5. Kapitel
Galcen NearSpace
Gyffer: Telabryk
Asteroidenbasis
Auf dem Beobachtungsdeck seines Flaggschiffes marschierte Großadmiral sus-Airaalin erneut vor den Panoramafenstern auf und ab, die ihm einen Blick auf die blaugrüne, von Wolkenstreifen überzogene Kugel von Galcen gewährten. Am Schott maßen die beiden Uhren weiterhin die Zeit und erinnerten ihn daran, dass die erste Phase des Krieges beinahe zu Ende war. Die Magierkreise konnten die Hyperraum-Kommunikation nicht mehr allzu lange unterdrücken, wie tapfer sie sich auch mühten; und dann, ganz gleich wie viel physischen Schaden ihre Arbeit den Verbindungen und Relais auch zugefügt hatte, würde sich das durchlöcherte Netzwerk nach und nach wieder erholen.
»Wir haben den Kopf der Schlange zerschmettert«, diktierte sus-Airaalin in das digitale Aufzeichnungsgerät an seinem Kragen. »Galcen Prime ist in unseren Händen, ebenso der Kommandeur der Bodentruppen; die Zitadelle der Adepten ist ebenfalls in unsere Hände gefallen, und der Meister der Adeptengilde ist unser Gefangener. Eines jedoch fehlt: Unseren Streitkräften ist es nicht gelungen, den Oberbefehlshaber und kommandierenden General der Adeptenweltler aufzuspüren, weder unter den Lebenden noch unter den Toten.«
Die Tür zum Beobachtungsdeck glitt mit einem leisen Klicken auf. Ein braun uniformiertes Crewmitglied trat ein, in einer Hand ein Nachrichtentablett. »Ein Bericht der Bodentruppen, Sir.«
»Danke, Soldat.«
Sus-Airaalin nahm das Tablett und überflog die handgeschriebenen Zeilen auf seiner Oberfläche. Er erkannte die Handschrift sofort, sie gehörte einem seiner Adjutanten; und die Neuigkeiten, die der Bericht enthielt, veranlassten ihn, die Zähne zusammenzubeißen, damit er keine Kommentare von sich gab, die weder ein Crewmitglied hören noch das digitale Aufzeichnungsgerät aufzeichnen sollte.
Als der Mann gegangen war, setzte sus-Airaalin sein gemäßigtes Flanieren fort. Die Zeit, die er sich hatte zum Schweigen zwingen müssen, hatte ihm geholfen, sowohl seine Emotionen als auch seine Stimme unter Kontrolle zu bringen, so dass er in demselben beherrschten Ton wie zuvor in das Diktiergerät sprechen konnte.
»Die Frage von Metadis Aufenthaltsort wird angesichts der neuesten Entdeckungen auf Galcen immer drängender. Angehörige unserer Bodentruppen haben bei der Durchsuchung der SpaceForce-Basis von Prime in geheimen Akten Anspielungen auf den geheimnisvollen Tod von Metadis Adjutantin gefunden. Wie Sie sich zweifellos erinnern werden, war die Position der Lieutenant-Adjudantin des kommandierenden Generals für eine unserer republikanischen Agentinnen vorgesehen.«
Sus-Airaalin hielt inne und holte tief Luft, um sich zu beruhigen. Wenn sich die Auferstandenen nicht an diese Information erinnerten, er jedenfalls wusste es noch sehr gut; der Ruf nach Freiwilligen hatte einige der besten Magier seiner Kreise erreicht. Der Replikationsprozess war ebenso heikel wie dauerhaft, und nur die stärksten Geister vermochten die Verpflanzung ihres Geistes in einen Körper zu überstehen, der in einem Nährstofffass gezüchtet worden war und dem die sofortige Vernichtung des ursprünglichen eigenen Körpers folgte. Der Agent, der auserwählt worden war, Commander Rosel Quetaya zu replizieren, zu beschatten und am Ende auch zu ersetzen, war eines der vielversprechenden jungen Mitglieder von sus-Airaalins eigenem Magierkreis gewesen.
Er schwieg einen Moment lang, während er sich in Erinnerungen verlor. Dann setzte er seinen Bericht fort.
