VIERZEHN
Zwölf Stunden nach der Versenkung der Countess of Richmond kam die ehemalige Java Star aus der versteckten philippinischen Flussmündung. Sie ließ den Golf von Moro hinter sich, fuhr in die Celebes-See und ging dort auf den Süd-Südwest-Kurs, den die Countess durch die Straße von Makassar genommen hätte.
Der indonesische Steuermann stand am Ruder, neben ihm der britisch-pakistanische Teenager und der Afghane, dem er jetzt zeigte, wie man auf hoher See den Kurs hielt.
Seine beiden Schüler wussten es nicht, aber die Anti-Terror-Abteilung der internationalen Handelsschifffahrt beobachtete seit Jahren voller Ratlosigkeit, wie oft ein Schiff in diesen Gewässern gekapert und ein paar Stunden im Kreis herumgefahren worden war, während die Crew angekettet im Laderaum saß, nur um dann wieder aufgegeben zu werden.
Der Grund war einfach: Genau wie die Entführer von 9/11 ihre Praxis in amerikanischen Flugschulen erworben hatten, trainieren die Piraten des Fernen Ostens das Handling eines großen Schiffes auf hoher See. Der Indonesier am Ruder der neuen Countess war einer dieser »Fahrlehrer«.
Der Ingenieur unter Deck war Schiffbauingenieur gewesen, bis das Schiff, auf dem er arbeitete, von Abu Sayyaf gekapert worden war. Statt zu sterben, hatte er sich lieber den Terroristen angeschlossen und war einer von ihnen geworden.
Der dritte Indonesier hatte alles über den Funkverkehr zwischen Schiffen gelernt, als er im Büro des Hafenmeisters in einem Handelshafen in Nordborneo gearbeitet hatte, bis er als Muslim radikalisiert und in die Reihen von Jemaat Islamija aufgenommen worden war. Später hatte er mitgeholfen, die Bomben in den balinesischen Diskotheken zu legen.
Von allen acht brauchten nur diese drei nautische Kenntnisse. Der arabische Chemiker würde später für die Detonation der Sprengladung zuständig sein. Suleiman, der Mann aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, würde die Bilder aufnehmen, die per Datenstrom die Welt erschüttern sollten. Der junge Pakistani würde, wenn es nötig wäre, Kapitän McKendricks nordenglischen Tonfall nachahmen. Und der Afghane würde in den Tagen, die vor ihnen lagen, den Steuermann ablösen.
Als der März zu Ende ging, hatte der Frühling die Bergkette der Cascades noch nicht einmal berührt. Es war bitterkalt, auf dem Wald vor den Mauern der Hütte lag dicker Schnee.
Drinnen war es behaglich warm. Der Feind war die Langeweile, trotz Fernseher, DVD-Filmen, Musik und Brettspielen. Wie Leuchtturmwärter hatten die Männer hier wenig zu tun, und der sechsmonatige Einsatz stellte ihre Fähigkeit zu innerer Einkehr und Selbstgenügsamkeit auf eine harte Probe.
Immerhin konnte die Wachmannschaft Skier oder Schneeschuhe anlegen und durch die Wälder streifen, um sich fit zu halten und ab und zu etwas anderes zu sehen als Schlafbaracke, Kantine und Freizeitraum. Für den Gefangenen, immun gegen alles Fraternisieren, war die Anspannung viel größer.
Izmat Khan hatte gehört, wie der Vorsitzende des Militärgerichts in Guantanamo ihn entließ, und er war überzeugt, dass Pul-i-Charki ihn nicht länger als ein Jahr hätte halten können. Als sie ihn dann – nach allem, was er wusste, für immer – in diese einsame Wildnis gebracht hatten, war es schwer gewesen, die schreiende Wut in seinem Herzen zu verbergen.
Also zog er die kapokgefütterte Jacke an, die sie ihm gegeben hatten, trat hinaus in den ummauerten Hof und ging dort auf und ab. Zehn Schritte lang, fünf Schritte breit. Er konnte es inzwischen mit geschlossenen Augen, ohne je gegen den Beton zu prallen. Die einzige Abwechslung fand sich gelegentlich am Himmel über ihm. Meistens hingen dort schwere, bleigraue Wolken, aus denen der Schnee herabrieselte. Vorher, in der Zeit, in der die Christen Bäume schmückten und Lieder sangen, war der Himmel von eiskaltem Blau gewesen.
Dann hatte Izmat Adler und Raben kreisen sehen. Kleinere Vögel waren flatternd oben auf der Mauer gelandet, hatten zu ihm herabgespäht und sich vielleicht gefragt, warum er nicht mitkommen konnte. Aber was er am liebsten sah, waren die Flugzeuge.
Manche waren Militärflugzeuge, das wusste er, obwohl er noch nie etwas von den Cascade Mountains oder von der McChord Air Base fünfzig Meilen weiter westlich gehört hatte. Aber er hatte amerikanische Kampfbomber im Anflug auf Nordafghanistan gesehen, und er wusste, dass diese hier die gleichen waren.
Dann waren da die Linienmaschinen. Sie waren unterschiedlich lackiert und trugen vielfältige Embleme auf ihren Leitwerken, aber er wusste genug, um sich darüber im Klaren zu sein, dass es sich nicht um staatliche Insignien handelte, sondern um Firmenlogos. Das Ahornblatt war die einzige Ausnahme. Manche hatten dieses Blatt auf dem Leitwerk, sie waren immer im Steigflug, und sie kamen immer von Norden.
