6. Kapitel

Nammerin: Namport
RSF Naversey: Das Äußere Netz

Klea Santreny lag auf dem Rücken und starrte an die Decke über ihrem Bett. Zwar war es dunkel im Zimmer, aber sie konnte dennoch nicht schlafen. Zu viele Jahre der Nachtarbeit hatten einen Nachtmenschen aus ihr gemacht. Selbst wenn sie hundertzwanzig Jahre alt werden sollte und es ihr irgendwie gelänge, das zu tun, wozu sie laut Owen in der Lage wäre, und sich tatsächlich von einem hinterwälderischen Bauernmädchen und einer Arbeiterhure in Mistress Klea Santreny, Adeptin, verwandeln würde, wäre sie doch um Mitternacht nach wie vor rastlos.

Das Wetter in Namport half ihr auch nicht gerade. Sie hatte alle Fenster in ihrer kleinen Wohnung aufgerissen, ebenso wie die Jalousientüren auf ihrem winzigen Balkon. Aber draußen regte sich kein Lüftchen. Die stickige, feuchte Luft war genauso warm, wenn sie sie einatmete wie beim Ausatmen, und obwohl sie geduscht hatte, bevor sie zu Bett gegangen war, fühlte sich ihre Haut klebrig an von Körperöl und von Schweiß.

Draußen war es feucht und dunstig, kein Regen brachte die ersehnte Erleichterung. Das Licht der Straßenlaternen verwandelte den Himmel hinter den Fenstern in einen dunkelgrauen Schmutzflecken. In der Stille der Nacht besaßen die Geräusche der Stadt eine ferne, gedämpfte Klarheit; das ständige Hintergrundsummen des Verkehrs aus dem Zentrum; Stimmen, die sich in die Tanzmusik mischten; das tiefe Dröhnen und lange, grollende Rumpeln eines landenden Sternenschiffes.

Klea seufzte, warf die Laken zurück und stand auf. Sie ging in die Küchennische und schenkte sich ein Glas kaltes Wasser aus der Spüle ein. Nach kurzem Nachdenken nahm sie zwei Eiswürfel aus dem Gefrierschrank und gab sie ebenfalls in das Glas. Die Hälfte trank sie in einem Zug aus und trat dann mit dem Rest des Wassers auf den Balkon. Dort war die Luft ein bisschen kühler. Sie stellte das Glas auf das Holzgeländer und blickte in den Nachthimmel hinauf.

In dem Dunst und hinter dem grellen Licht des Raumhafens konnte sie keine Sterne erkennen. Als sie jetzt zurückdachte, fiel ihr auf, dass sie nur sehr selten Sterne gesehen hatte, seit sie von der Farm weggelaufen war. Sie konnte die Male an einer Hand abzählen. Auf dem Land, wo die Höfe Meilen voneinander entfernt lagen und das Licht in den Häusern schon früh gelöscht wurde, konnte man in nahezu jeder klaren Nacht nach draußen blicken und alle Sterne sehen, die man gerade betrachten wollte. Hier war das jedoch nicht möglich. Man musste auf den ausdruckslosen, grauen Baldachin über einem blicken und einfach daran glauben, dass irgendwo dahinter die Sterne am Firmament glitzerten.

Sie funkelten in Konstellationen, an deren Namen sie sich nach all den Jahren in der Stadt immer noch erinnern konnte: das Joch, der Baum, der Hüpfende Frosch.

Plötzlich schienen die Sternenhaufen auseinanderzubrechen. Die Muster über ihr veränderten sich und nahmen Formen an, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sie blickte in den Himmel eines anderen Ortes, das war ihr schon klar, aber ob dieser Ort in der Vergangenheit lag, in der Gegenwart oder in einer zukünftigen Zeit, das vermochte sie nicht zu entscheiden.

Während sie hinsah, flammte ein unauffälliger Stern plötzlich grell auf und blähte sich zu einem Ball aus blau-weißem Licht auf. Unwillkürlich riss sie die Arme schützend hoch, vor die Augen …

Das Wasserglas, das sie auf das Geländer gestellt hatte, kippte um, als sie mit dem Ellbogen dagegenstieß, und eine Sekunde später hörte sie, wie es auf dem Bürgersteig zerschmetterte. Langsam ließ sie die Arme sinken. Der Himmel über Namport wirkte so grau und dunstig wie zuvor.

