7. Kapitel

Nammerin: Namport Innenstadt
RSF Naversey: Hyperraum
Transit Ins Netz

Nichts ist mehr so, wie es einmal war, dachte Klea, als sie nacheinander die verschiedenen Bewegungsabläufe der Übung machte, die Owen den Schattentanz nannte. Alles verändert sich. Sogar ich.

Seit dem Tag, an dem sie Owen zusammengeschlagen und kaum bei Bewusstsein auf der Allee gefunden und nach Hause gebracht hatte, war sie nicht wieder in Freling’s Bar gewesen. Der Adeptenlehrling, falls er denn wirklich einer war, war schon vor dem Wochenende nach oben in sein Apartment gegangen. Aber er hatte einen Umschlag mit ihrem Namen darauf zurückgelassen. Als sie sah, wie viel Geld sich in dem Umschlag befand, ging sie die Treppen hinauf, um bei ihm anzuklopfen.

Als er sie schließlich einließ, trat sie in ein Apartment, das aufgeräumt und sauber, allerdings auch fast ebenso leer wie ihr eigenes gewesen war, zu dem Zeitpunkt, als sie es gemietet hatte. Sie hielt ihm den Umschlag hin.

»Du hattest keinerlei Grund, das hier bei mir zu lassen.«

Er machte keine Anstalten, ihr den Umschlag aus der ausgestreckten Hand zu nehmen. »Ich glaube, mein Leben ist mindestens so viel wert. Mir zumindest.«

Sie ließ die Hand an ihre Seite sinken. »Und was soll ich jetzt mit all dem Geld anfangen?«

Er zuckte mit den Schultern. »So viel ist es doch gar nicht.«

Nach einer Weile begriff sie, dass er es ernst meinte. Sie versuchte es noch einmal mit einer Erklärung. »Das reicht, um eine ganze Monatsmiete zu begleichen.«

»Ich weiß«, antwortete er. »Du brauchst Zeit zum Lernen, und die wirst du nie bekommen, wenn du dich immer nur darum kümmern musst, das Geld für die Miete zusammenzukratzen.«

»Wenn ich dafür anschaffen gehe, meinst du.«

Unbeeindruckt zuckte er noch einmal mit den Schultern. »Was auch immer.«

Sie gab es auf zu versuchen, mit ihm zu diskutieren. Am nächsten Tag, genauer, am nächsten Morgen, als Owen von seiner nächtlichen Arbeit heimkehrte, wartete sie vor seiner Apartmenttür.

»Du hast gesagt, du könntest mir etwas beibringen«, sagte sie. »In Ordnung. Hier bin ich. Finden wir also heraus, was ich in einem Monat lernen kann.«

Das war nun fast drei Wochen her, und sie wusste schon jetzt, dass sie nicht wieder zurück ins Freling’s gehen würde, wenn der Monat vorbei war. Was sie stattdessen tun würde, wusste sie noch nicht, aber sie sagte sich, dass sie ihre Pläne erst später machen würde, nachdem sie all das gelernt hatte, was ihr Owen beibringen konnte. Unterdessen verrichtete sie die Schattentanz-Übungen, so wie er es ihr am ersten Tag beigebracht hatte, und marschierte jeden Morgen vertrauensvoll für eine weitere Unterrichtsstunde in sein Apartment hinauf.

Manchmal brachte sie auch etwas zu essen mit, um die gefrorenen oder dehydrierten Schnellgerichte zu verbessern, die Owens Vorstellungen vom Kochen entsprachen. An diesem besonderen Morgen hatte sie einen frischen Laib Körnerbrot und ein Päckchen dünngeschnittener Wildschweinwurst aus Ulles Eckladen mitgebracht. Das Brot und die Wurst befanden sich in einem Bastkorb auf dem Tresen in der Kochnische und warteten darauf, dass sie die Stunde beendete.

Am Ende der Schattentanzsequenz drehte sie sich zu Owen um, der sie an den Tresen gelehnt beobachtet hatte.