Wo Norden war, konnte er leicht erkennen. Im Westen sah er die Sonne untergehen, daher betete er in die entgegengesetzte Richtung, nach Mekka, weit im Osten. Er vermutete, dass er in den USA war, denn die Stimmen seiner Bewacher klangen eindeutig amerikanisch. Warum kamen dann Flugzeuge mit einem anderen Staatswappen aus dem Norden? Der Grund konnte nur sein, dass dort oben ein anderes Land lag, ein Land, in dem die Menschen zu einem roten Blatt auf weißem Grund beteten. Und so ging er auf und ab und auf und ab und grübelte über das Land des roten Blattes.
Was er sah, waren die Air-Canada-Maschinen, die in Vancouver starteten. In einer schmuddeligen Hafenbar in Port of Spain, Trinidad, wurden zwei Seeleute von einer einheimischen Bande überfallen und mit geübten Messerstichen umgebracht.
Als die Polizei eintraf, waren sämtliche Zeugen von Amnesie befallen und konnten sich nur erinnern, dass fünf Angreifer, die wohl von den Inseln stammten, den Streit provoziert hatten. Mehr bekam die Polizei nie heraus, und niemand wurde festgenommen.
Tatsächlich waren die Killer einheimische Ganoven, die nichts mit islamistischem Terrorismus zu tun hatten. Aber der Mann, der sie für die Tat bezahlt hatte, war ein leitendes Mitglied der Terrororganisation Jamaat al-Muslimeen, der führenden Unterstützergruppe von al-Qaida auf Trinidad.
JaM hat in den westlichen Medien noch wenig Beachtung gefunden, doch sie wächst seit einigen Jahren stetig, genau wie andere Gruppen überall in der Karibik. In dieser von eingefleischtem Christentum beherrschten Gegend findet der Islam ganz im Stillen immer mehr Zuwachs durch die massenhafte Einwanderung aus Nahost, Zentralasien und dem indischen Subkontinent.
Das Geld, mit dem JaM die Mörder bezahlt hatte, kam von einem Konto, das der verstorbene Mr. Tewfik al-Qur eingerichtet hatte, und den Einsatzbefehl hatte Dr. al-Khattabs Abgesandter gegeben, der sich nach wie vor auf der Insel aufhielt.
Anhand der Brieftaschen, die den Toten gelassen worden waren, identifizierte die Polizei von Port of Spain sie als venezolanische Staatsbürger und Matrosen eines venezolanischen Schiffes, das noch im Hafen lag.
Der Kapitän, Pablo Montalban, war entsetzt und betrübt über den Verlust seiner beiden Matrosen, aber er konnte nicht allzu lange im Hafen bleiben.
Konsulat und Botschaft Venezuelas wurden mit der Überführung der Toten nach Caracas betraut, und Kapitän Montalban nahm Kontakt zu seinem örtlichen Agenten auf, um zwei Ersatzleute zu finden. Der Agent hörte sich um und hatte bald Glück: Er fand zwei höfliche und arbeitswillige junge Inder aus Kerala, die für ihre Überfahrt um die halbe Welt gearbeitet hatten. Zwar besaßen sie keine Einbürgerungspapiere, aber tadellose Seemannsbücher.
Sie wurden angeheuert und kamen zu den anderen vier Seeleuten, die die Besatzung bildeten. Mit nur einem Tag Verspätung konnte die Doña Maria ablegen.
Kapitän Montalban wusste unbestimmt, dass Indien größtenteils von Hindus bewohnt wurde, aber er hatte keine Ahnung, dass es dort auch hundertfünfzig Millionen Muslime gibt. Er ahnte nichts von der Radikalisierung indischer Muslime, die ebenso energisch betrieben wird wie in Pakistan, und wusste auch nicht, dass Kerala, einst ein Treibhaus für den Kommunismus, inzwischen besonders empfänglich für islamischen Extremismus ist.
Seine beiden neuen Matrosen hatten tatsächlich für die Passage von Indien in die Karibik gearbeitet. Aber sie hatten es auf Befehl getan, um Erfahrungen zu sammeln. Und noch etwas konnte der katholische Venezolaner nicht wissen: Zwar hatten die beiden keinen Selbstmord im Sinn, aber sie gehörten zu Jamaat al-Muslimeen und arbeiteten für diese Gruppe. Die zwei Unglücksraben in der Bar waren nur ermordet worden, damit die beiden indischen Matrosen an Bord des Schiffes kommen konnten.
Marek Gumienny beschloss, über den Atlantik zu fliegen, als er den Bericht aus Fernost erhielt. Doch diesmal nahm er einen Experten ganz anderer Art mit.
»Die Arabisten haben ihren Zweck erfüllt, Steve«, sagte er vor dem Abflug am Telefon. »Jetzt brauchen wir Leute, die sich mit der internationalen Handelsschifffahrt auskennen.«
Der Mann, den er mitnahm, war von der amerikanischen Zoll- und Grenzschutzbehörde, Abteilung Handelsmarine. Steve Hill kam aus London nach Schottland, begleitet von einem Kollegen aus der Schifffahrtsabteilung der SIS-Antiterror-Abteilung.
In Edzell lernten sich die beiden jüngeren Männer kennen: Chuck Hemingway aus New York und Sam Seymour aus London. Beide wussten voneinander aus Berichten und Briefings, die unter den westlichen Antiterror-Diensten zirkulierten. Man gab ihnen zwölf Stunden Zeit, die Köpfe zusammenzustecken, um dann eine Einschätzung der Bedrohung und einen Plan zu ihrer Abwehr vorzulegen. Als sie sich mit Gumienny, Hill, Phillips und McDonald zusammensetzten, sprach Chuck Hemingway als Erster.