»Eine gründlichere Suche, zwischen den medizinischen Gebäuden diesmal, förderte einen Leichnam zutage, der zu den geheimen Berichten passte. Da aufgrund Ihres Designs der Körper des Replikanten nicht von dem der replizierten Person unterschieden werden kann, nicht einmal auf der subzellulären Ebene, können wir die genaue Identität dieser Person mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln nicht feststellen. Eine Überprüfung der geheimen Unterlagen ergab, dass General Metadi ebenfalls seit einigen Wochen, wenn auch sehr diskret, als vermisst gemeldet wurde; zumindest einige der Einträge legen nahe, dass seine Adjutantin, oder wenigstens jemand, der ihren Namen benutzt, ebenfalls verschwunden ist.«
Der Großadmiral unterdrückte einen müden Seufzer. Das war von Anfang an seine größte und geheimste Furcht gewesen: dass der Schlag gegen Prime, der die Kampffähigkeit der Adeptenwelten mit einem einzigen vernichtenden Schlag gegen ihren Kopf ausschalten sollte, nicht auch gleichzeitig General Metadi zerstörte.
Solange das Herz noch schlägt, dachte er, ist die Schlange ebenso gefährlich wie zuvor.
Doch die Auferstandenen würden an den Zweifeln und Einwänden von jemandem, den sie zumindest öffentlich als Sieger feiern würden, nicht interessiert sein. Sus-Airaalin sprach weiter in das Gerät.
»Aus diesem Grunde plane ich, den Leichnam von Galcen Prime nach Eraasi zu senden, und zwar mit dem ersten verfügbaren Schiff, in der Hoffnung, dass Sie ihn untersuchen und mir sagen können, in wessen Gesellschaft sich General Metadi – wo auch immer – zur Zeit aufhält. Falls ich trotz der scharfen Sicherheitsbestimmungen darüber informiert werden könnte, welche ursprünglichen Befehle unser Agent gehabt hat, wäre ich noch dankbarer.«
Die Grill-Bar Fünf Stunden bis Mitternacht in Telabryk brüstete sich mit einer beeindruckenden Sammlung von gyfferanischen Bieren und importierten Schnäpsen. Ari Rosselin-Metadi saß am dunklen Ende des polierten Tresens, drehte ein Glas mit einem Schuss galcenianischen Brandy zwischen den Fingern und wartete darauf, dass der Barkeeper endlich das halbe Dutzend Bierkrüge für die Werftarbeiter in der Ecknische gezapft hatte. Zusätzlich zu ihrer Funktion als Nachbarschaftskneipe versorgte das Fünf Stunden bis Mitternacht Telabryk auch mit einer direkten Verbindung zum Quincunx. Ari hatte das herausbekommen, nachdem er eine Liste von Möglichkeiten abgearbeitet hatte, auf der sich unter anderem die Cinquefoil Lounge, der Pentangle Salat-Shop und das elegante und teure Restaurant 555 befanden.
Mittlerweile hatte sich Ari entschlossen, sich der Hilfe der kriminellen Bruderschaft zu bedienen. Da sich die SpaceForce aus dem Gyffersystem zurückgezogen hatte, und er daher kein Geld in der Tasche hatte – außer der mandeynanischen Viertel-Mark, mit der er den Brandy bezahlt hatte –, blieb ihm keine andere Möglichkeit. Das Kredit-Datennetz war ebenso außer Kraft gesetzt wie die HiKomms, so dass alles Geld, das er auf seinem oder dem Familienkonto besaß, auf der Bank liegen bleiben würde, bis er persönlich in einer Filiale der GalPrime-Bank auftauchte, um es abzuholen. Solange die Magierlords Galcen besetzt hielten – und Admiral Vallant den Infabede-Sektor –, würde das nicht allzu bald geschehen. Ari brauchte dringend einen Job und wahrscheinlich auch einen Platz, wo er sich verstecken konnte.
Auf einem Regal hinter der Bar glühte das übliche HoloSet, über das die örtlichen Abendnachrichten flackerten. Der Schirm zeigte die gewaltige goldene Kuppel des Staatshauses von Gyffer, das sich über einer Ansammlung von kleineren Regierungsgebäuden erhob. Im Vordergrund stand ein Reporter, der sich in angemessen ernsthaftem Ton über die historische Debatte ausließ, die zurzeit irgendwo in den architektonischen Meisterwerken hinter ihm stattfand.
