dünung des Aprilabends.

Der Gipfel des Teide versank. Der Steuermann korrigierte den Kurs um ein paar Grad nach Backbord, wo 1600 Meilen weit entfernt die amerikanische Küste lag. Aus dem Weltall wurde sie wieder gesichtet; die Computer empfingen ihre Transpondermeldung, glichen sie mit ihren Daten ab und erklärten sie nochmals für unbedenklich: »Legitimer Frachter. Keine Gefahr.«

Als erste traf die japanische Abordnung ein, der Premierminister mit seinem Gefolge. Verabredungsgemäß waren sie von Tokio geradewegs zum John-F.-Kennedy Airport geflogen. Sie blieben im Transitbereich, wo sie die Demonstranten weder sehen noch hören konnten, und stiegen in die Passagierkabinen einer kleinen Hubschrauberflotte, die sie aus der Jamaica Bay geradewegs nach Brooklyn brachte.

Die Landezone lag innerhalb des Perimeters der großen Hallen und Schuppen, aus denen der neue Terminal bestand. Aus der Perspektive der Japaner verschwanden die Protestler hinter den Absperrungen, wo sie unhörbar vortrugen, was immer sie vorzutragen hatten. Die Rotorblätter kreisten sanft über ihnen, als die Delegation von den Schiffsoffizieren begrüßt und durch einen überdachten Tunnel zum Eingang in der Schiffswand und von dort zu einer der Royal Suites geführt wurden.

Die Hubschrauber starteten und flogen zurück nach JFK, um die eben angekommenen Kanadier abzuholen.

David Gundlach blieb auf der Brücke; sie war fünfzig Meter breit, mit riesigen Panoramafenstern, die freien Blick voraus auf das Meer boten. Obwohl die Brücke in sechzig Metern Höhe lag, verrieten die Scheibenwischer an den Fenstern, dass die Gischt bis hier heraufspritzen würde, wenn der Bug auf die meterhohen Atlantikwellen träfe.

Aber allen Vorhersagen zufolge würde diese Überfahrt ruhig verlaufen, mit sanfter Dünung und leichten Winden. Die Queen würde die Südroute nehmen, den Great Circle, der bei den Passagieren wegen des milderen Wetters und der ruhigeren See beliebter war. So würde sie in einem Bogen über den Atlantik fahren, wo er am schmalsten war, wobei der südliche Scheitelpunkt des Bogens nördlich der Azoren liegen würde.

In reibungsloser Folge trafen Russen, Franzosen, Deutsche und Italiener ein, und der Abend dämmerte, als die Briten, die Eigentümer der Queen Mary 2, mit dem letzten Shuttleflug der Hubschrauberflotte ankamen.

Der amerikanische Präsident, Gastgeber beim Eröffnungsdiner um kurz nach acht, kam Punkt sechs Uhr mit dem gewohnten dunkelblauen Hubschrauber des Weißen Hauses. Eine Marinekapelle auf dem Kai stimmte »Hail to the Chief« an, als er an Bord des Schiffes ging und die stählernen Luken die Außenwelt aussperrten. Um achtzehn Uhr dreißig wurden die letzten Leinen losgemacht, und die Queen Mary, beflaggt und erleuchtet wie eine schwimmende Stadt, glitt hinaus auf den East River.

Auf kleineren Schiffen auf dem Fluss und draußen auf der Reede sahen die Leute ihrer Passage zu und winkten. Hoch über ihnen, hinter gehärteten Glasscheiben, winkten die Staats- und Regierungschefs der acht reichsten Länder der Welt zurück. Die hell beleuchtete Freiheitsstatue zog vorüber, die Inseln blieben zurück, und die Queen Mary beschleunigte gelassen ihre Fahrt.

Die beiden Lenkraketenkreuzer der amerikanischen Atlantikflotte nahmen zu beiden Seiten in ein paar hundert Metern Abstand ihre Begleitposition ein und meldeten sich beim Kapitän. An Backbord fuhr die USS Leyte Gulf, an Steuerbord die USS Monterey. Wie es die Etikette auf See verlangte, bestätigte der Kapitän ihre Anwesenheit und dankte ihnen. Dann verließ er die Brücke, um zum Diner zu gehen. David Gundlach übernahm das Steuer und das Kommando.