»Das hier ist keine einfache Jagd, es ist die Suche nach der Nadel im Heuhaufen«, sagte er. »Bei einer Jagd ist das Zielobjekt bekannt, aber wir wissen darüber nur, dass es etwas ist, das schwimmt. Vielleicht. Das muss ich Ihnen als Erstes sagen.
Auf den Weltmeeren sind derzeit sechsundvierzigtausend Handelsschiffe unterwegs. Die Hälfte von ihnen fährt unter Billigflaggen, die sie mehr oder minder nach Lust und Laune des Kapitäns wechseln können.
Sechs Siebtel der Erde sind von Wasser bedeckt, und diese Fläche ist so gewaltig, dass buchstäblich Tausende von Schiffen ständig ohne Sichtverbindung zum Land oder zu anderen Schiffen sind.
Achtzig Prozent des Güterverkehrs auf der Welt findet nach wie vor auf dem Meer statt. Knapp sechs Milliarden Tonnen. Und es gibt viertausend Handelshäfen.
Sie suchen ein Schiff, aber Sie wissen nichts über Typ, Größe, Tonnage, Aussehen und Alter, Sie kennen weder den Eigner noch die Flagge noch den Kapitän, noch den Namen. Um auch nur die geringste Chance zu haben, dieses Schiff zu finden – wir sprechen in solchen Fällen von Geisterschiffen –, brauchen wir entweder mehr als das oder ein gewaltiges Quantum Glück. Können Sie uns das eine oder das andere bieten?«
Die Antwort war ein deprimiertes Schweigen.
»Das klingt verdammt kläglich«, sagte Marek Gumienny schließlich. »Sam, hätten Sie einen Hoffnungsschimmer für uns?«
»Chuck und ich sind uns einig, dass es eine Möglichkeit gebe, wenn wir die Art des Ziels identifizieren könnten, das die Terroristen im Visier haben. Dann könnten wir jedes Schiff ausfindig machen, das Kurs auf ein solches Ziel genommen hat, und Schiff und Ladung mit vorgehaltener Waffe inspizieren«, antwortete Seymour.
»Wir hören«, sagte Hill. »Was für ein Ziel könnte das aller Wahrscheinlichkeit nach sein?«
»Wir in unseren Abteilungen machen uns seit Jahren Sorgen, und wir schreiben seit Jahren Berichte. Die Meere sind ein Spielplatz für Terroristen. Die Tatsache, dass al-Qaida sich bei ihrer ersten großen, spektakulären Aktion für einen Angriff aus der Luft entschieden hat, ist eigentlich unlogisch. Sie hatten gehofft, vielleicht vier Stockwerke der Türme zu zerstören, und schon damit hätten sie großes Glück gehabt. Und die ganze Zeit hat das Meer sich angeboten.«
»Aber die Sicherheitsmaßnahmen in den Häfen sind massiv verstärkt worden«, wandte Marek Gumienny ein. »Das weiß ich, denn ich habe die Etats gesehen.«
»Mit allem Respekt, Sir, doch das genügt noch längst nicht. Wir wissen, dass die Zahl der Schiffskaperungen in den Gewässern um Indonesien – und zwar ringsum in alle Richtungen – seit der Jahrtausendwende stetig zugenommen hat. In vielen Fällen ging es dabei nur darum, Geld für die Terroristen zu beschaffen. Aber andere Zwischenfälle auf See sind logisch nicht zu erklären.«
»Zum Beispiel?«
»Zehnmal haben Piraten Schlepper gestohlen. Einige davon sind nie wieder aufgetaucht. Sie haben keinerlei Wiederverkaufswert, weil sie ziemlich auffällig und schwer zu verändern sind. Wozu werden sie gebraucht? Wir vermuten, man könnte damit einen gekaperten Supertanker in einen großen internationalen Hafen wie Singapur schleppen.«
»Und sprengen?«, fragte Hill.
»Nicht nötig. Einfach mit offenen Ventilen versenken. Der Hafen wäre für zehn Jahre geschlossen.«
»Okay«, sagte Marek Gumienny. »Das wäre mögliches Ziel Nummer eins. Einen Supertanker entführen und damit einen Hafen zerstören. Wäre das spektakulär? Klingt ziemlich banal, von den Auswirkungen für den betroffenen Hafen abgesehen. Keine Toten.«
»Aber es geht schlimmer weiter«, mischte sich Chuck Hemingway ein. »Mit einem Schiff lassen sich Zerstörungen anrichten, die für die Weltwirtschaft gigantischen Schaden bedeuten können. In seinem Video vom Oktober 2004 hat Bin Laden selbst gesagt, er wolle sich jetzt auf ökonomischen Schaden konzentrieren.
Kein Mensch da draußen in den Shoppingcentern und Tankstellen ist sich im Klaren darüber, wie sehr der gesamte Welthandel inzwischen auf Just-in-Time-Lieferungen eingestellt ist. Warenlager und Vorratshaltung sind völlig aus der Mode gekommen. Ein in China produziertes T-Shirt, das montags in Dallas verkauft wird, ist wahrscheinlich am Freitag zuvor im Hafen angekommen. Das Gleiche gilt für Benzin.