Klea umklammerte mit beiden Händen das raue Geländer. »Das war nicht irgendein beliebiger Alptraum«, flüsterte sie.

Ihre Stimme klang gepresst und zittrig, selbst in ihren eigenen Ohren. Sie hatte jedes Recht, Angst zu haben; denn sie erkannte den Unterschied zwischen den halluzinatorischen Bildern, die ihr sagten, dass sie die Gedanken von anderen Leuten aufschnappte, und etwas so Unerklärlichem wie dem hier.

»Ich muss mit Owen reden«, sagte sie leise zu sich selbst.

Aber Owen war noch nicht nach Hause gekommen; vermutlich war er immer noch im Badehaus am Hafen, wo er die große Waschmaschine bediente, die das Haus mit sauberen Laken und Handtüchern versorgte. Klea ging in die Wohnung zurück, kochte sich eine Kanne heißen Ghil und setzte sich dann an den Küchentisch, wo sie trotz des stickig-drückenden Wetters eine dampfende Tasse nach der anderen trank.

Irgendwo passiert etwas Schlimmes. Etwas wirklich Schlimmes, und ich habe gerade gesehen, wie es angefangen hat.

Llannat absolvierte die Schattentanz-Übungen im Passagierbereich der Naversey. Sie wusste, dass die anderen sie beobachteten, entweder verstohlen, so wie der Captain vom Medizinischen Dienst und die beiden Sergeants, oder ganz offen wie Govantic, der Computerspezialist. Aber sie absolvierte die vertrauten Übungen trotzdem. Wenn sich die Lage im Netz so entwickelt hatte, wie sie fürchtete, dann war es erheblich wichtiger, ruhig zu bleiben und sich fit zu halten, als sich damit zu beschäftigen, was die Leute über einen denken mochten.

Tonnen von herumschwebendem Metall. Die Ebannha verschwunden. Keine Antwort über die üblichen Kommunikationskanäle. Das kann nur eins bedeuten, und wir alle wissen es.

Es muss den Magierlords gelungen sein, das Netz zu durchbrechen.

Die Stimme aus dem Lautsprecher riss sie aus ihrer Konzentration. »Alle anschnallen für eine High-Grav-Beschleunigung. Wir haben etwas Vielversprechendes gefunden und fliegen hin, um es uns genauer anzusehen.«

Llannat hakte den Stab an ihren Gürtel, ging zur Beschleunigungsliege und schnallte sich an. Erneut meldete sich der Lautsprecher.

»Bereit machen für Beschleunigung.«

Nur eine Sekunde später presste sie die Masseträgheit in die Polster.

Piloten halten wohl nicht viel davon, lange herumzuspielen, dachte sie, während die Beschleunigung ihr den Atem nahm. Ihr Gewicht schien unaufhörlich zuzunehmen, bis sie jeden einzelnen Knochen in ihrem Körper spürte. Das waren fünf G, vielleicht sogar sechs. Das Gewicht hob sich einen Moment von ihr, als der Pilot eine Schleife flog, und verstärkte sich dann wieder, als das Kurierschiff bis zum Stillstand abbremste.

Erneut meldete sich der Lautsprecher knisternd. »Lieutenant Vinhalyn, Mistress Hyfid, auf die Brücke.«

Sie schnallte sich los und begleitete den Reservisten und Historiker zum Cockpit der Naversey. Für ihr ungeübtes Auge wirkten die Sterne hinter den Panoramascheiben unverändert, genauso wie vorhin, als das Kurierschiff aus dem Hyperraum getreten war. Aber sowohl Pilot als auch Kopilot wirkten jetzt erheblich selbstsicherer.

Vinhalyn hatte die Veränderung offenbar ebenfalls registriert. »Was haben Sie da?«

»Nun«, erwiderte der Pilot, »als wir die Ebannha nirgendwo finden konnten, haben wir einen spiralförmigen Scan in Richtung Netz durchgeführt. Schließlich hatte Mistress Hyfid ja gesagt, wir sollten weitermachen. Und das war so ziemlich das Einzige, womit wir weitermachen konnten …«

»Ja, ja«, unterbrach ihn der Historiker ungeduldig. »Und?«

»Und jetzt haben wir noch mehr Weltraumschrott auf den Scans. Wir dachten, Sie könnten uns vielleicht sagen, welche Trümmerstücke wir genauer unter die Lupe nehmen sollten.«

Vinhalyn warf Llannat einen kurzen Seitenblick zu. »Mistress?«

Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie man solche Sensorendaten interpretieren soll, dachte Llannat. Natürlich hat man mich während meiner Grundausbildung mit dieser Technik kurz bekannt gemacht, aber das soll nicht viel heißen …

Sie trat trotzdem vor und warf einen Blick auf den Monitor. Zahlreiche weitere Scan-Kontakte wurden darauf angezeigt, und alle sahen ziemlich gleich aus.