»Und?«, erkundigte sie sich. »Besser?«

»Besser«, antwortete er. »Vielleicht noch nicht perfekt, aber schon besser.«

»Und was passiert, wenn es perfekt ist?«

»Es ist nie perfekt«, erklärte er ihr. »Aber wenn es so nahe an der Perfektion ist, wie du nur kannst, dann gehen wir an die zweite Sequenz. Und danach an die dritte. Und jetzt sag mir … bekümmert es dich immer noch, was andere Leute über dich denken?«

»Nur manchmal«, antwortete sie und versuchte die Aussicht zu verdrängen, bis in alle Ewigkeit eine Sequenz nach der anderen zu lernen. »Und wenn, dann ist es nicht so schlimm.«

»Zu wissen, dass du nicht verrückt bist, das ist der erste Schritt«, erklärte er ihr. »Und Disziplin ist der zweite Schritt.«

»Disziplin. Soll dieser ganze Schattentanzkram dafür gut sein?«

Er wirkte erfreut. So wie die Lehrer in der Grundschule ausgesehen hatten, wenn sie etwas ganz allein herausgefunden hatte, ohne dass ihr jemand die Antwort verraten hatte. »Für die Disziplin, ja. Und er ist auch noch für ein paar andere Sachen ganz nützlich.«

»Was für Sachen?«

»Das hängt davon ab, wie du es machst. Schau mal.« Er trat vom Tresen weg in die Mitte des Raumes und wiederholte die ersten paar Schritte der Übung, die sie gerade erst gemacht hatte.

»Wenn du es so machst«, sagte er, »dann hast du den Grundschritt, genau so, wie ich es dir gezeigt habe.«

Sie nickte. »Das sehe ich.«

»Aber du kannst es auch so machen.« Fast noch schneller, als sie es verfolgen konnte, hatte er noch einmal die ganze Sequenz absolviert … und zwar nicht nur schneller, sondern auch härter und mit einem Nachdruck, den sie nicht ganz nachvollziehen konnte. »Wenn du es so versuchst, wird jeder, der dir im Weg steht, ernsthafte Verletzungen davontragen.«

Sie ließ einen Moment lang die anderen Bewegungen des Schattentanzes vor ihrem inneren Auge vorbeiziehen. Nun, da sie wusste, worauf sie zu achten hatte, konnte sie erkennen, dass jede Bewegung dazu geeignet war, einem Gegner Schaden zuzufügen.

»Nützlich«, meinte sie schließlich. »Ich glaube, mir gefiel die Übung trotzdem besser, als ich noch dachte, sie sollte nur hübsch aussehen.«

Sie erwartete fast seinen Widerspruch, aber zu ihrer Überraschung lächelte er wieder. »Der Tanz um des Tanzes willen ist natürlich immer der beste. Was uns zum dritten Grund bringt, warum es gut ist, ihn zu lernen.«

»Noch ein Grund? Wie viele Gründe gibt es denn noch?«

»So viele, wie es Tänzer gibt«, gab er zurück. »Die meisten Adepten finden, dass sie von den Bewegungen bei der Meditation unterstützt werden.«

»Bei was?«

Er lachte in sich hinein. »Man macht die Bewegungen einfach ganz langsam. In einem Viertel der Geschwindigkeit. Und denkt an nichts anderes, während man sie ausführt.«

Klea stellte sich das vor. Bei den meisten anderen Menschen wäre die Anweisung, an sonst nichts zu denken, nur eine Art gewesen, ihr mitzuteilen, dass sie sich besser auf das konzentrieren sollte, was sie gerade tat. Aber Owen war nicht so wie die anderen. Wenn er sagte: »Denk an nichts anderes«, dann meinte er genau dies.

»Das klingt schwer«, sagte sie schließlich.

»Willst du es mal versuchen? Ich glaube, du bist so weit.«

Sie zögerte. »Und was ist, wenn ich es nicht richtig hinbekomme?«

»Was soll passieren? Nichts. Dann versuchst du es noch mal, oder du machst was anderes, je nachdem, was am besten funktioniert.«

»Oh.« Sie blickte einen Moment lang auf den Boden, dann hob sie den Kopf und tanzte. Nur eine Sekunde später brach sie mitten in der Bewegung ab. »Muss ich meine Augen geschlossen halten?«

»Das kannst du tun, wenn es dir hilft«, sagte ihr Owen. »Der eigentliche Trick ist aber, sie offen zu lassen und trotzdem nicht zu sehen.«

Nach einigen weiteren Bewegungen spürte sie, wie der Ablauf des Tanzes geschmeidiger wurde. Die Zeit, die bis jetzt immer ihr Feind gewesen war, schien unter ihr davonzufließen, und nichts blieb übrig als nur der Tanz, der sich dahinbewegte wie Staubfäden in einem Sonnenstrahl. Dann plötzlich verlor sie die Verbindung zu den Bewegungen, sie fiel in die Zeit zurück, und eine dunkle Finsternis schlug jäh und unerwartet über ihr zusammen, so schwer wie alle Verzweiflung der Welt.