Als die Lichter von Long Island hinter dem Konvoi versanken, schaltete der Erste Offizier Gundlach die Maschinen auf optimale Reisegeschwindigkeit. Die vier Mermaid-Pod-Antriebe mit zusammen über 157000 PS konnten die Queen notfalls auf eine Geschwindigkeit von dreißig Knoten bringen. Die normale Reisegeschwindigkeit liegt bei fünfundzwanzig, und die Kreuzereskorte musste ihre Maschinen mit voller Kraft laufen lassen, um Schritt zu halten.

Am Himmel erschien die Lufteskorte: ein Marine-Hubschrauber vom Typ E-C2 Hawkeye mit einem Radargerät, das die Atlantikoberfläche in einem Radius von fünfhundert Meilen rings um den Konvoi ausleuchtete, und ein EA-6B Prowler, der in der Lage war, jedes feindliche Offensivwaffensystem zu blockieren, das den Konvoi ins Visier nähme, und es mit seinen HARM-Raketen zu zerstören.

Die Lufteskorte würde von den USA aus betankt und am Ende der Schicht abgelöst werden, wenn identische Flugzeuge von der US-Basis auf den Azoren die Mission übernehmen könnten. Das letzte Drittel der Reise würden die Briten sichern. Man hatte an alles gedacht.

Das Diner war ein triumphaler Erfolg. Die Staatsmänner strahlten, ihre Gattinnen funkelten, die Küche war nach einhelliger Ansicht superb, und in den Kristallgläsern leuchteten edle Weine.

Die Speisenden folgten dem Beispiel des amerikanischen Präsidenten – zumal da die anderen Delegationen lange Flüge hinter sich hatten – und zogen sich schon früh in ihre Suiten zurück.

Am nächsten Morgen kamen sie zur ersten Plenarsitzung zusammen. Das Royal Court Theatre war so umgebaut worden, dass alle acht Delegationen untergebracht werden konnten. Hinter den Hauptakteuren saß die kleine Armee von Lakaien, die jeder von ihnen anscheinend brauchte.

Der zweite Abend verlief wie der erste, nur dass diesmal der britische Premierminister als Gastgeber in den zweihundert Personen fassenden Queen's Grill geladen hatte. Die weniger bedeutenden Mitreisenden verteilten sich auf das riesige Britannia Restaurant und die zahlreichen Pubs und Bars, wo ebenfalls Essen serviert wurde. Von diplomatischen Verpflichtungen befreit, bevorzugte das jüngere Element nach dem Essen den Queen's Ballroom und den Nightclub G32.

Hoch über ihnen im gedämpften Licht der Brücke führte David Gundlach das Kommando in der Nacht. Vor ihm, gleich unter den großen Fenstern, reihten sich die Plasmabildschirme aneinander, auf denen jedes System des Schiffs abgebildet war. Das wichtigste war das Radar, das in einem Radius von fünfundzwanzig Meilen um das Schiff alles erfasste. Er sah die Lichtpunkte der Kreuzer zu beiden Seiten und dahinter die der anderen Schiffe, die auf dem Atlantik ihren Geschäften nachgingen.

Überdies hatte er ein automatisches Identifikationssystem zur Verfügung, das das Transpondersignal jedes Schiffes im weiten Umkreis lesen konnte, dazu einen Computer, der aufgrund der Daten aus Lloyd's Register nicht nur den Namen jedes Schiffes identifizieren konnte, sondern auch seine Route und seine Ladung sowie die Frequenz kannte, auf der es sendete und empfing.