Denken Sie an den Panamakanal. Den Suezkanal. Schließen Sie die, und die gesamte Weltwirtschaft stürzt ins Chaos. Der Schaden würde sich auf hunderte Milliarden Dollar belaufen. Es gibt noch zehn andere Schifffahrtsstraßen, die so schmal und so lebenswichtig sind, und man brauchte nur einen großen Frachter oder einen Tanker quer darin zu versenken, um sie zu blockieren.«
»Na gut«, sagte Marek Gumienny. »Hören Sie, ich habe einem Präsidenten und fünf anderen Vorgesetzten Bericht zu erstatten. Sie, Steve, haben Ihren Premierminister. Wir können auf dieser Nachricht von Crowbar nicht einfach sitzen bleiben. Es reicht auch nicht, wenn wir darüber in Tränen ausbrechen. Wir müssen konkrete Maßnahmen vorschlagen. Sie wollen aktiv sein, man soll sehen, dass Sie etwas unternehmen. Also machen Sie uns eine Liste der wahrscheinlichen Optionen und der entsprechenden Gegenmaßnahmen. Verdammt, wir sind doch nicht völlig wehrlos.«
Chuck Hemingway legte ein Papier auf den Tisch, das er und Seymour vorbereitet hatten.
»Sehen Sie sich das an, Sir. Unserer Ansicht nach ist Wahrscheinlichkeit Nummer eins die Entführung eines sehr großen Schiffs – eines Tankers, eines Erzfrachters – und seine Versenkung in einem schmalen, aber lebenswichtigen maritimen Flaschenhals. Gegenmaßnahmen? Alle diese Engpässe identifizieren und Kriegsschiffe zu beiden Seiten postieren. Alle einfahrenden Schiffe müssen Marineinfanteristen an Bord haben.«
»O Gott«, seufzte Steve Hill, »das gibt ein Chaos. Man wird uns Piraterie vorwerfen. Und was ist mit den Gewässern im Besitz fremder Staaten? Haben die nichts zu sagen?«
»Wenn die Terroristen Erfolg haben, bedeutet es das Ende der Schifffahrt und den Ruin der Küstenländer. Es braucht keine Verzögerungen zu geben – die Marines können an Bord der einfahrenden Frachter gehen, ohne dass sie ihre Fahrt verlangsamen. Und natürlich können die Terroristen auf einem Geisterschiff gar nicht zulassen, dass Militär an Bord kommt. Sie müssen das Feuer eröffnen, sich zu erkennen geben und fliehen. Ich glaube, auch die Reedereien werden uns zustimmen.«
»Wahrscheinlichkeit Nummer zwei?«, fragte Steve Hill.
»Sie fahren das Geisterschiff, randvoll mit Sprengstoff, in eine große Anlage, in eine Pipeline-Insel zum Beispiel oder in eine Ölplattform. Die ökologischen Schäden sind astronomisch, und die wirtschaftlichen Verluste werden jahrelang nachwirken. Saddam Hussein hat es in Kuwait getan; er hat sämtliche Ölquellen in Brand gesetzt, als die Koalitionstruppen einmarschierten, und nichts als verbrannte Erde zurückgelassen. Gegenmaßnahme wie oben: Jedes Schiff, das auch nur in die Nähe solcher Anlagen kommt, muss abgefangen und außerhalb einer Zehnmeilensicherheitszone positiv identifiziert werden.«
»Dazu haben wir nicht genug Kriegsschiffe«, gab Steve Hill zu bedenken. »Jede Pipeline-Insel, jede küstennahe Raffinerie, jede Ölplattform?«
»An der Kostenlast müssen sich die Eigentümerstaaten beteiligen. Es müssen auch nicht unbedingt Kriegsschiffe sein. Sobald ein abfangendes Schiff beschossen wird, hat das Geisterschiff seine Tarnung aufgegeben und kann aus der Luft versenkt werden, Sir.«
Marek Gumienny fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Sonst noch was?«
»Es gibt eine dritte Möglichkeit«, erwiderte Seymour. »Der Einsatz von Sprengstoff, um damit ein schreckliches Massaker unter Zivilpersonen anzurichten. In diesem Fall wäre das Ziel wahrscheinlich ein Touristenort am Meer, vollgestopft mit Strandurlaubern. Eine entsetzliche Vorstellung, vergleichbar mit der Zerstörung von Halifax, Nova Scotia, im Jahre 1917. Damals explodierte ein Munitionstransporter im inneren Hafenbecken. Die Stadt verschwand von der Landkarte. Das Unglück gilt immer noch als die größte nichtnukleare Explosion der Geschichte.«
»Ich werde das alles weiterberichten müssen, Steve, und meinen Vorgesetzten wird es nicht gefallen«, sagte Gumienny, als sie sich auf der Rollbahn verabschiedeten. »Übrigens, wenn Gegenmaßnahmen ergriffen werden – und das wird sich nicht vermeiden lassen –, werden wir die Medien da nicht heraushalten können. Wir können uns die beste Tarngeschichte ausdenken, die es gibt, um die Aufmerksamkeit von Colonel Martin abzulenken. Aber Sie wissen, dass wir der Realität ins Auge sehen müssen, auch wenn ich noch so große Hochachtung für ihn habe. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er damit erledigt ist.«
Major Larry Duval warf einen Blick aus der Aufsichtsbaracke in der Sonne von Arizona und war wie immer begeistert vom Anblick des F-15 Strike Eagle, der ihn erwartete. Er flog die F-15 E-Version, die vermutlich die Liebe seines Lebens war, seit zehn Jahren. Im Laufe seiner Karriere hatte er auch den F-111 Aardvark und den F-4G Wild Weasel geflogen; beides waren beachtliche Maschinen, und es war eine Ehre gewesen, dass die U. S. Air Force ihn damit hatte fliegen lassen. Aber nach zwanzig Jahren als Flieger bei der USAF war der Eagle für ihn das Größte.