Sie schrie auf und umfasste ihren Kopf mit beiden Händen.

An Bord des Kurierschiffes reckte sich Llannat Hyfid und schwang ihre Beine von der Beschleunigungsliege. Der künstliche Tagesablauf an Bord der Naversey befand sich in der Phase des gedämpften Lichts, und der Passagierraum war dunkel, abgesehen von der beleuchteten Nische mit der Cha’a-Kanne, dem Wasserspender und den blauen Pünktchen der Sicherheitslämpchen, die den Boden und die Schotten sprenkelten. Außer Llannat war nur noch ein einziger anderer Passagier wach. Der Reservist mit den Dienstabzeichen aus den Magierkriegen saß mit gebeugtem Kopf über einem beleuchteten Datapad.

Als er Llannats Stiefel auf dem Schiffsdeck hörte, blickte er von seiner Arbeit auf. »Immer noch wach, Mistress …?«

Er betonte die Anrede wie eine Frage, und ihr fiel ein, dass er ihr Namensschild im schwachen Licht nicht sehen konnte.

»Hyfid«, klärte sie ihn auf und blinzelte bei dem Versuch, seinen Namen im Gegenzug ausfindig zu machen. Auf dem Namensschild seiner Uniformjacke stand VINHALYN in Großbuchstaben, die altmodischer aussahen als die, die sie normalerweise zu sehen bekam. Sie vermutete, dass das Namensschild ein Überbleibsel aus seiner aktiven Zeit war, das er all die Jahre aufbewahrt hatte, während der Rest seiner Uniform verloren gegangen oder ausgemustert worden war. »Ich habe geschlafen, bin aber wieder aufgewacht. Ich bin jetzt schon so lange im Transit, dass mein Schlafrhythmus ein Mittagsschläfchen nicht mehr von dem Frühstück unterscheiden kann.«

»Ah«, antwortete er. »Das ist eine Erklärung. Ich hatte damals ein Faible dafür, immer einzuschlafen, wenn es nichts Besseres zu tun gab. Aber ich fürchte, ich bin schon zu lange aus dem aktiven Dienst raus. Also nutze ich stattdessen die Zeit, um ein wenig zu arbeiten.«

»Tut mir leid«, erwiderte sie. »Dann will ich Sie lieber nicht stören.«

»Nein, nein.« Er schaltete die Anzeige des Datapads durch eine Berührung mit einem Stift aus. »Arbeiten zu korrigieren ist zwar ein bisschen besser als Schlaflosigkeit, aber eben nur ein bisschen.«

»Sind Sie ein Lehrer?«

Er nickte. »Ich bekleide den Diregis-Lehrstuhl für Zeitgenössische Geschichte an der Universität Prime. Pech für meine Studenten im Mittwochsseminar, dass ich auch noch Reservist bei der SpaceForce bin … was ich selbst vollkommen vergessen hatte. Die SpaceForce aber offensichtlich nicht.«

»Die SpaceForce vergisst nie etwas«, meinte Llannat. »Aber wozu brauchen die einen Historiker?«

»Für dasselbe, was sie von jedem von uns wollen, nehme ich an«, erwiderte er. »Fachwissen. Wir sind alle Spezialisten auf dem einen oder anderen Gebiet. In meinem Fall sind es die Sprachen und die Kultur der Vorkriegsmagierwelten.«

Llannat fragte sich, was Vinhalyn wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass gerade sie einmal eine Begegnung mit einem Lordmagus gehabt hatte. Er würde mich wohl beneiden, wenn ich diesen Akademikertyp richtig einschätze.

»Das ist wirklich keine besonders häufige Fachrichtung«, sagte sie. »Warum haben Sie sich überhaupt dafür interessiert?«

Er lächelte. »Seltsamerweise wegen des Krieges.«

»Waren Sie denn damals in der SpaceForce?« Sie konnte an seinen Dienstabzeichen erkennen, dass er es gewesen war, aber sich danach zu erkundigen schien eine gute Methode zu sein, um auch noch den Rest der Geschichte zu erfahren.