Zu beiden Seiten der Queen Mary, ebenfalls auf verdunkelter Brücke, beobachteten die Radartechniker der Kreuzer ihre Monitore. Sie hatten sicherzustellen, dass sich nichts auch nur annähernd Bedrohliches dem Ungetüm näherte, das da zwischen ihnen dröhnend durch die Nacht pflügte. Selbst für einen harmlosen und überprüften Frachter betrug die Näherungsgrenze drei Meilen. In der zweiten Nacht kam nichts und niemand näher als auf zehn Meilen an die Queen heran.

Das Bild, das der E2C Hawkeye lieferte, war wegen seiner Flughöhe natürlich größer. Wie der runde Lichtkreis eines gigantischen Scheinwerfers wanderte es von West nach Ost über den Atlantik. Aber fast alles, was der Hawkeye sah, war meilenweit entfernt von dem Konvoi. Immerhin konnte er einen zehn Meilen breiten Korridor vor den drei Schiffen überschauen und den beiden Kreuzern mitteilen, was vor ihnen lag. Um realistisch zu bleiben, limitierte er auch diese Projektion bei fünfundzwanzig Meilen oder einer Stunde Fahrt.

Kurz vor dreiundzwanzig Uhr in der dritten Nacht gab der Hawkeye eine niederstufige Warnung.

»Da ist ein kleiner Frachter fünfundzwanzig Meilen voraus, zwei Meilen südlich Ihres beabsichtigten Kurses. Er scheint bewegungslos im Wasser zu liegen.«

 

Die Countess of Richmond war nicht völlig bewegungslos. Ihre Maschinen standen auf »midships«, das heißt, ihre Propeller drehten sich im Leerlauf im Wasser. Aber eine Strömung von etwa vier Knoten gab ihr gerade genug Fahrt, um die Nase auf Kurs zu halten: auf Kurs West.

Das aufblasbare Schnellboot war zu Wasser gelassen und an Backbord festgemacht worden; ein Fallreep führte von der Reling hinunter. Vier Männer saßen bereits in dem Boot, das neben der Bordwand des Frachters in der Strömung dümpelte.

Die anderen vier waren auf der Brücke. Ibrahim stand am Steuer und blickte starr zum Horizont. Er wartete auf den ersten Schimmer der nahenden Lichter.

Der indonesische Funker justierte Klarheit und Stärke des Sendemikrofons. Neben ihm stand der Teenager, dessen Eltern in Pakistan geboren waren und der in der Großstadt Leeds in Yorkshire aufgewachsen war. Der vierte war der Afghane. Als der Funker zufrieden war, nickte er dem Jungen zu, und der nickte zurück, setzte sich auf einen Schemel vor der Steuerkonsole des Schiffs und wartete auf den Funkspruch.

 

Er kam von dem Kreuzer, der sechs Kabel querab an der Steuerbordseite der Queen Mary durch die See pflügte. David Gundlach hörte ihn laut und deutlich wie alle, die in dieser Nacht Wache hatten. Der Kanal, auf dem er gesendet wurde, war die allgemeine Frequenz für Schiffe im Nordatlantik. Die Stimme sprach mit einem starken Südstaatenakzent.

»Countess of Richmond, Countess of Richmond, hier spricht Kreuzer Monterey, U. S. Navy. Hören Sie mich?«

Die Stimme, die antwortete, klang ein wenig verzerrt. Die Funkausrüstung des alten Frachters war nicht mehr auf dem neuesten Stand, aber man hörte, dass der Sprecher aus Lancashire oder vielleicht Yorkshire stammte.

»Oh, aye, Monterey, hier ist die Countess.«

»Anscheinend haben Sie beigedreht. Wie ist Ihre Situation?«

»Countess o' Richmond. Sind 'n bisschen heiß gelaufen …« Klick klick. »… Schraubenwelle …« Zzzzzzz. »… reparieren, so schnell wir können …«

Von der Brücke des Kreuzers kam kurzes Schweigen. Dann: »Wiederholen Sie, Countess of Richmond. Wiederholen Sie.«

Die Countess antwortete, und der Akzent klang stärker als vorher. Auf der Brücke der Queen Mary sah der Erste Offizier jetzt den Punkt auf seinem Radar ein kleines Stück weit südlich von seinem Kurs, etwa fünfzig Minuten entfernt. Ein anderes Display lieferte sämtliche Details der Countess of Richmond einschließlich der Information, dass ihr Transpondersignal echt war. Er schaltete sich in den Funkverkehr ein.