Der Jäger, den er an diesem Tag von der Luke Air Force Base nach Washington State hinauffliegen würde, wurde noch gewartet. Immun gegen Liebe und Lust, Hass und Angst, kauerte der Eagle schweigend inmitten des Gewimmels von Männern und Frauen in Overalls, die auf seiner gedrungenen Gestalt herumkletterten. Larry Duval beneidete seinen Eagle: Trotz seiner myriadenfach komplizierten Konstruktion konnte er nichts fühlen. Er konnte niemals Angst haben.
Das Flugzeug, das heute Morgen für den Testflug vorbereitet wurde, war auf dem Luftwaffenstützpunkt Luke grundlegend überholt und von oben bis unten gewartet worden. Nach einem solchen Werkstattaufenthalt verlangten die Vorschriften einen Testflug.
So wartete die Maschine an diesem Vormittag in der strahlenden Frühlingssonne von Arizona: 19 Meter lang, 6 hoch und 12 breit. Unaufgetankt wog sie 18 Tonnen, und ihr maximales Startgewicht betrug das Doppelte. Larry Duval drehte sich um, als sein für die Waffensysteme zuständiger Offizier, Captain Nicky Johns, hereingeschlendert kam, nachdem er seine eigenen Systemchecks absolviert hatte. Im Eagle sitzt der Weapons Systems Officer, kurz WSO oder »Wizzo«, im Tandemsitz hinter dem Piloten, umgeben von einer Bordelektronik im Wert von vielen Millionen Dollar. Auf dem langen Flug zum Stützpunkt McChord würde er sie komplett testen.
Der offene Geländewagen hielt vor der Tür, um die beiden Flieger die halbe Meile bis zu ihrem wartenden Jäger zu fahren. Sie verbrachten zehn Minuten mit den einleitenden Checks, obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass die Bodencrew irgendetwas übersehen hatte, extrem gering war.
Sie schnallten sich an, nickten der Bodencrew ein letztes Mal zu, worauf die Leute von der Maschine kletterten, abzogen und die beiden allein ließen. Larry Duval startete die beiden starken F-100-Triebwerke, die Kabinenhaube senkte sich zischend herab, rastete ein, und der Eagle begann zu rollen. Er drehte sich in den leichten Wind, der die Startbahn herunterwehte, blieb stehen, erhielt seine Freigabe und nickte noch einmal in einem letzten Bremstest. Dann schossen zehn Meter lange Flammen aus den Zwillingsnachbrennern, und Major Duval entfesselte die ganze Kraft der Triebwerke.
Eine Meile weiter, bei 185 Knoten, verließen die Räder den Asphalt der Startbahn. Der Eagle war in der Luft. Fahrwerk hoch, Klappen hoch, Abschaltung der Treibstoff saufenden Nachbrenner. Duval ging in einen Steigflug von 5000 Fuß pro Minute, und der Wizzo hinter ihm gab ihm die Kursangaben durch. Auf 30000 Fuß Höhe im klaren blauen Himmel richtete sich der Eagle aus und ging auf Nordwestkurs in Richtung Seattle. Die schneebedeckten Rocky Mountains unter ihnen würden sie auf dem ganzen Weg begleiten.
Im britischen Außenministerium war man mit den Vorbereitungen für den Transfer der Regierungsmitglieder und ihrer Berater zum G8-Treffen im April beinahe fertig. Die gesamte Delegation würde mit einer Chartermaschine vom Flughafen Heathrow nach JFK, New York, fliegen und dort formell von der amerikanischen Außenministerin empfangen werden.
Die sechs anderen nichtamerikanischen Delegationen würden aus verschiedenen Hauptstädten ebenfalls zum John-F.-Kennedy-Flughafen reisen.
Alle Delegationen würden im Transitbereich des Flughafens bleiben, eine Meile weit entfernt von den nächsten Demonstranten und Protestierern außerhalb der Sicherheitszone. Der Präsident würde einfach nicht zulassen, dass die Leute, die er als »Irre« bezeichnete, seinen Gästen Beleidigungen zubrüllten oder sie auf andere Weise belästigten. Was sich in Seattle und Genua ereignet hatte, würde sich nicht wiederholen.
Mit einer Luftbrücke von Hubschraubern würden die Konferenzteilnehmer vom Flughafen in eine zweite völlig abgeriegelte Umgebung gebracht werden. Von dort würden sie in den Konferenzort spazieren und fünf Tage in ungestörtem Luxus verbringen. Es war einfach und makellos.
»Niemand hat je daran gedacht, aber wenn man es sich recht überlegt, ist es regelrecht brillant«, sagte einer der britischen Diplomaten. »Vielleicht sollten wir es selbst eines Tages so machen.«
»Was noch besser ist«, brummte ein älterer und erfahrenerer Kollege, »nach Gleneagles werden wir eine Ewigkeit nicht an der Reihe sein. Sollen sich die andern ein paar Jahre lang den Kopf wegen der Sicherheit zerbrechen.«
Marek Gumienny meldete sich schon nach kurzer Zeit wieder bei Steve Hill. Er war in Begleitung des Direktors seines eigenen Dienstes, Porter Goss, im Weißen Haus gewesen und hatte seinen sechs Chefs die Schlussfolgerungen dargelegt, die man aus der bizarren Nachricht von der bis dahin völlig unbekannten Insel Labuan gezogen hatte.