»Da«, hörte sie sich zu ihrer eigenen Überraschung sagen und tippte mit einem Fingernagel auf den Schirm. »Das da.«

»Das liegt aber außerhalb des Bereichs, den wir überprüfen wollten«, protestierte der Pilot. Er deutete auf zwei andere Signalpunkte. »Ich hatte eher überlegt, die beiden dort zu untersuchen, diesen hier und den da.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Sie müssen den anderen überprüfen.«

»Er liegt nur ein kleines Stück abseits«, erklärte Vinhalyn dem Piloten. »Nehmen Sie sich die Zeit nachzusehen.«

»Sie haben das Sagen«, erwiderte der Pilot. »Also gut. Los geht’s.«

Er änderte den Kurs, um sie dichter an den Sensorkontakt heranzubringen. Ein paar Minuten später tauchte das Ziel auf den Bildschirmen des Kurierschiffes auf; zuerst als ein heller Punkt, dann nahm es konkretere Formen an, während es im Licht der Sterne langsam durch das All taumelte.

»Ein Jäger«, erklärte der Pilot. »Keinerlei Strahlung. Schon wieder ein verdammtes Sternenpilotengrab.«

»Und es ist einer von uns«, erklärte der Kopilot. »Der arme Kerl. Fliegen wir wieder zu unserem Scanpfad zurück.«

»Nein«, widersprach Llannat. Erneut tippte sie auf das Sensordisplay. »Was ist denn das da für ein Brocken?«

»Wahrscheinlich nur noch mehr Metallschrott«, erklärte der Pilot. »Aber da wir ohnehin hier sind, können wir genauso gut mal nachsehen.«

Als das Kurierschiff diesmal in Sichtweite des Ziels kam, taumelte das von dem Sensor erfasste Objekt keineswegs steuerlos durch das All. Stattdessen war es stabil und unbeschädigt geblieben, ein schlankes Kriegsschiff mit einer dunklen Hülle und in der Form einer abgeflachten Träne: ein von den Magiern erbauter Deathwing-Kreuzer.

Sobald die Sonne aufging, wartete Klea auf Owen. Sie wollte nicht noch einmal auf den Balkon hinaustreten; sie hatte nämlich Angst, dass sie, wenn sie es täte, erneut von einer dieser unerwünschten Visionen heimgesucht würde wie in der Nacht zuvor. Stattdessen lauschte sie auf Owens Schritte auf der Treppe. Niemand sonst in dem Haus hatte seinen charakteristischen sowohl leichten als auch gleichmäßigen Schritt. Sobald sie hörte, wie er nach Hause kam, verließ sie ihre Wohnung und hastete die Treppe hinauf. Oben klopfte sie an seine Tür.

Er öffnete fast in dem Moment, in dem sie mit den Knöcheln das Holz berührte. »Klea? Was ist los?«

»Ich habe gestern Nacht etwas gesehen.«

»Gesehen?«, fragte er. »Bist du sicher?«

Er trat zur Seite, während er mit ihr redete, um sie hereinzulassen. Dann schloss er hinter ihr die Tür. Seine Wohnung war genauso kahl wie bei ihrem letzten Besuch, und nach wie vor besaß er nur die Möbel, die er mit der Miete der Wohnung übernommen hatte. Selbst die Laken und Handtücher wirkten verschlissen, obwohl sie sauber waren. So als hätte er sie nachträglich gebraucht gekauft.

Klea setzte sich auf den einzigen Stuhl, der auch noch wackelte. Owen lehnte sich an den Tresen vor der Küchennische. »Bist du sicher?«, wiederholte er.

