16

 

»Sie wußten nicht, daß er in Indien gedient hat?« Gemma drehte sich in Kincaids Sessel, den sie usurpiert hatte, da sie vor ihm im Yard angekommen war.

  »Vor Jasmines Tod habe ich kaum ein Wort mit ihm gewechselt«, antwortete Kincaid, als müßte er sich verteidigen. »Weshalb hätte ich ihn danach fragen sollen? Und wenn Sie die Absicht haben sollten, mein Büro zu übernehmen«, fügte er hinzu, »dann machen Sie sich nützlich und fordern Sie sein Dienstdossier an.«

  Das Telefon läutete im selben Moment, als Gemma nach ihm greifen wollte. Sie hob den Hörer ab und sagte mit ihrer amtlichsten Stimme: »Büro Superintendent Kincaid.« Gleichzeitig zog sie Block und Stift zu sich heran und begann sogleich zu schreiben. »Ja, gut, ich werde es ausrichten. Danke.« Sie überflog, was sie notiert hatte und sah dann zu Kincaid auf. »Eine Mrs. Alice Finney hat bei der Zentrale eine Nachricht für Sie hinterlassen. Sie sagte, ein Rückruf sei nicht nötig, sie wollte Ihnen nur sagen, daß sein Name ihr wieder eingefallen sei. Er heißt Timothy Franklin.«

  »Das war alles?«

  Gemma zog eine Augenbraue hoch. »Was hat das zu bedeuten?«

  »Das ist ein junger Mann, mit dem Jasmine offenbar befreundet war, ehe sie aus Dorset verschwand, als wären die Furien hinter ihr her. Rufen Sie bei den Kollegen in Dorset an und bitten Sie, daß man den Mann ausfindig macht. Und wenn Sie schon mal dabei sind«, fuhr er fort, ehe sie EinSpruch erheben konnte, »setzen Sie sich auch gleich mit dem Constable von Abinger Hammer in Verbindung. Theo Dent hat keinen Führerschein - das habe ich überprüft aber ich möchte wissen, ob er am vergangenen Donnerstagabend am dortigen Bahnhof ein Zugbillett gekauft hat, oder ob er ein Taxi angerufen hat, oder ob ihn vielleicht jemand zu einem anderen Bahnhof gefahren hat.« Er wartete, bis Gemma mit dem Schreiben fertig war. »Und stellen Sie fest, ob er ein Fahrrad hat.«

  »Ich glaube nicht...«

  »Das weiß ich, aber ich möchte es trotzdem wissen. Mag sein, daß Theo Dent so unschuldig ist wie Mutter Teresa, aber Jasmines Tod ist ihm auf jeden Fall verdammt gelegen gekommen. Allzu gelegen für meinen Geschmack. Keine Sorge«, fügte er schmunzelnd hinzu, »den guten Roger knöpfen wir uns auch noch vor. Gleich heute morgen. Wir haben einen Termin beim Leiter seiner alten Schule. Noch vor dem Mittagessen. Was Besseres habe ich nicht zustande gebracht. Er war nicht auf der Universität, und er scheint nie einer geregelten Arbeit nachgegangen zu sein.«

  »Das wundert mich nicht«, sagte Gemma ätzend.

  »Sind Sie mit dem Wagen da?«

  »Nein. Sie?«

  Er schüttelte den Kopf. »Wir lassen uns einen Wagen geben. Möglichst bald. Ich möchte unterwegs noch einen Zwischenstop einlegen.«

  Kincaid bemerkte, mit welch unverhohlenem Vergnügen Gemma den Rover durch den Verkehr manövrierte. »Eine angenehme Abwechslung, hm?«

  »Nach meinem Escort wäre sogar ein Pferdefuhrwerk eine angenehme Abwechslung«, versetzte sie, als sie den Wagen in eine Parklücke in der Tottenham Court Road bugsierte. »Nicht schlecht für einen Donnerstagvormittag. Ich dachte eigentlich, ich würde um einen Parkplatz anstehen müssen. Und der Regen hat auch auf gehört, Gott sei Dank.« Es war zu hoffen, daß der feine Dunst, der die Morgensonne verschleierte, sich im Lauf des Tages auflösen würde.