»Monterey, hier spricht die Queen Mary 2. Lassen Sie mich mal versuchen.«

David Gundlach war in Cheshire geboren und aufgewachsen, im County Wirral, keine fünfzig Meilen weit von Liverpool entfernt. Er hörte, dass die Stimme von der Countess entweder aus Yorkshire oder aus Lancashire kam, jedenfalls aus der Nachbarschaft seiner Heimat.

»Countess of Richmond, hier spricht die Queen Mary 2. Ich höre, Sie haben eine Überhitzung des Hauptlagers im Wellentunnel und führen die Reparatur auf See durch. Bestätigen Sie.«

»Aye, so ist es. Hoffe, dass ich in einer Stunde fertig bin«, sagte die Lautsprecherstimme.

»Countess, bitte nennen Sie Ihren Heimathafen, Abreisehafen, Bestimmungshafen, Fracht.«

»Countess of Richmond, Heimathafen Liverpool, achttausend Tonnen, Mehrzweckfrachter mit Seidenstoffen und Edelhölzern auf der Fahrt von Java nach Baltimore.«

Gundlachs Blick wanderte über den Monitor mit den Informationen der Reederei McKendrick Shipping in Liverpool, der Maklerfirma Siebart & Abercrombie in London und der Versicherung Lloyd's. Alles stimmte.

»Und mit wem spreche ich bitte?«, fragte er.

»Mit Kapitän McKendrick. Und wer sind Sie?«

»Erster Offizier Gundlach.«

Die Monterey, die dem Funkverkehr nur mit Mühe hatte folgen können, meldete sich wieder.

»Hier Monterey. Queen, möchten Sie den Kurs ändern?«

Gundlach konsultierte seine Displays. Der Brückencomputer führte die Queen Mary auf dem geplanten Kurs und würde sich auf jede Veränderung von Seegang, Wind oder Strömungsverhältnissen einstellen. Davon abzuweichen würde bedeuten, dass man auf Handsteuerung umstellte oder die Programmierung änderte und später wieder auf den ursprünglichen Kurs zurückkehrte. Den beigedrehten Frachter würde er in einundvierzig Minuten passieren, und er würde zwei Meilen oder drei Kilometer querab steuerbord liegen.

»Nicht nötig, Monterey. Wir sind in vierzig Minuten an ihr vorbei. Sie liegt mehr als zwei Meilen abseits.«

Auf ihrem Parallelkurs neben der Queen würde die Monterey den Frachter in geringerem Abstand passieren, aber es blieb immer noch reichlich Platz. Hoch über ihnen scannten der Hawkeye und der EA-6B den hilflosen Frachter nach Visiereinrichtungen für Lenkwaffen und anderen elektronischen Aktivitäten. Sie fanden nichts, aber sie würden die Countess weiter im Auge behalten, bis sie weit hinter dem Konvoi läge. Zwei weitere Schiffe befanden sich in der Nähe des Kurses, doch sie lagen viel weiter voraus und würden später aufgefordert werden, nach steuerbord und backbord auszuweichen.

»Roger«, bestätigte die Monterey.

 

Das alles war auf der Brücke der Countess gehört worden. Ibrahim befahl den anderen mit einer Kopfbewegung, ihn jetzt allein zu lassen. Der Funker und der Junge kletterten flink über das Fallreep ins Schnellboot hinunter, und alle sechs Mann dort unten warteten auf den Afghanen.

Martin war überzeugt, dass der irrsinnige Jordanier die Maschinen auf volle Kraft voraus stellen und versuchen würde, eines der herankommenden Schiffe zu rammen, und er wusste, dass er die Countess of Richmond nicht verlassen durfte. Seine einzige Hoffnung bestand darin, die Besatzung auszuschalten und das Schiff zu übernehmen.