An seiner Betonung merkte sie, dass er mehr als das normale Sehen meinte. »Das waren keine Halluzinationen«, antwortete sie. »Ich hatte schon seit Wochen keine dieser Halluzinationen mehr, nicht mehr, seit du mir gezeigt hast, wie ich verhindern kann, dass die Gedanken anderer Leute in meinen Verstand einsickern. Dies hier war etwas anderes.«

»Wie ist es passiert?«

»Ich stand auf dem Balkon«, erklärte sie. »Es war heiß, und ich konnte nicht schlafen. Also stand ich da, habe Eiswasser getrunken und die Sterne betrachtet … jedenfalls habe ich dahin geblickt, wo die Sterne gewesen wären, wenn man sie hätte erkennen können. Und dann habe ich sie tatsächlich gesehen, nur stimmten die Sternkonstellationen irgendwie nicht mehr so richtig. Dann flammte einer der Sterne auf, wurde zu hell, als dass ich weiter auf ihn hätte blicken können, und ich fand mich auf dem Balkon wieder. Aber nicht das hat mir Furcht eingeflößt. Was mir wirklich Angst macht ist, dass ich weiß, dass es wirklich passiert ist. Oder noch passieren wird oder gerade passiert. Nur kenne ich eben die genaue Zeit nicht und … ich habe auch nicht die geringste Ahnung, wo es ist.«

Owen betrachtete sie eine Weile schweigend. Seine Miene war ernst. »Das war eine Vision, nicht wahr?«, meinte er schließlich. »Gratuliere. Du hast eine sehr seltene und höchst ungeliebte Gabe.«

»Ungeliebt?«

Er nickte. »Ein Adept, den ich einmal kannte, verglich diese Gabe immer gern mit anonymen Briefen in der Post. Sie sind zwar glaubwürdig genug, um einen aufzuregen, aber nicht so präzise, dass sie nützlich wären.«

»Kannst du … wie kannst du auch so … sehen

»Nein«, erwiderte er. »Ich kann nur Wahrscheinlichkeitsketten folgen und dir sagen, wohin sie führen, und dir auch sagen, ob jemand mit dem Fluss der Dinge synchron ist oder nicht; damit meine ich das, was die meisten Menschen Glück oder Pech nennen würden. Aber wenn es darum geht, etwas zu wissen, so wie du es gerade erlebt hast, dann bin ich ebenso wenig in der Lage, in die Zukunft zu schauen wie jeder andere auch.«

»Oh«, antwortete sie.

Eine Weile blieb sie schweigend sitzen und rieb sich die alten weißen Narben auf ihrem Handgelenk. Dabei überlegte sie, warum ausgerechnet sie Schwierigkeiten für Menschen hatte kommen sehen, und das an einem Ort, an dem sie sich nicht einmal selbst befand, und vor allem: wo sie das nicht einmal für sich selbst vermochte.

Hätte ich gewusst, was mich erwartete, als ich den Bauernhof verließ, wäre ich wahrscheinlich zu Hause geblieben, hätte wie ein braves Mädchen gekocht und gestopft … Aber so hatte ich nichts zu essen und kein Dach über dem Kopf und verstand von nichts etwas außer von dieser verfluchten Landwirtschaft. Und dann kam Freling mit seinem »geschäftlichen Vorschlag« …

»›Ungeliebte Gabe‹!«, stieß sie hervor. »Das kann man wohl sagen.«

Seine Augen waren dunkel und traurig, als hätte er einen Blick auf ihre Gedanken geworfen, ohne es zu wollen. »Es tut mir leid«, sagte er.

Sie zuckte mit den Schultern. »Ist ja nicht deine Schuld.«

Nach einer kurzen Pause sprach sie den anderen Gedanken aus, der ihr soeben gekommen war. »Das Problem ist nur … ich weiß jetzt zwar, dass irgendwo irgendetwas Schlimmes vorgeht, aber was soll ich dagegen unternehmen?«

Der Deathwing-Kreuzer, für den die Naversey einen so weiten Umweg gemacht hatte, schwebte auf den Displays des Kurierschiffes wie ein Gestalt gewordener Alptraum herbei. Trotz seines so sprechenden Namens konnte Llannat Hyfid nichts Vogelartiges an diesem Raumschiff der Magierwelten erkennen. Stattdessen dachte sie bei seinem Anblick an eine düstere, gierige Kreatur des Meeres, die auf der Suche nach Beute lautlos durch das eiskalte Wasser glitt.

»Da ist es«, sagte sie.