»O ja, ich bin ursprünglich Ilarnaner. Wir wurden gleich zu Beginn des Krieges schwer getroffen. Also tat ich es vielen jungen Leuten meines Alters gleich und verpflichtete mich, sobald ich konnte. Im Gegensatz zu den meisten anderen konnte ich die Magierwelten besuchen, bevor meine Dienstzeit vorüber war.«

»Und das war für Sie der Anlass, sich für eine Gelehrtenlaufbahn zu entscheiden?«

»Ja«, antwortete er. »Ich hielt mich dort während der Befriedungsperiode auf. Die Republik tat ihr Bestes, um die industrielle und wissenschaftliche Basis der Magierwelten auf ein Niveau zu reduzieren, auf dem sie keine Bedrohung mehr für den Rest der Galaxie darstellten. Die Adeptengilde jagte die Magierlords und die niederen Ringmagier, die dann standrechtlich hingerichtet wurden, und mir dämmerte allmählich, dass ich Zeuge der systematischen Vernichtung einer Kultur wurde, die ebenso komplex und zivilisiert war wie unsere eigene. Außerdem war sie mit unserer Kultur verwandt und gleichzeitig unvorstellbar fremdartig.«

Er lächelte knapp. »Ich muß mich für meinen rhetorischen Ausbruch am Schluss entschuldigen. Er stammt aus einer Rede, die ich in den vergangenen zwanzig Jahren schon oft habe halten müssen. Ich fürchte, meine akademischen Kollegen halten mich bei diesem speziellen Thema für etwas durchgedreht.«

»Das heißt also, wenn die Raumpatrouille der Magierwelten einen verlassenen Deathwing-Kreuzer aus dem All fischt, sind Sie bei der SpaceForce automatisch auf der Liste der Leute, die wieder in den aktiven Dienst berufen werden«, meinte Llannat.

Vinhalyn nickte. »Sie brauchen jemanden, der an Bord des Wracks Dokumente und Aufzeichnungen übersetzen kann. Und der Umstand, dass sie ausgerechnet mich benötigen, lässt darauf schließen, dass das Schiff besonders alt ist. Sonst hätte es gereicht, die zeitgenössischen Dialekte der Magierwelten zu kennen.«

Er zeigte mit seinem Stift auf die Liege, auf der der junge Reservist schlief. »Unser ziemlich wichtigtuerischer Freund dort drüben ist in der gleichen Situation. Sofern sein Namensschild nicht täuscht, ist er im zivilen Leben ein wichtiger Experte für Datenrettung und darauf spezialisiert, Informationen aus aufgegebenen oder außerirdischen Systemen zugänglich zu machen.«

Llannat sah zu dem sanft schnarchenden Mitreisenden hinüber. »Wahrscheinlich hat er seine Karriere als Computertechniker bei der Truppe begonnen«, bemerkte sie ohne großes Mitgefühl. »Und jetzt kommt auf einmal die SpaceForce, gelobt sei ihr kleines kaltes Herz, und fordert die Zinsen von ihm ein.«

»Ganz genau«, bestätigte Vinhalyn. »Was den Rest von uns betrifft, so sind die beiden Führungsoffiziere am leichtesten zu erklären; ein Hüllentechniker und ein Waffenexperte sollten gemeinsam in der Lage sein, mit den meisten technischen Systemen des Kreuzers zurechtzukommen. Die Anwesenheit eines hochrangigen Sanitätsoffiziers ist schon problematischer, es sei denn, man ruft sich ins Gedächtnis, dass die Magierwelten vor dem Krieg Fortschritte auf dem Gebiet der Biochemie gemacht hatten, die unseren eigenen Kenntnisstand noch immer bei weitem übertreffen. Tja, und damit«, schloss er, »bleiben nur noch Sie übrig.«

»Ich?«

Er nickte. »Sie sind ein großes Rätsel für alle, ist Ihnen das nicht klar?«

»Ich … nein.«

»In der Tat«, fuhr er fort. »Da wir bereits einen Mediziner im Team haben, ist davon auszugehen, dass Sie in Ihrer Rolle als Adept hierherbeordert wurden, um etwas gegen Fallen oder andere Geräte zu unternehmen, die die Magier, die den Deathwing gebaut und aufgegeben haben, an Bord zurückgelassen haben könnten. Aber falls dies der Grund ist, warum sollte die Gilde dann einen vergleichsweise jungen und unerfahrenen Adepten schicken, solange sie doch immer noch über kriegserfahrene aktive Mitglieder verfügt?«