Rückwärts kletterte er die Leiter hinunter. Suleiman war dabei, hinter den Bänken seine digitale Fotoausrüstung aufzubauen. Ein Tau hing von der Reling der Countess herunter; einer der Indonesier ging zum Bug des Schnellboots, packte es und hielt das Boot in der Strömung an der Bordwand ruhig.

Ohne die Leiter loszulassen, drehte Martin sich um, beugte sich hinunter und schlitzte das harte graue Gewebe des Schlauchboots über eine Länge von fast zwei Metern auf. Es geschah so schnell und unerwartet, dass zwei oder drei Sekunden lang niemand reagierte – nur die See. Mit leisem Zischen entwich die Luft, und mit sechs Mann an Bord begann das Boot zu krängen und schlug schnell voll.

Martin beugte sich weiter nach außen, um das Haltetau zu kappen. Er verfehlte es, aber das Messer riss den Unterarm des Indonesiers auf. Jetzt reagierten die Männer, doch der Indonesier ließ das Tau los, und das Meer übernahm sie.

Wütende Hände streckten sich nach ihm aus, aber das sinkende Schnellboot blieb achtern zurück. Das Gewicht des großen Außenbordmotors drückte das Heck unter Wasser, und immer mehr Salzwasser rauschte herein. Das Wrack löste sich vom Heck und verschwand in der schwarzen Nacht des Atlantiks. Irgendwo strömungsabwärts versank es einfach, von seinem Motor in die Tiefe gezogen. Martin sah Hände, die sich aus dem Wasser streckten, dann waren auch sie verschwunden. Niemand kann gegen eine Strömung von vier Knoten anschwimmen. Er kletterte wieder die Leiter hinauf.

In diesem Moment riss Ibrahim einen der Hebel herum, die der Sprengstoffexperte ihm übergeben hatte. Während Martin noch kletterte, hörte er ein paarmal hintereinander einen scharfen Knall kleiner, explodierender Sprengladungen.

Als Mr. Wei die Stahlkonstruktion gebaut hatte, die sich, als sechs Hochseecontainer getarnt, an Deck der Java Star von der Brücke bis zum Bug erstreckte, hatte er das Dach aus einer einzigen, an vier Stellen befestigten Stahlplatte angefertigt.

An diesen vier Stellen hatte der Sprengstoffexperte Hohlladungen angebracht und mit Drähten verbunden, die vom Maschinenraum mit Strom versorgt wurden. Bei der Detonation hob sich der stählerne Deckel um mehrere Fuß. Die Sprengkraft der Ladungen war asymmetrisch, sodass sich der Deckel auf der einen Seite weiter öffnete als auf der anderen.

Martin war, das Messer zwischen den Zähnen, oben an der Leiter angekommen, als die Sprengladungen detonierten. Geduckt wich er der großen Stahlplatte aus, die seitlich ins Meer rutschte. Dann steckte er das Messer ein und lief auf die Brücke.

Der al-Qaida-Killer stand am Ruder und spähte nach vorn durch die Scheibe. Am Horizont kam mit fünfundzwanzig Knoten eine schwimmende Stadt auf sie zu – siebzehn Decks und 150000 Tonnen Licht und Stahl und Menschen. Die stählerne Konstruktion vor der Brücke lag offen unter den Sternen, und jetzt erkannte Martin, welchen Zweck sie hatte: Sie sollte nichts enthalten, sondern etwas verbergen.

Der Halbmond kam hinter den Wolken hervor, und das ganze Vorderdeck der ehemaligen Java Star erglänzte in seinem Licht. Martin sah, dass das Schiff kein mit Sprengstoff beladener Mehrzweckfrachter war, sondern ein Tanker. Von der Brücke bis zum Bug reichte das Gewirr von Rohren, Schläuchen, Muffen und Ventilrädern, das seinen Zweck verriet.

In gleichmäßigen Abständen bis zum Bug erkannte er sechs kreisrunde Stahldeckel – die Ventilluken – auf den sechs unter Deck befindlichen Tanks.

»Du solltest im Boot bleiben, Afghane«, sagte Ibrahim.