Der Pilot nickte. »Wenn Sie das sagen. Wir können nur hoffen, dass es derjenige ist, nach dem wir suchen – und nicht etwa zu dem gehört, was die Ebannha ausradiert hat.«

»Die visuelle Konfiguration und das Sensorprofil passen zu den Daten, die wir von dem ersten Kontakt bekommen haben«, meinte der Kopilot. »Also ist das entweder unser gesuchtes Schiff oder ein anderes derselben Klasse.«

»Das da ist ein archaisches Design«, warf Lieutenant Vinhalyn ein. »Ein Jäger und Aufklärungsschiff … ähnlich denen, die die Magierweltler am Anfang des letzten Krieges benutzt haben, nur viel älter.«

»›Der letzte Krieg‹«, wiederholte der Pilot. »Das gefällt mir gar nicht … wir fliegen erst einmal eine Spirale um dieses Ding herum und nehmen es genauer in Augenschein. Bevor uns noch irgendjemand unsere dämlichen Hirne wegbläst.«

Das Kurierschiff begann ein elegantes Spiralmanöver, mit dem es sämtliche Seiten des Ziels betrachten konnte. Nach einigen Minuten meldete sich der Kopilot wieder zu Wort.

»Wir bekommen ein Signal von etwas, das am Bauch des Schiffes verankert ist … es muss irgendein kleines Raumfahrzeug sein.«

Der Pilot gab bereits die Nah-Sensordaten in die Computer der Naversey ein. »Sieht so aus, als hätte Mistress Hyfid recht gehabt«, erklärte er nach einer Weile. »Laut der Analyse ist dieser Kontakt ein Kurzstreckenaufklärer der Pari-Klasse. Wahrscheinlich gehörte er zu dem Entertrupp der Ebannha.«

»Gut«, meinte Lieutenant Vinhalyn. »Genau dort sollen wir sein. Bereiten Sie alles für ein Rendezvous vor.«

Der Pilot sah den Historiker voller Unbehagen an. »Wir haben hier einen vollkommen funktionsfähigen Deathwing-Kreuzer der Magierwelten vor uns. Sind Sie sicher, dass Sie so dicht an das Ding ranwollen?«

Vinhalyn presste die Lippen zusammen und warf dem Piloten einen vernichtenden Blick zu. »Ein Aufklärungsschiff der Pari-Klasse hat weder einen Hyperraumantrieb noch ist es bewaffnet«, erwiderte er. »Wenn die Mannschaft dieses Schiffes noch am Leben ist, dürfte sie mittlerweile ziemlich verzweifelt sein. Also los, fliegen Sie uns dahin.«

Der Pilot zuckte mit den Schultern. »Sie sind der Boss. Also, wir nähern uns dem Ziel.«

Schon kurz darauf hatte sich die Naversey dem Kurs und der Geschwindigkeit des Deathwing angepasst, und dann schwebte das Kurierschiff unmittelbar über dem Aufklärungsschiff der Pari-Klasse, das an der Hülle des dunklen Schiffes klebte. Seine relative Geschwindigkeit war gleich null.

Vinhalyn nickte entschlossen. »Wird langsam Zeit, dass sich jemand warm anzieht und hinübergeht«, erklärte er. »Mistress Hyfid, haben Sie Lust, mich zu begleiten?«

»Selbstverständlich«, erwiderte sie. Während sie antwortete, würdigte sie den Deathwing-Kreuzer auf dem Display jedoch keines Blickes.

Etliche Minuten später näherten sich Llannat und Vinhalyn unbeholfen in ihren klobigen Druckanzügen der Luftschleuse des Aufklärungsschiffes. Die äußere Tür stand offen, die innere jedoch war geschlossen; sie betraten das Schiff und drangen in sein Inneres vor. Nachdem sie rasch sämtliche Abteilungen durchsucht hatten, stellen sie fest, dass es verlassen war und die Energie auf das Minimum heruntergefahren war. Der letzte Eintrag ins Logbuch war vor zwei Tagen gemacht worden. Operation eingeleitet, um das Schiff zu bergen.