»… und die Kommunikation mit dem Rest der Galaxis ist nach wie vor unmöglich. Wie noch nie zuvor in seiner Geschichte steht Gyffer allein da. Die Bürgerversammlung diskutiert zu ebendiesem Zeitpunkt verschiedene mögliche Vorgehensweisen …«
Der Barkeeper hatte mittlerweile die Hafenarbeiter in der Nische zu Ende bedient und kam zu Ari an das Ende des Tresens.
»Jetzt können wir uns unterhalten, wenn du möchtest«, sagte er. »Wie läuft es, Bruder?«
»Nicht so gut«, erwiderte Ari. »Ehrlich gesagt bin ich gestrandet, pleite und weit weg von zu Hause.«
»Galcen?«
»Ist der Akzent so stark?«, wunderte sich Ari. »Ja, Galcen wäre gut. Ebenso wie Maraghai.«
Der Barkeeper schüttelte den Kopf. »Das ist eine schlechte Zeit; man munkelt, dass die Versammlung den Raumhafen schließen will. Wenn du ein paar Wochen früher gekommen wärst, hätte ich dich ohne Schwierigkeiten in einen Liner nach Galcen schmuggeln können.«
»Dann würde ich jetzt wahrscheinlich gerade versuchen, den Magierlords aus dem Weg zu gehen, wenn es stimmt, was da behauptet wird.« Ari trank noch einen Schluck Brandy. »Was das betrifft, bin ich ziemlich froh, dass ich mich auf Gyffer befinde. Aber ich werde einen Job brauchen.«
»Die sind hier ziemlich pingelig, was Arbeitsgenehmigungen angeht.«
»Das hab ich mir schon gedacht. Das ist auch einer der Gründe, warum ich mich an die Bruderschaft gewendet habe.«
»Wir können dir eine Arbeitserlaubnis beschaffen, das ist kein Problem.« Der Barkeeper sah Ari an, dem schon vor einer Weile klar geworden war, dass es nicht genügte, alle Rangabzeichen von seiner SpaceForce-Uniform zu entfernen, um unerkannt zu bleiben. »Gibt es noch andere Gründe, von denen die Bruderschaft wissen sollte?«
Ari nickte. »Wahrscheinlich suchen einige Leute nach mir, die besser keine Chance bekommen sollten, mich aufzuspüren.«
»Hättest du vielleicht Lust, ein paar Namen zu nennen?«
»Admiral Vallant, zum Beispiel. Ich bin von seinem Flaggschiff geflüchtet, als ich hörte, dass er eine Meuterei plante. Und dann wären da noch die Magierlords.«
Der Barkeeper spitzte die Lippen zu einem lautlosen Pfiff. »Du gibst dich nicht mit Kleinkram ab, Bruder! Was muss man anstellen, um sich solche Feinde zu machen?«
Sag du es mir, dachte Ari. Dann wissen wir es beide.
Er schwieg einen Moment, als er versuchte, sich eine angemessenere Antwort auszudenken. In dem Schweigen registrierte er plötzlich, dass der Reporter in der Sendung auf dem HoloVid-Set über der Bar schneller und mit emphatischerer Stimme redete.
»… Ergebnis der Abstimmung. Im Interesse der Sicherheit hat sich die Bürgerversammlung entschlossen, alle Raumschiffe, die sich zurzeit im System befinden, zu requirieren und sie zu bewaffnen, um den Planeten zu verteidigen. Ausgewählte Einheiten der Raumfahrt-Reservisten werden mobilisiert, und sämtliche Werften und Waffenfabriken werden unter Kriegsrecht gestellt. Dem Sprecher der Versammlung zufolge …«
Mühsam riss Ari seine Aufmerksamkeit von dem HoloVid los und konzentrierte sich wieder auf das Gespräch. Wenn die Bürgerversammlung wüsste, dass er hier war, würden sie vermutlich auf die Idee kommen, ihn ebenfalls festzusetzen, schon allein, um zu verhindern, dass er in die falschen Hände geriet.