»Da war kein Platz mehr, Bruder. Suleiman wäre beinahe über Bord gefallen. Ich bin auf der Leiter geblieben, und dann waren sie weg. Jetzt werde ich hier mit dir sterben, Inshallah.«

Ibrahim gab sich damit anscheinend zufrieden. Er warf einen Blick auf die Uhr und legte den zweiten Hebel um. Kabel führten von der Brücke hinunter zu den Batterien des Schiffs und leiteten Strom nach vorn in die Aufbauten, wo der Sprengstoffexperte, der sie durch den geheimen Zugang betreten hatte, in seinem Monat auf See gearbeitet hatte.

Wieder detonierten sechs Sprengladungen. Die sechs Ventilluken flogen von den Tanks. Was jetzt folgte, war für das bloße Auge unsichtbar: Sechs Säulen stiegen aus den gewölbten Tanks in die Höhe wie die Rauchsäule aus einem Vulkan, als die Ladung zu entweichen begann. Das aufsteigende Gas erreichte eine Höhe von dreißig Metern, aber dann siegte die Schwerkraft über den Druck, und die unsichtbare Wolke, die sich turbulent mit der Nachtluft vermischte, sank wieder auf den Meeresspiegel herunter und verbreitete sich in alle Richtungen rollend nach außen, weg vom Schiff.

Martin hatte verloren, und er wusste es. Er war zu spät gekommen, und auch das wusste er. Er wusste, dass er seit den Philippinen auf einer schwimmenden Bombe unterwegs gewesen war und dass das, was jetzt aus den Ventilluken strömte, ein unsichtbarer Tod war, der nicht mehr aufzuhalten war.

Er hatte immer angenommen, die Countess of Richmond, die sich jetzt wieder in die Java Star zurückverwandelt hatte, werde in irgendeinen Hafen einfahren und explodieren lassen, was immer unter Deck verborgen war.

Er hatte angenommen, sie werde irgendetwas Wertvolles rammen, bevor sie sich selbst in die Luft sprengte. Dreißig Tage lang hatte er vergebens auf eine Gelegenheit gewartet, sieben Männer zu töten und das Schiff in seine Gewalt zu bringen. Diese Gelegenheit war nicht gekommen.

Jetzt – zu spät – erkannte er, dass die Java Star keine Bombe abliefern würde. Sie war die Bombe. Und während ihre Ladung schnell aus den Tanks entwich, bewegte sie sich keinen Zoll von der Stelle. Das entgegenkommende Passagierschiff brauchte sie nur im Abstand von drei Kilometern zu passieren, um von einem Feuersturm verzehrt zu werden.

Auf der Brücke hatte er die Unterredung zwischen dem pakistanischen Jungen und dem Ersten Offizier der Queen Mary 2 verfolgt. Nun, da es zu spät war, wusste er, dass die Java Star nicht mit voller Kraft voraus auf das Schiff zufahren würde. Die Kreuzer-Eskorte würde das niemals zulassen, aber es war auch gar nicht nötig.

Neben Ibrahims Hand wartete ein drittes Schaltelement, ein Knopf, der niedergeschlagen werden musste. Martin sah die Drähte, die von dort zu einer Very-Pistol führten, einer Leuchtpistole, die dicht vor dem Fenster der Brücke montiert war. Nur eine Leuchtkugel, ein einziger Funke, und …

Die Stadt der Lichter dort draußen war über dem Horizont. Noch fünfzehn Meilen. Dreißig Minuten. Der optimale Zeitraum für eine maximale Gas-Luft-Mischung.

Martins Blick huschte zu dem Funkgerät auf der Konsole. Die letzte Chance, eine Warnung hinauszuschreien. Seine rechte Hand glitt zu dem Schlitz in seinem Gewand, hinter dem sein Messer an den Oberschenkel gebunden war.

Der Jordanier sah den Blick und die Bewegung. Er hatte nicht Afghanistan, ein jordanisches Gefängnis und die unerbittliche Fahndung der Amerikaner im Irak überlebt, ohne die Instinkte eines wilden Tieres zu entwickeln.