»Na wundervoll«, murmelte Llannat. »Sie sind an Bord des Deathwing. Als Kind haben mir diese Dinger Alpträume bereitet, allein von den Holo-Pix aus den Geschichtsbüchern. So lange, bis meine Mutter mir gesagt hat, sie wären im Krieg alle vernichtet worden.«

Vinhalyns Stimme klang durch die Lautsprecher der internen Funkverbindung der Anzüge in ihre Ohren. »Kopf hoch. Wenn die Mannschaft dieses Aufklärungsschiffes es geschafft hat, in das Schiff zu kommen, ohne beide Fahrzeuge zu vernichten, dann dürfte uns das ebenfalls gelingen.« Sie hörte das Klicken, das bedeutete, dass er die Funkverbindung zur Naversey herstellte. »Das Aufklärungsschiff ist verlassen … offenbar ist die Mannschaft auf das Schiff der Magierwelten gewechselt. Ich habe vor, ihnen zu folgen. Wenn wir in zwei Stunden nicht zurückgekommen sind, entscheiden Sie nach Gutdünken.«

Sie verließen das Schiff durch die Luftschleuse und kletterten auf die schwarze Hülle des Deathwing-Kreuzers. Ihre magnetischen Stiefel klickten und schleiften, als sie über die metallene Oberfläche der Hülle zur zentralen Luftschleuse des Magierschiffes gingen.

Sie war verschlossen.

»Was jetzt?«, erkundigte sich Llannat. Sie fühlte sich in diesen Druckanzügen nicht besonders wohl; es bereitete ihr Unbehagen, im Vakuum so ungeschützt zu sein. Und sie neigte zu der irrationalen Furcht, dass die Gesetze des Universums auf die Idee kommen könnten, sich urplötzlich außer Kraft zu setzen. So dass die magnetischen Platten in ihren Stiefelsohlen plötzlich ebenso wenig magnetisch wären wie ein normales Schuhleder. »Wie wollen wir in das Schiff hineinkommen?«

»Es muss sich hier irgendwo eine zweite Zugangsluke befinden«, antwortete Vinhalyn. Er deutete auf eine Stelle, ein Stück von der Hauptschleuse entfernt, wo sich eine Reihe von eckigen gelben Symbolen deutlich von der glatten schwarzen Hülle abhoben. »Und das da sieht genau danach aus.«

Er schlurfte mit klickenden Schritten zu der Stelle mit den Symbolen hin und bückte sich ungelenk, während er eine behandschuhte Hand auf die Hülle presste. Llannat sah, wie er gegen die Hülle drückte, dann etwas drehte … und sich im nächsten Moment eine zwar kleine Luke in der Seite des Schiffes öffnete – was aber eine durchaus übliche Größe war.

»Sagen Sie nichts«, meinte sie. »Diese gelben Symbole bedeuten: Hier drücken und drehen

»Ja, gewissermaßen«, gab Vinhalyn zu. Der Reservist und Historiker war bereits dabei, in die Luke zu steigen. Aber die Funkverbindung von Anzug zu Anzug übertrug seine Stimme ganz deutlich in ihre Lautsprecher. »Genau genommen bedeuten sie: Nach links drehen. Natürlich war das wichtigste Symbol das am Ende …«

Mittlerweile war er bereits in der kleinen Luftschleuse verschwunden. Llannat folgte ihm. »Und was bedeutete dieses letzte Symbol?«, erkundigte sie sich nervös.

»O ja … ein wirklich sehr interessantes Symbol, linguistisch gesehen. In den älteren Dialekten des Eraasianischen, die auf den meisten Magierwelten die Standardsprache der Raumfahrer gewesen ist, repräsentiert es eine befehlende Vorsilbe der Warnung.«

»Der was?«

Llannat und Vinhalyn standen jetzt zusammen in der Mini- luftschleuse. Jedenfalls wäre es auf einem Schiff der Republik eine Miniluftschleuse gewesen. Die Wände waren mit Wählscheiben und anderen altmodischen, verglasten Anzeigegeräten bedeckt, deren unbekannte Beschriftung von den Lampen an ihren Druckanzügen erhellt wurden.