»Ich wünschte, ich wüsste es«, antwortete Llannat beunruhigt. »Ich kann mir nur denken, dass es für die SpaceForce einfach war, über mich zu verfügen … sie brauchten nichts weiter zu tun, als meine Befehle im letzten Moment zu ändern. Und dafür mussten sie noch nicht einmal Meister Ransome um einen besonderen Gefallen bitten.«

»Eine ziemlich einleuchtende Theorie«, entgegnete Vinhalyn. »Errec Ransome und Jos Metadi sind schon lange befreundet, dasselbe kann man aber man nicht über die Gilde der Adepten und das Oberkommando sagen. Die Tageslosung lautet wohl leider: gegenseitiges Misstrauen.«

Sie dachte daran, wie Ari sie jedes Mal mit einer gewissen Skepsis behandelt hatte, wenn sie sich in das Schwarz der Adepten statt der Uniform der SpaceForce gekleidet hatte. »So etwas ist mir auch schon selbst begegnet.«

»Wie dem auch sei«, fuhr der Historiker fort, »man kann es der SpaceForce nicht verübeln, möglichst ihre eigenen Leute und nicht die der Gilde einzusetzen. Unter diesem Aspekt erklärt sich sicherlich auch ihre Anwesenheit unter uns.«

Er machte eine Pause und fuhr dann in ruhigerem Ton fort: »Aber jemand, der den Stab eines Lordmagus mit sich trägt, könnte durchaus noch aus einem anderen Grund zu der Untersuchung hinzugezogen worden sein, als nur, weil er zufällig verfügbar gewesen ist.«

Llannat stand ganz still und war dankbar, dass das Licht gerade so gedämpft war. »Jeder Adept kann sich seinen Stab frei auswählen«, erwiderte sie. »Mein Stab ist das Vermächtnis eines Freundes.«

»Jedenfalls ist er auf dieser Seite des Netzes nicht gerade üblich«, bemerkte Vinhalyn. »Hier sind der Adept und sein Stab untrennbar bis über den Tod hinaus miteinander verbunden. In den Magierkreisen kann ein einzelner Stab dagegen über mehrere Generationen weitergereicht werden … von Freund zu Freund, vom Lehrer zum Schüler oder vom Unterlegenen an den Sieger – nach einem ihrer rituellen Duelle.«

Einen Augenblick lang wirkte er so, als wollte er sich entschuldigen. »In der Tat war ich davon ausgegangen, dass Sie das Zeichen auf eine solche Weise erworben haben … bei irgendeinem Kampf. Ich hoffe, Sie vergeben einem Gelehrten das Interesse, die Lösung dieses faszinierenden Rätsels zu finden, ganz gleich ob ihn die Antwort etwas angeht oder nicht.«

»Sie haben mich nicht beleidigt«, sagte sie. »Aber Sie hatten trotzdem recht mit jenem Teil des Rätsels. Die SpaceForce hat mir diesen Einsatz wahrscheinlich übertragen, weil ich es einmal geschafft habe, einen Kampf mit einem Angehörigen eines … wie nannten Sie es? … eines Magierkreises zu überleben und hinterher einen Bericht darüber zu verfassen.«

Nur gut, dass die SpaceForce den Rest der Geschichte nicht kennt, dachte sie. Denn wenn sie es wüsste, dann würde es die Gilde wahrscheinlich auch herausfinden. Der Truppe mag es vielleicht egal sein, ob ich der letzte Schüler eines abtrünnigen Lordmagus gewesen bin … aber Meister Ransome würde mich zweifellos augenblicklich aus der Gilde werfen.

Falls er sich nicht entschließt, mich auf der Stelle zu exekutieren, bevor ich noch jemand anderen kontaminiere.

Die Dunkelheit lastete schwer in Kleas Kopf und drückte sie schonungslos hinab. Sie spürte, wie Owen sie im letzten Augenblick noch auffing, bevor sie auf dem harten Boden aufschlug.

»Klea … bist du in Ordnung?«

»Ich weiß nicht. Mein Kopf tut weh.«

»Hier. Setz dich. Ich hol dir was zu trinken.«

Sie ließ sich von ihm zu dem einzigen Stuhl im Zimmer führen, einem billigen Klappstuhl aus Metall, mit wackligen Beinen und schartiger Rückenlehne. Als sie wieder klarer sehen konnte, entdeckte sie ihn in der Kochnische, wo er damit beschäftigt war, ihr mit heißem Wasser aus der Leitung einen Becher Nutlis Instant-Ghil zuzubereiten.