»Also, wie hab ich es geschafft, mir so bedeutende Feinde zu machen?«, stellte er schließlich die Frage in den Raum. »Durch meine Geburt, das ist alles. Du kannst es ruhig wissen … Mein Name ist Rosselin-Metadi.«
Erneut herrschte eine längere Pause. »Ich habe von dir gehört«, erwiderte der Barkeeper schließlich. »Du bist derjenige, der unser Problem auf Darvell gelöst hat.«
Ari lachte leise und bitter. »Das bedeutet es also, wenn man einen bestimmten Ruf hat. Ja, das bin ich gewesen.«
»Dann schuldet dir die Bruderschaft erheblich mehr als irgendeinem Kerl, der nur zufällig vorbeikommt«, meinte der Barkeeper. Der Gedanke machte ihn aber offenbar nicht sonderlich glücklich. »Ich will ehrlich sein … in solchen Zeiten wäre es mir lieber, wenn jemand anders die Schulden begliche. Aber eine Schuld ist eine Schuld. Für was für Jobs bist du denn zu gebrauchen?«
»Ich bin Mediziner, ich habe eine Pilotenlizenz ohne Beschränkung für kommerzielle Sternenschiffe, aber ich habe sie nie benutzt. Und ich kann ziemlich gut mit atmosphärischen Fluggeräten umgehen.«
»Das ist alles nicht sonderlich hilfreich«, erwiderte der Barkeeper. »Wenn du eines dieser Dinge tust, werden dich die Leute dabei sehen. Und … ich will dich nicht beleidigen, Bruder, aber du bist auch so schon ein bisschen zu auffällig.«
»Tut mir leid«, erwiderte Ari. »Wenn ich eine Möglichkeit herausgefunden habe, wie ich mich kleiner machen kann, lasse ich es dich wissen.«
Der Barkeeper sah ihn nachdenklich an. »Bis dahin brauchst du aber trotzdem einen Job. Hmm … und … bist du eigentlich empfindlich?«
»Zurzeit? Nicht sonderlich.«
»Dann kommen wir ins Geschäft. Es gibt mindestens einen Platz, wo ein großer Kerl wie du keine Aufmerksamkeit erregen wird, und zwar genau hier.«
Ari verstand sofort, was der Barkeeper meinte. »Du suchst nach einem Rausschmeißer?«
»Ich nicht, nein. Normalerweise gibt es hier keinen Ärger, den ich nicht allein bewältigen könnte. Aber es gibt eine Kneipe in der Nähe des Raumhafens, das Piloten-Vergnügen, das eine ziemlich raue Klientel anzieht. Was hältst du davon, dort zu arbeiten?«
»Ich kann es mir nicht leisten, wählerisch zu sein«, meinte Ari. »Also nehme ich den Job.«
So viel zu dem Thema, die Galaxis zu retten, dachte er, während er den Rest seines Brandys leerte. Sieht aus, als würde ich den Zweiten Magierkrieg in einem Bordell aussitzen.
Sus-Airaalin schaltete das elektronische Diktiergerät an seinem Kragen mit dem Daumen aus. Was er als Nächstes tun würde, war nicht für die Ohren der Leute bestimmt, denen er seine Berichte schicken musste. Die Auferstandenen zogen es vor, Ergebnisse zu erfahren, ohne sich durch die Kenntnis der Mittel betrüben zu lassen, die dafür erforderlich waren. Kein Wunder, dachte er. Einige von denen, denen er Rechenschaft schuldete, waren ehrenvolle Frauen und Männer, die nur das alte Wissen wiederherstellen und jene Dinge zurückbringen wollten, die verloren gewesen waren. Ein großer Teil dieser Leute jedoch war alles andere als das.
Wir haben zugelassen, dass unsere Niederlagen uns kleiner gemacht haben, dachte er bedauernd. Wir sind nicht in der Lage, über den Moment hinauszublicken; wir kämpfen um einen Vorteil über die anderen und vergessen dabei den größeren Feind.
Sus-Airaalin hatte ihn nicht vergessen. Er verließ das Beobachtungsdeck und schritt durch die schmaler werdenden Gänge so weit hinunter, bis er das Herz des Schiffes erreicht hatte. Dort fand er die Verwahrzellen, die jetzt von ihren üblichen Insassen, den Streithähnen, Faulpelzen oder aufsässigen Soldaten freigemacht worden waren, um größere Beute aufzunehmen.