»Sie sagten so ungefähr das Gleiche wie vorher«, berichtete Gumienny. »Was immer es ist, wo immer es ist, finden und zerstören Sie es.«
»Das sagt meine Regierung auch«, bestätigte Steve Hill. »Alle Register ziehen, erst schießen, dann fragen. Und wir sollen weiter zusammenarbeiten.«
»Kein Problem. Aber, Steve, meine Leute sind davon überzeugt, dass die USA das Ziel sein dürften. Also hat unser Küstenschutz Vorrang vor allem andern, vor Nah- und Mittelost, Asien und Europa. Wir beanspruchen die Priorität bei allen unseren Mitteln – Satelliten, Kriegsschiffe, alles. Wenn wir das Geisterschiff anderswo orten, okay, dann lenken wir unsere Mittel um und vernichten es.«
John Negroponte autorisierte die CIA, ihre britischen Kollegen auf vertraulicher Grundlage über die Maßnahmen zu informieren, die die USA zu ergreifen gedachten.
Die Abwehrstrategie basierte auf drei Phasen: Luftüberwachung, Identifizierung des Schiffs und Überprüfung. Bei unzureichenden Erklärungen oder unbegründeten Kursabweichungen würde das Schiff gewaltsam aufgebracht werden. Jeglicher Widerstand würde die vollständige Zerstörung auf See nach sich ziehen.
Zur Eingrenzung eines maritimen Territoriums zog man eine Kreislinie mit einem Radius von dreihundert Meilen um die Insel Labuan. Von der nördlichen Kurve dieses Kreises führte eine Linie über den Pazifik nach Anchorage an der Südküste von Alaska. Eine zweite Linie reichte von der Südkurve des Kreises südostwärts über den Pazifik bis an die Küste von Ecuador.
Das so umschriebene Gebiet umfasste fast den gesamten Pazifik und schloss die Westküste Kanadas, der USA und Mexikos – samt Panamakanal – bis hinunter nach Ecuador ein.
Es gab noch keinen Anlass, an die Öffentlichkeit zu gehen, hatte das Weiße Haus entschieden, aber man würde jedes Schiff, das in diesem Dreieck auf die amerikanische Küste zufuhr, überwachen. Alles, was das Dreieck verließ oder in Richtung Asien fuhr, würde man in Ruhe lassen.
Dank des jahrelangen Drucks seitens einiger nicht selten als verrückt bezeichneter Leute gab es jetzt noch eine unterstützende Prozedur. Die großen Reedereien hatten sich bereit erklärt, routinemäßig ihre Routenpläne einzureichen, wie Fluggesellschaften es mit ihren Flugplänen tun. Siebzig Prozent der Schiffe in der Kontrollzone würden deshalb aktenkundig sein, und die Reedereien konnten Kontakt mit ihren Kapitänen aufnehmen. Im Rahmen der neuen Vorschriften benutzten die Kapitäne im Kontakt mit ihren Reedereien immer ein bestimmtes, nur ihnen bekanntes Kennwort, wenn sie keine bedrohlichen Ereignisse zu melden hatten. Benutzten sie dieses Wort nicht, war zu vermuten, dass der Kapitän unter Zwang stand.
Zweiundsiebzig Stunden nach der Konferenz im Weißen Haus fing der erste KH-11-Keyhole-Satellit an, den Kreis um Indonesien zu fotografieren. Seine Computer hatten den Auftrag, jedes Handelsschiff in einem Dreihundertmeilenradius um die Insel Labuan zu fotografieren, ganz gleich, auf welchem Kurs es sich befand. Als der Satellit mit dem Fotografieren anfing, befand sich die Countess of Richmond auf Südkurs in der Straße von Makassar, 310 Meilen weit südlich von Labuan. Sie wurde nicht fotografiert.
Für London war die Besessenheit, mit der das Weiße Haus einen Angriff vom Pazifik her befürchtete, nur die eine Seite der Medaille. Die Warnungen der Experten in Edzell waren in Großbritannien und in den USA weiter analysiert worden und hatten weitgehende Zustimmung gefunden.
Nach einem ausführlichen persönlichen Telefonat zwischen Downing Street und dem Weißen Haus kam es zu einer Übereinkunft bezüglich der beiden wichtigsten Meerengen östlich von Malta. Die Royal Navy würde in Partnerschaft mit den Ägyptern das Südende des Suezkanals überwachen und jedes Schiff, das aus Asien kam, kontrollieren, mit Ausnahme der allerkleinsten.
Die Kriegsschiffe der US-Marine im Persischen Golf, in der Arabischen See und im Indischen Ozean würden in der Straße von Hormuz patrouillieren. Hier konnte die Bedrohung nur von einem sehr großen Schiff kommen, das sie im tiefen Fahrwasser in der Mitte der Meerenge versenken könnten. Der Verkehr bestand größtenteils aus Supertankern, die leer von Süden heraufkamen. Auf dem Rückweg lagen sie tief im Wasser, randvoll mit Rohöl, das sie an irgendeiner der vielen Dutzend Ölinseln vor den Küsten des Iran, der Vereinigten Emirate, Qatars, Bahrains, Saudi-Arabiens und Kuwaits aufgenommen hatten.