»Ihr Außenwelter«, murmelte sie. »Wisst ihr Leute denn gar nicht, dass ihr kochendes Wasser dafür nehmen müsst?«

Owen warf ihr einen Blick über seine Schulter zu und rührte weiter um. »Macht das einen Unterschied? Ich war mir nie sicher.« Er brachte ihr den Becher. »Jetzt kennst du also mein Geheimnis. War es der Ghil oder mein Akzent, der mich verraten hat?«

Sie schlürfte den lauwarmen Ghil und tröstete sich mit dem vertrauten sandigen Geschmack. Der Rand des Bechers war schartig, und Klea fragte sich unwillkürlich, ob Owen noch einen zweiten haben mochte. Wahrscheinlich hat er ihn beim Einzug im Schrank gefunden.

»Das war ja auch kein großes Geheimnis«, sagte sie. »Du hast es einfach nie erwähnt. Aber ich habe noch nie von irgendwelchen Adepten aus Nammerin gehört.«

»Heutzutage jedenfalls nicht mehr«, antwortete er. »Fühlst du dich jetzt besser?«

»Es geht mir gut.«

»Wunderbar«, entgegnete er. »Was ist beim Schattentanz mit dir geschehen? Kannst du es mir beschreiben?«

»Ich glaube schon.« Sie sprach langsam und suchte die richtigen Worte, um zu beschreiben, was sich so angefühlt hatte, als gäbe es keine Worte dafür. »Ich habe die Bewegungen so gemacht, wie du es gesagt hast, und versucht, meine Augen offen zu halten, ohne etwas zu sehen. Zuerst hat es nicht funktioniert, aber dann ist plötzlich alles irgendwie anders gewesen, und ich war da und auch wieder nicht.«

»Bis jetzt ist das nichts Ungewöhnliches«, erwiderte er. »Eigentlich ist es sogar für die meisten Anfänger so. Sprich weiter.«

»Na ja … gleich nachdem ich ohnmächtig wurde, aber noch bevor ich umgefallen bin, wenn du weißt, was ich meine …«

Er nickte. »Ich weiß. Was geschah dann?«

»Da hat mich irgendwas getroffen.« Sie erinnerte sich und verzog das Gesicht. »Es war, als ob … als ob dir jemand einen Sack über den Kopf stülpt und dir gleichzeitig einen Stein auf den Schädel schlägt. Oder so, als ob man eben noch sorglos angetrunken war, dann aber urplötzlich einen teuflischen Kater hat, gegen den kein Kraut gewachsen ist.«

Er stöhnte bei dem Vergleich, und Klea dachte daran zurück, wie sie ihn blutend und mit dem Gesicht im Straßendreck liegend gefunden hatte.

»Das ist dasselbe, was dir damals passiert ist, hab ich recht?«

Einen Moment lang sagte er nichts, aber er betrachtete sie mit einem nachdenklichen Ausdruck in seinen haselnussbraunen Augen. »Sowas Ähnliches, ja. Aber das, was dich eben getroffen hat, war nur ein Versehen.«

»Wie ein Versehen fühlte sich das aber ganz und gar nicht an.«

»Jedenfalls war es nicht gegen dich gerichtet«, meinte er. »Du hast nur zufällig im Weg gestanden.«

»Wem stand ich zufällig im Weg?«, setzte sie nach. »Was auch immer da passiert ist, du kannst dich jedenfalls jetzt nicht hinstellen und mir weismachen, das Ganze hätte darauf abgezielt, irgendjemandem etwas Gutes zu tun.«

Er betrachtete sie für eine lange Zeit mit demselben nachdenklichen Gesichtsausdruck wie zuvor. »Du hast recht«, sagte er schließlich. »Jemand versucht, Ärger zu machen. Das ist die hässliche Seite dessen, was du gerade lernst; so, wie den Schattentanz als Waffe zu benutzen, nur noch viel schlimmer. Und jeder Anfänger, ganz besonders aber jemand, der so emphatisch ist wie du, wird dann sehr verwundbar.«

Klea nahm einen großen Schluck von dem Ghil. »Kommen wir jetzt gleich zu der Stelle, wo du mich wegschickst, damit mir nichts passiert?«