In einer saß Brigadiergeneral Perrin Ochemet, der bei demselben Angriff auf Prime in ihre Hände gefallen war, bei dem sie auch Errec Ransome hatten festnehmen können. Sus-Airaalin ging an der Zellentür des Generals vorbei, ohne sich die Mühe zu machen, einen Blick hineinzuwerfen. Er war an den Geschichten, die Ochemet möglicherweise zu erzählen hatte, nicht sonderlich interessiert. Der General war ein sturer und fantasieloser Mensch. Er hatte sehr gut gekämpft und etliche Soldaten getötet, bevor man ihn hatte gefangen nehmen können. Aber es war unwahrscheinlich, dass er mehr wusste als das, was sie bereits in den ausführlichen Akten von Prime gefunden hatten.
Die Zelle neben der von Ochemet war leer, aber die dritte Zelle in der Reihe war dann wieder besetzt. Sus-Airaalin berührte mit dem Daumen das Schloss, und die Tür öffnete sich. Errec Ransome lag auf der flachen Metallpritsche. Seinen schwarzen Umhang hatte er um sich gewickelt zum Schutz vor der kühlen Schiffsluft. Er richtete sich mühsam auf, als sus-Airaalin hereinkam. Die Fesseln an seinen Handgelenken behinderten ihn. Es waren keine gewöhnlichen Handschellen, sondern speziell für diesen Zweck angefertigt worden, um den Zerstörer der Kreise festzuhalten und unschädlich zu machen.
»Lord sus-Airaalin«, sagte Ransome. Er klang müde, aber gelassen. Wenn es ihm Angst einflößte, dass er sich jetzt in den Händen seiner Feinde befand, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. »Ist die Zeit für Fragen schon so schnell gekommen?«
»Es ist die Zeit für höfliche Fragen gekommen«, antwortete sus-Airaalin, »und die Zeit für höfliche Antworten. Später werden wir über andere Dinge diskutieren. Wo ist General Metadi?«
Ransome schüttelte den Kopf. »Die Antwort auf diese Frage kenne ich nicht.« Er verzog den Mund in dem Anflug eines ironischen Lächelns. »Glauben Sie, was Sie wollen, Lord sus-Airaalin. Aber manchmal erzähle ich Ihnen die Wahrheit.«
Trotz der Handschellen des Adepten fröstelte sus-Airaalin. Er erinnerte sich an die Worte einer Person, die Meister Ransome in den Tagen des letzten Krieges sehr gut gekannt hatte. Einige Leute belügen ihre Feinde und erzählen ihren Freunden die Wahrheit. Mit Errec verhält es sich genau andersherum.
Wenigstens, dachte sus-Airaalin, bedeutet dies, dass meine Beziehung zum Meister der Adepten eine ehrliche und in gewisser Weise auch sicher ist. Er wartete, bis das Schweigen zwischen ihnen länger dauerte als ihre kurze Unterhaltung zuvor, dann stellte er die nächste Frage.
»Wo ist Commander Rosel Quetaya?«
Wieder schüttelte Ransome den Kopf. »Das weiß ich auch nicht.«
Eine Frage noch …
»Der Rest der Familie des kommandierenden Generals … wo befindet sie sich jetzt?«
Sus-Airaalin beobachtete den Adeptenmeister scharf. Eine Antwort auf diese Frage oder auch nur der Hinweis auf eine Antwort würde das Schweigen auf all die anderen Fragen hinfällig machen. Die Auferstandenen wollten das Geschlecht der Rosselin-Metadis mit der Wurzel ausrotten; das einzige Motiv, das sus-Airaalin dafür hatte finden können, war der blanke Hass auf den General und die Domina, die eine Koalition geschlossen hatten, welche den Untergang der Heimatwelten bewirkt hatte.
Verschwendung, dachte sus-Airaalin, der seine eigenen Gründe hatte, die Kinder zu finden. Die Fäden, die sie in das Gewebe des Universums zogen, waren stark; Fäden, die das ganze Muster reparieren konnten oder aber es vollkommen zu zerstören vermochten.
Erneut jedoch schüttelte Errec Ransome den Kopf. »Es tut mir leid. Das kann ich Ihnen nicht sagen.«
Kein ›ich weiß es nicht‹, registrierte sus-Airaalin. Sondern ein ›Ich kann es Ihnen nicht sagen‹.