Ein Vorteil für die Amerikaner war, dass solche Schiffe insgesamt nur wenigen Eignergesellschaften gehören, die alle zur Zusammenarbeit bereit waren, um eine Katastrophe zu verhindern. Einen Trupp US-Marineinfanteristen per Sea-Stallion-Hubschrauber dreihundert Meilen weit vor der Straße von Hormuz auf Deck eines Supertankers abzusetzen und die Brücke kontrollieren zu lassen, dauerte nicht lange, und das Schiff brauchte seine Fahrt nicht zu verringern.
Was die Gefahren zwei und drei auf der Liste anging, wurde jede Regierung in Europa, die einen größeren Hafen besaß, vor der potenziellen Existenz eines Geisterschiffs unter terroristischem Kommando gewarnt. So hatte Dänemark Kopenhagen zu sichern, Schweden Stockholm und Göteborg, Deutschland Hamburg und Bremen. Frankreich schützte Brest und Marseille. Britische Marineflugzeuge starteten in Gibraltar und sicherten die Meerenge zwischen ihrem Felsen und Marokko gegen alles, was aus dem Atlantik kommen konnte.
Während des gesamten Flugs über die Rocky Mountains hatte Major Duval den Eagle auf Herz und Nieren getestet, und das Flugzeug funktionierte perfekt. Das Wetter unter ihnen hatte sich geändert.
Am blauen Himmel von Arizona erschienen zuerst ein paar Federwolken, die allmählich dichter wurden, als er die Grenze von Nevada nach Oregon überflog. Als er den Columbia River hinter sich hatte und die Grenze nach Washington überflog, reichte die dichte Wolkendecke unter ihm von Baumwipfelhöhe bis auf 20000 Fuß und zog von Kanada herunter nach Süden. Bei 30000 Fuß flog er immer noch durch einen klaren blauen Himmel, aber es würde ein langer Sinkflug durch dichten Nebel werden. Aus zweihundert Meilen Entfernung rief er den Stützpunkt McChord und bat um eine bodengeführte Landung.
McChord forderte ihn auf, sich im Osten zu halten, über Spokane hereinzuschwenken und den Landeanweisungen zu folgen. Der Eagle war in der Ostkurve in Richtung McChord, als der teuerste Schraubenschlüssel der U. S. Air Force, der zwischen zwei Hydraulikleitungen im Steuerbordtriebwerk geklemmt hatte, herausrutschte. Beim Übergang in den Geradeausflug fiel der Schraubenschlüssel in die Turbine.
Das erste Resultat war ein mächtiger Knall irgendwo in den Eingeweiden des F-100-Triebwerks, als die messerscharfen, annähernd mit Schallgeschwindigkeit rotierenden Kompressorblätter abgerissen wurden. Jedes abgerissene Blatt blockierte die folgenden. In beiden Cockpits antwortete ein grelles rotes Blinklicht auf Nicky Johns Aufschrei: »Fuck, was war das?«
Larry Duval vor ihm hörte einen Schrei in seinem eigenen Kopf: »Abschalten!«
Nach jahrelanger Flugerfahrung taten Duvals Finger ihre Arbeit fast allein: Sie legten einen Schalter nach dem andern um – Treibstoff, elektrische Schaltkreise, hydraulische Leitungen. Aber das Steuerbordtriebwerk stand in Flammen. Die internen Feuerlöscher setzten automatisch ein, doch es war zu spät. Das F-100-Triebwerk riss auseinander.
Der Wizzo hinter Duval rief McChord: »Mayday, Mayday, Mayday, Feuer im Steuerbordtriebwerk …«
Ein neuerliches Krachen hinter ihm unterbrach ihn. Statt abzuschalten, hatten Splitter des zerreißenden Triebwerks den Feuerschutz nach Backbord durchschlagen. Neue rote Lampen leuchteten auf. Das Backbordtriebwerk brannte jetzt auch. Mit reduziertem Treibstoff und einem funktionierenden Triebwerk hätte Duval die Maschine noch landen können. Aber wenn beide Triebwerke ausfallen, gleitet ein modernes Jagdflugzeug nicht wie in früheren Zeiten zu Boden, sondern fällt wie ein Stein vom Himmel.
Bei der Untersuchung würde Captain Johns später aussagen, dass die Stimme seines Piloten ruhig und besonnen klang. Er hatte den Funk auf »Senden« gestellt, sodass der Fluglotse in McChord nicht informiert zu werden brauchte. Er hörte ständig mit.
»Ich habe beide Triebwerke verloren«, sagte der Major. »Bereitmachen zum Aussteigen.«
Der Wizzo warf einen letzten Blick auf seine Instrumente. Höhe: 24000 Fuß. Sinkflug, steiler werdend. Draußen schien immer noch die Sonne, aber die Wolkendecke kam ihnen rasend schnell entgegen. Er sah sich um. Der Eagle war eine fliegende Fackel, lodernd von einem Ende zum andern. Er hörte die ruhige Stimme vor ihm.
»Schleudersitz betätigen.«
Beide Männer packten den Griff neben ihrem Sitz und zogen. Mehr brauchten sie nicht zu tun. Moderne Schleudersitze sind so weit automatisiert, dass sie alles Nötige übernehmen, selbst wenn der Flieger bewusstlos ist.