Etwas sagte ihm, dass der Afghane trotz der brüderlichen Sprache nicht sein Freund war. Ibrahims unbändiger Hass erfüllte die Atmosphäre auf der engen Brücke wie ein stummer Aufschrei.

Martins Hand fuhr zu dem Messer unter seinem Gewand. Ibrahim war schneller; seine Pistole lag unter der Seekarte auf dem Kartentisch. Im nächsten Moment war die Mündung auf Martins Brust gerichtet. Die Distanz für Martin betrug dreieinhalb Meter. Drei zu viel.

Ein Soldat ist darauf trainiert, seine Chancen zu kalkulieren, und zwar schnell. Martin hatte einen großen Teil seines Lebens damit verbracht, genau das zu tun. Auf der Brücke der Countess of Richmond inmitten ihrer Todeswolke hatte er nur noch die Wahl zwischen dem Mann und dem Knopf. Überleben würde er beide Möglichkeiten nicht.

Worte gingen ihm durch den Kopf, Worte aus längst vergangenen Zeiten, Worte aus dem Gedicht eines Schuljungen: »Für jeden Mann auf dieser Erde kommt früher oder später der Tod …« Und er dachte an Ahmed Schah Massud, den Löwen des Pandschir, und an seine Worte am Lagerfeuer: »Wir sind alle zum Sterben verurteilt, Anglies. Aber nur ein von Allah gesegneter Krieger darf sich aussuchen, wie er stirbt.«

Colonel Mike Martin traf seine Wahl …

Ibrahim sah ihn kommen. Er kannte das Flackern in den Augen eines Mannes, der sterben wird. Der Killer schrie und schoss. Die Kugel traf den angreifenden Mann in die Brust, und er begann zu sterben. Aber jenseits von Schmerz und Schock gibt es immer noch die Kraft des Willens, die gerade genügt, um noch eine Sekunde zu leben.

Als die Sekunde vorüber war, verschwanden die beiden Männer und das Schiff in einer rosaroten Ewigkeit.

 

David Gundlach riss starr vor Staunen die Augen auf. Fünfzehn Meilen voraus, da, wo das größte Passagierschiff der Welt in fünfunddreißig Minuten gewesen wäre, barst ein gewaltiger Flammenvulkan aus dem Meer herauf. Die drei anderen Männer der Nachtwache schrien auf. »Was zum Teufel war das?«

»Monterey an Queen Mary 2. Gehen Sie auf Backbordkurs. Wir erkunden die Sache.«

Gundlach sah, wie der US-Kreuzer zu seiner Rechten in voller Fahrt auf die Flammen zusteuerte, die jetzt auf dem Wasser zu flackern und zu ersterben begannen. Es war klar, dass die Countess of Richmond einen schrecklichen Unfall erlitten hatte. Seine Aufgabe war es, Abstand zu halten; wenn Männer im Wasser waren, würde die Monterey sie finden. Trotzdem war es ratsam, den Kapitän auf die Brücke zu rufen. Als der Kommandant des Schiffs auf der Brücke erschien, berichtete sein Erster Offizier, was er gesehen hatte. Sie waren inzwischen achtzehn Meilen weit von der Stelle entfernt und vergrößerten den Abstand schnell.

Die USS Leyte Gulf blieb backbords bei ihnen. Die Monterey steuerte geradewegs auf die Brandstelle zu. Und der Kapitän stimmte zu: Für den unwahrscheinlichen Fall, dass es Überlebende gäbe, sollte die Monterey nach ihnen suchen.

Von ihrer sicheren Brücke aus sahen die beiden Männer zu, wie das Feuer flackernd verlosch. Die letzten Flammen hier und da dürften die Reste des Treibstoffs aus dem verschwundenen Schiff gewesen sein. Die hypervolatile Ladung war verbrannt, bevor die Monterey den Ort der Katastrophe erreichte.

Der Kapitän der Queen Mary 2 wies die Computer an, den Kurs nach Southampton wieder aufzunehmen.