Er weiß es.
Wie üblich war das Dinner in der Asteroidenbasis eine formelle Angelegenheit mit Kristallglas und makellosen Servietten, milchweißem Porzellan und hohen Duftkerzen.
Nyls Jessan und Ignaceau LeSoit saßen sich an dem prachtvoll gedeckten Tisch gegenüber. Aus Respekt hatte Jessan den formellen Anzug aus Khesatan, den ihm die Roboter herausgelegt hatten, zum Dinner angezogen. LeSoit dagegen hatte die Roboter offenbar zuerst ein wenig verwirrt; Jessan bezweifelte, dass sie etwas über die ausgefallenen Gewänder von Suivi Point in ihren Memory-Speichern hatten. Am Ende hatten sich die Roboter auf die üblichen Kleidungsstücke der FreeSpacer geeinigt, allerdings waren diese aus weißer Spinnenseide und schwarzem Brokat geschneidert statt aus billiger Synthetik.
Beka war nicht zu sehen, und ihr Stuhl am Kopfende der Tafel blieb leer. Die Roboter lieferten dafür keinerlei Erklärungen. Jessan versuchte zum einen, nicht dauernd zur Tür zu blicken, und außerdem, seine Sorge zu unterdrücken.
Gedankenverloren spielte er mit dem Silberbesteck herum, als die Roboter begannen, eine Reihe von Speisen auf Wärmetabletts hereinzurollen. Die Tabletts waren mit Elektrum beschichtet. Eingelegte Faan-Früchte, ein süßer Brei aus gewürztem Wassergetreide. Er ließ sich von den Robotern Portionen von allen Speisen auf den Teller legen und stocherte dann lustlos mit der Gabel darin herum.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches zupfte LeSoit methodisch ein Brötchen in kleine Stücke und ließ sie dann in einem Haufen auf seinem Teller liegen.
»Das Essen ist ganz okay«, sagte LeSoit nach einer Weile, obwohl Jessan nicht gesehen hatte, dass er eine der Speisen auch nur angerührt hatte, die ihm die Roboter servierten. »Woher kommt es?«
Jessan zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht. Einiges davon wird künstlich hergestellt, glaube ich. Was den Rest angeht, weißt du genau so viel wie ich.«
LeSoit antwortete nicht. Ein Roboter tauchte auf, nahm den Teller mit den Brötchenresten weg und stellte einen frischen Teller dorthin. LeSoit nahm ein Brötchen und fing von vorne an.
»Wie lange werden wir hier festsitzen, was glaubst du?«, fragte der Killer nach einer Weile.
»Mindestens so lange, bis die Reparaturen erledigt sind«, erwiderte Jessan, ohne LeSoit anzusehen. Stattdessen beobachtete er die Tür. Sie blieb hartnäckig geschlossen. »Wahrscheinlich so lange, bis die HiKomms wieder funktionieren und wir uns ein Bild davon machen können, was da draußen vorgeht.«
»Glaubst du, dass die Kommunikationskanäle bald wieder funktionieren?«
»Was? … Ach so.« Jessan zwang sich, seinen Blick von der Tür loszureißen. »Das denke ich schon, ja. Die Magier haben sie mit einem Trick lahmgelegt, ihre Flotte wird früher oder später mit ihren eigenen Leuten zu Hause kommunizieren müssen.«
Ein anderer Roboter näherte sich dem Tisch und schenkte Wein in die Gläser. Jessan trank einen Schluck, ohne etwas zu schmecken, und stellte das Glas wieder auf den Tisch. LeSoit stellte ihm eine andere Frage. Als Jessan begriff, dass er weder die Frage gehört hatte noch die Antwort, die er darauf gegeben hatte, schob er seinen Stuhl zurück und stand auf.