»Eine Silbe, die an das letzte Wort einer Warnung oder eines Befehls angehängt wird«, erläuterte Vinhalyn weiter, während er die Reihen von Armaturen finster betrachtete. »Im gesprochenen Eraasianisch wurde diese Silbe benutzt, um einen Befehl zu betonen, indem man die Möglichkeit von negativen Konsequenzen andeutete: ›Mach das, sonst …!‹ In der geschriebenen Sprache, vor allem wenn wir die ausdrückliche Anweisung bedenken, den Riegelmechanismus nach links zu drehen und dabei die Vorliebe der Magierweltler für Selbstzerstörungsmechanismen auf ihren Raumschiffen berücksichtigen …«

Llannat warf unwillkürlich einen Blick auf die mittlerweile geschlossene Außentür zurück. »Ich begreife«, erklärte sie. »Eine wundervolle Sprache, dieses Eraasianisch. Ich bin wirklich sehr froh, dass Sie es sprechen.«

Vinhalyn betrachtete eine der Armaturen etwas genauer. »Das ist sie, aber bedauerlicherweise ist mein Wissen nur akademisch … ah. Da haben wir es. Im Deathwing selbst herrscht ebenfalls kein Druck. Es wird doch nicht so schwierig, wie ich befürchtet habe.«

Er drückte eine weitere, mit gelben Schriftzeichen etikettierte Platte auf dem Schott des Deathwing und drehte sie nach links. Llannat machte sich nicht die Mühe, ihn zu fragen, was die Symbole bedeuteten – und genaugenommen wollte sie es auch gar nicht wissen. Jedenfalls öffnete sich daraufhin die innere Tür der Minischleuse. Sie stiegen in einen schmalen, leicht kurvigen Gang hinaus, der zur Hauptschleuse führte.

Llannat richtete den Strahl der Lampen an ihrem Anzug auf das Deck und die Schotts; sie sahen wie eine ganz normale Schiffskonstruktion aus. Einfache Lösungen für einfache Ingenieurprobleme, dachte sie. Weiterhin sah sie viele Etiketten und Beschriftungen auf Eraasianisch. Dazu einen Kreidepfeil, der in Augenhöhe auf das Schott gezeichnet war und nach rechts wies.

»Da sind wir«, sagte sie. »Sieht aus, als hätte uns unser Entertrupp eine Fährte hinterlassen.«

»Dann sollten wir ihr auch folgen«, erklärte Vinhalyn.

Sie gingen nach rechts durch den Gang. Jedes Mal, wenn er sich gabelte, zeigte ihnen ein Kreidepfeil den Weg.

»Wo, glauben Sie, sind sie?«, erkundigte sich Llannat.

»Aufgrund der Anzahl der Warnzeichen auf Eraasianisch und der Verbote, auf keinen Fall etwas ohne die entsprechende Berechtigung zu berühren, würde ich sagen, dass wir uns dem Hauptantrieb nähern.«

»Oh«, erwiderte sie und runzelte die Stirn, während sie in die Finsternis vor ihnen starrte. »Ist das da drüben ein Licht?«

»Sieht jedenfalls so aus«, erwiderte Vinhalyn. »Und unser Ziel scheint der Maschinenraum zu sein, oder zumindest das Äquivalent dazu auf diesem Schiff.«

Llannat schüttelte den Kopf, obwohl ihr klar war, dass diese Geste unter ihrem Raumhelm vollkommen sinnlos war. »Ich hoffe nur, dass unsere Freunde nicht dabei sind, irgendeinen Schalter in die falsche Richtung zu drehen.«

»Das hoffe ich ebenfalls, Mistress Hyfid. Wir sollten leise weitergehen, um nicht irgendwelche überstürzten Reaktionen auszulösen.«

Schweigend folgten sie dem Gang und traten durch die offene Tür in einen Raum, von dem Llannat annahm, dass es der Hauptmaschinenraum des Deathwing war. Etliche Gestalten in den Standardraumanzügen der SpaceForce drehten sich in dem Augenblick zum Eingang herum, als sie mit Vinhalyn hereinkam.

Eine der Gestalten hatte die Streifen eines Lieutenants auf seinem Helm. Er trat hastig vor und gab jemandem außerhalb von Llannats Blickfeld ein Handzeichen.

»Pack die Energielanze wieder ein, Chief«, sagte er. »Die beiden gehören zu uns.«

Dann, als wäre es ihm im letzten Moment noch eingefallen, blieb er stehen und salutierte. »Lieutenant Tammas Cantrel, ehemals RSF Ebannha, und jetzt, na ja … wie auch immer dieses Ding heißt, wenn es überhaupt einen Namen hat. Könnte mir einer von euch bitte verraten, was zum Teufel da draußen im Netz vorgeht?«