Weder Larry Duval noch Nicky Johns sah, wie ihr Flugzeug starb. Keine Sekunde zu früh schossen sie senkrecht durch die zerberstende Haube in die eisige Stratosphäre. Der Sitz hielt ihre Arme und Beine fest, sodass sie nicht herumgewirbelt und abgerissen werden konnten. Der Sitz schützte ihre Gesichter vor dem Druck der Beschleunigung, der ihnen sonst die Wangenknochen in den Schädel gedrückt hätte.
Kleine Bremsfallschirme stabilisierten die Schleudersitze auf dem Sturzflug zur Erde. In Sekundenschnelle waren sie in der Wolkendecke verschwunden. Durch ihre Helmvisiere sahen die beiden Flieger nichts als nasse graue Wolken, die an ihnen vorbeiflogen.
Der Sitz spürte, dass sie nah genug über dem Boden waren, um die Absprengladungen auszulösen. Die Haltegurte schnappten auf, und die beiden Männer, inzwischen eine Meile weit voneinander entfernt, wurden aus ihren Sitzen gerissen, die unter ihnen wegstürzten.
Die Fallschirme funktionierten ebenfalls automatisch. Auch sie öffneten zuerst einen kleinen Bremsfallschirm, um den freien Fall in der Luft zu stabilisieren, dann öffnete sich der Hauptschirm. Mit einem mächtigen Ruck verringerte sich die tödliche Fallgeschwindigkeit von hundertzwanzig Meilen pro Stunde auf ungefähr vierzehn.
Allmählich spürten sie die intensive Kälte durch ihre dünnen Nylon-Anti-G-Overalls. Sie schienen in einem gespenstischen nassgrauen Limbo zwischen Himmel und Hölle zu schweben, bis sie in die Wipfel der Fichten krachten.
Im Halbdunkel unter dem bewölkten Himmel landete der Major auf einer Lichtung, wobei sein Fall durch Polster flacher Fichtenzweige abgefedert wurde. Benommen und atemlos blieb er ein paar Sekunden liegen. Dann öffnete er den Gurtverschluss vor seinem Bauch, rappelte sich auf und schaltete sein Funkgerät ein, damit die Retter ihn orten konnten.
Nicky Johns war ebenfalls in den Bäumen gelandet, aber nicht auf einer Lichtung, sondern im dichten Wald. Der Schnee von den Ästen überschüttete ihn, und er wartete auf den Aufschlag, doch der kam nicht. Über sich in der eisigen Düsternis sah er, dass sein Fallschirm in den Bäumen hängen geblieben war. Unter sich konnte er den Boden erkennen. Schnee und Fichtennadeln. Ungefähr fünf Meter. Er holte tief Luft, öffnete den Gurtverschluss und fiel.
Mit etwas Glück wäre er gelandet und wieder aufgestanden. Aber stattdessen hörte er ein sauberes Knacken in seinem linken Schienbein, als seine Wade zwischen zwei kräftige Äste am Boden geriet. Kälte und Schock würden seine Reserven gnadenlos aufzehren, das wusste er gleich. Auch er schaltete seinen Peilsender ein.
Der Eagle war noch ein paar Sekunden weitergeflogen, nachdem die Besatzung ausgestiegen war. Dann richtete sich die Nase auf, er geriet ins Trudeln, kippte wieder ab und explodierte, als er in die Wolken stürzte. Die Flammen hatten die Treibstofftanks erreicht.
Er zerbarst in tausend Stücke. Die beiden Triebwerke lösten sich und fielen senkrecht nach unten. Nach zwanzigtausend Fuß schossen jeweils fünf Tonnen loderndes Metall mit einer Geschwindigkeit von fünfhundert Meilen pro Stunde in die Wildnis der Cascades. Das eine zerstörte zwanzig Bäume. Das andere tat mehr.
Der CIA-Officer, der die Truppe in der Hütte kommandierte, brauchte mehr als zwei Minuten, um wieder zu sich zu kommen und sich vom Boden der Kantine aufzurappeln, wo er zu Mittag gegessen hatte. Er war benommen, und ihm war übel. Im wirbelnden Staub lehnte er sich an die Wand der Blockhütte und fing an, Namen zu rufen. Stöhnen war die Antwort. Zwanzig Minuten später war er mit seiner Bestandsaufnahme fertig. Die beiden Männer, die im Aufenthaltsraum Pool gespielt hatten, waren tot. Drei andere waren verletzt. Zwei waren draußen unterwegs gewesen und hatten Glück gehabt. Sie waren hundert Meter weit entfernt, als der Meteorit, wie sie glaubten, in die Hütte eingeschlagen war. Als klar war, dass von den zwölf CIA-Leuten zwei tot waren, drei schnellstens einen Arzt brauchten, die beiden Spaziergänger wohlauf und die fünf übrigen mit einem üblen Schrecken davongekommen waren, sahen sie nach ihrem Gefangenen.
Später würde man ihnen vorwerfen, sie hätten zu langsam reagiert, aber bei der Untersuchung stellte man schließlich fest, dass sie sich zu Recht als Erstes um sich selbst gekümmert hatten. Ein Blick durch das Guckloch in die Zelle des Afghanen ergab, dass es dort zu hell war. Als sie hineinstürmten, stand die Tür, die in den ummauerten Hof führte, weit offen. Die Zelle selbst, aus armiertem Beton gebaut, war intakt geblieben.
Aber die Mauer des Hofes sah anders aus. Sie war zwar auch aus Beton, doch das herabschießende F-100-Triebwerk hatte ein anderthalb Meter breites Loch hineingerissen, bevor es schräg abprallend in das Mannschaftsquartier gerast war.
Und der Afghane war verschwunden.