»Das reicht jetzt«, sagte er, zerknüllte seine Serviette und warf sie auf das Tischtuch. »Iss einfach ohne mich weiter. Ich komme zurück, nachdem ich den Captain gefunden habe.«
Er brauchte fast eine Stunde, bis er sie endlich fand; und dann spürte er sie an dem naheliegendsten Ort auf, einem Ort, den er bis zuletzt aufgespart hatte, weil er einfach nicht geglaubt hatte, dass sie dort sein könnte. Aber nachdem er die gesamten oberen Ebenen der Basis durchsucht hatte, ging er endlich zu Bekas Zimmer, einer kahlen Kammer am Ende eines ungenutzten Ganges, der einmal das Beobachtungsdeck des Asteroiden gewesen war.
Er legte seine Handfläche auf die Schlossplatte, und die Tür glitt auf. Das Licht in dem Raum war ausgeschaltet und die Deckenpaneele zurückgefahren, so dass nur das Panzerglas eine Barriere zwischen dem Raum und den Sternen bildete.
Beka stand in der Mitte des Raumes. Sie hatte den Rücken zur Tür gedreht und blickte auf das Sternenfeld über ihrem Kopf.
Sie drehte sich nicht einmal um, als Jessan eintrat. Etwas an ihrer Haltung trieb ihm die Kälte in die Knochen; es war eine undefinierbare Qualität an ihr, die sowohl vertraut als auch vollkommen fremdartig war. Er zitterte förmlich vor Angst um sie. Dann durchquerte er den Raum mit drei langen Schritten, und der samtartige Bodenbelag gab unter jedem seiner Schritte nach. Er zwang sich dazu, auf Armeslänge von ihr entfernt stehen zu bleiben.
»Beka?«, fragte er leise. »Geht es dir gut?«
Sie drehte sich um. »Nyls?«
»Ja.«
Er musste sich zusammenreißen, um die Fassung zu bewahren. Von ihrer üblichen Fahrt-zur-Hölle-Arroganz war nichts auf ihrem Gesicht zu erkennen. Es war so blass, dass es im Licht der Sterne wie ein blanker Knochen aussah. Ihre Augen waren dunkel, als hätte sie etwas betrachtet, was sie mehr fürchtete als den Tod.
Und der Captain fürchtet weder Hölle noch Tod noch Verdammnis …
Er streckte die Hand aus und sprach sie mit ihrem Kosenamen an, den er von ihrem Bruder Ari erfahren hatte. »Bee?«
Verzweifelt griff sie nach seiner Hand und zog ihn mit überraschender Kraft zu sich. So nah an ihr spürte er das Zittern, das ihren ganzen Körper durchrieselte, eine Welle nach der anderen. Sie presste ihr Gesicht fest gegen seine Schulter. Und er hielt Beka fest, ohne irgendetwas zu sagen, bis das Zittern schließlich aufhörte.
»Na«, sagte er schließlich, obwohl er wusste, wie verrückt das klang, aber ihm fiel nichts Besseres ein. »Na, na … fühlst du dich jetzt besser, Captain?«
Sie bog den Kopf ein wenig zurück und sah zu ihm hoch. Erleichtert stellte er fest, dass dieses starre Entsetzen aus ihrem Gesicht verschwunden war. Sie wirkte immer noch blass und eindringlich, sah jetzt jedoch nicht mehr so aus, als wäre sie eine Fremde in ihrem eigenen Körper.
»Nyls«, sagte sie leise, »liebst du mich?«
Er blinzelte verwirrt. »Ja. Ich dachte, das wüsstest du.«
»Dann bleib bei mir, Nyls. Ich brauche dich.«
»Natürlich. Immer.«
Nun schien sie sich etwas mehr zu entspannen, als wären ihre schlimmsten Ängste ein wenig gelindert worden. Aber ihre Miene wirkte immer noch besorgt.
»Dann kommst du mit mir nach Suivi Point?«, erkundigte sie sich.
»Nach Suivi oder wohin auch immer«, erwiderte er verblüfft. »Was genau wollen wir denn in Suivi Point?«
»Wir? Wir wollen nichts … aber da befindet sich etwas. Deswegen muss ich dorthin fahren und … etwas tun. Versprichst du, mich zu unterstützen, ganz gleich was geschieht?«
»Ganz gleich was geschieht«, wiederholte er feierlich. »Wann brechen wir auf?«
»Morgen«, sagte sie. Jetzt hatte ihre Stimme wieder den vertrauten Tonfall. »Ich muss in Suivi Point bereit sein, wenn die HiKomms wieder funktionieren.«