»Das sollte ich wohl tun«, erwiderte Owen. »Nur ein schlechter Lehrer würde seinen Schüler in etwas so Gefährliches hineinziehen.«

»Gefährlich«, wiederholte Klea und lachte kurz auf. »Ich bin seit fünf Jahren in dieser Stadt auf den Strich gegangen. Mir sind Sachen passiert, die du deinem schlimmsten Feind nicht wünschen würdest. Und du bildest dir ein, ich wüsste nicht, was gefährlich bedeutet?«

»Bei dem hier handelt es sich um etwas vollkommen anderes«, erwiderte er. »Was du gespürt hast, war das Wirken eines Magierkreises, der hier auf Nammerin arbeitet.«

Klea sah ihn an. »Ein Magierkreis? Wie in den alten HoloVids über den Krieg?« Nur die vagen Erinnerungen an ihre Geschichtsstunden in der Grundschule hinderten sie daran, die Magier und ihre Kreise in dieselbe Schublade zu stecken wie die Geschichten über das Sumpfmonster, die ihre Großmutter erzählt hatte, oder die unwahrscheinlicheren Folgen aus der Serie Spaceways Patrol. »Ich dachte, die Magier sind weg?«

»Das sind sie auch«, sagte er. »Bis auf die, die es eben nicht sind. Du hast dich gefragt, was ich auf Nammerin tue. Na ja, jetzt weißt du’s.«

»Du arbeitest für die Adeptengilde«, riet sie. »Und jagst die Magierkreise.«

»Unter anderem.«

Sie schaute auf den Bodensatz des Ghil in ihrem Becher und dann wieder zu Owen. »Du hast mir aber erzählt, du wärest ein Lehrling und kein Adept. Wenn die Arbeit an den Magierkreisen nichts ist, an dem sich ein Schüler die Finger verbrennen sollte, warum sollte die Gilde dann ausgerechnet dich schicken?«

Er seufzte. »Die einfache Antwort lautet, dass jeder Magier in der Republik sehr gut vor Adepten gesichert sein wird. Deswegen braucht man jemanden, der kein Adept ist, um sie zu finden.«

Jetzt stiegen noch mehr Erinnerungsbilder in ihr auf. Erinnerungen an Flatpics und alte Nachrichtenholos … Illustrationen aus ihren Geschichtsbüchern. Schwarze Masken, schwarze Gewänder. Sie hatte danach noch lange Alpträume gehabt, in denen sie vorkamen … so lange, bis sie feststellte, dass es im Leben noch schlimmere Dinge gab als imaginäre Magierlords, vor denen sie Angst haben konnte.

Und jetzt stellt sich heraus, dass ich damals doch recht hatte, dachte sie. Weil die Alpträume wiederkehren. Nur sind sie diesmal real.

»In meinem Traum kamen Magier vor«, sagte Klea langsam. »Ein ganzer Kreis von ihnen. Sie sahen mich, und ich rannte weg. Du warst auch da. Und später fand ich dich halbtot auf der Straße.«

Sie betrachtete ihn und erinnerte sich an seine Blutergüsse, daran, wie das Blut sein Haar verklebt hatte und wie ihr Körper an jenem Abend die Spuren von Verletzungen gehabt hatte, die ihr im Traum zugefügt worden waren.

»Haben dich die Magier so zusammengeschlagen?«

»Ja«, antwortete er. »So könnte man es ausdrücken. Sie glaubten – zumindest hoffe ich dies –, dass ich auch nur irgendjemand war, der sich zufällig einmischte und so viel untrainiertes Talent besaß, dass er für ihre Impulse empfänglich wäre.«

»So wie ich.«

»Ganz genauso«, meinte er. »Allerdings verfügst du nicht nur über geringfügige potenzielle Fähigkeiten, sondern du besitzt eine ganze Menge davon. Und dich als Warnung mental zusammenzuschlagen, wie sie es bei mir versucht haben, würde bei dir nichts nützen. Denn du wirst spüren, was sie im Schilde führen, ob du es nun willst oder nicht. Das ist auch der Grund, warum ich dir nicht gesagt habe, dass du dich in Sicherheit bringen sollst … es würde nämlich nicht das Geringste nützen, wenn du irgendwo anders hingingest.«

»Oh«, meinte Klea. »Und was machen wir jetzt?«

»Du musst sehr vorsichtig sein«, erklärte er. »Und ich werde die Arbeit fortsetzen, um deretwillen ich hergekommen bin.«