  Martha Trevellyan öffnete ihnen prompt und zeigte nicht die geringste Verwunderung, sie zu sehen. Kincaid vermutete, daß sie sie durch das vordere Fenster ihrer Wohnung hatte kommen sehen.

  »Sergeant James«, sagte sie lächelnd zu Gemma und trat zurück, um sie hereinzulassen. »Ich hoffe, ich sehe heute etwas geschäftsmäßiger aus als bei Ihrem letzten Besuch«, sagte sie mit einem Blick auf ihre Kleidung, die aus Rock und Pullover bestand. »Sogar geschminkt bin ich. Also - was kann ich für Sie tun?«

  Kincaid stellte sich vor und sagte dann: »Nur eine kurze Frage - wir werden Sie nicht lange aufhalten.« Er sah sich in dem ordentlichen Raum, der Wohnraum und Büro vereinigte, um und dachte, daß diese Aufgeräumtheit gut zu Martha Trevellyans sachlicher Art paßte. Er hatte allerdings auch eine Ahnung, daß diese Sachlichkeit teilweise künstlich und Martha Trevellyan tatsächlich etwas unsicherer war, als sie zugeben wollte. »Ich nehme doch an, Felicity Howarth kam mit Referenzen zu Ihnen. Sie hörten nichts von irgendwelchen Problemen mit sterbenden Patienten? Von Fahrlässigkeit bei der Verabreichung von Medikamenten oder dergleichen?«

  Sie starrte Kincaid mit offenem Mund völlig konsterniert an. »Aber nein, selbstverständlich nicht! Ich würde niemals eine Pflegekraft einstellen, die nicht tadellose Zeugnisse vorweisen kann. Mein ganzes Unternehmen hängt von der Qualität der Pflege ab. Und Felicity war nicht nur erfahren - sie hat auch eine spezielle Ausbildung.«

  »Was für eine?« fragte Gemma, während sie Block und Stift herauszog. »Ich wußte gar nicht, daß es so etwas gibt.«

  »Doch, es gibt einen Ausbildungskurs zur Pflege unheilbar Kranker. Felicity hat ihn absolviert. Er findet in Winchester oder Exeter statt. Irgendwo in dieser Ecke.« Sie ging zum Schreibtisch, streckte den Arm aus, zog ihn jedoch sofort wieder zurück und verschränkte beide Arme fest auf ihrer Brust. »Ich wollte ich hätte mehr Pflegekräfte, die so hervorragend qualifiziert sind, aber sie sind schwer zu finden. Die Nachfrage wird immer größer.«

  »Sie haben wieder zu rauchen aufgehört, nicht wahr?« sagte Gemma und wies mit dem Kopf auf den sauberen Aschenbecher auf dem Schreibtisch.

  »Ich greife immer noch nach ihnen. Die Hand ist schneller als das Hirn.« Martha Trevellyan lächelte mit leiser Ironie. »Aber mein Entschluß wird nicht lange halten, wenn dieser Morgen sich weiter so entwickelt.«

  »Können Sie sich erinnern, wo genau Felicity Howarth diesen Kurs absolviert hat?« fragte Kincaid, dem es ganz recht war, daß Gemma die Spannung etwas lockerte, die er hereingetragen hatte. Sie hatte ihren Zweck erfüllt. Marthas erste Reaktion auf seine Frage war spontan genug gewesen, um ihn davon zu überzeugen, daß ihre Antwort aufrichtig war.

  »Ich brauche mich nicht zu erinnern. Ich habe das hier bei meinen Unterlagen.« Sie zog eine Schublade auf und ging mit routinierter Schnelligkeit die Akten mit den farbigen Reitern durch. »Da haben wir es schon. Nicht Winchester, sondern Dorchester. Die zwei verwechsle ich jedesmal!« Sie reichte Gemma ein Blatt Papier. »Hier, schreiben Sie sich die Adresse auf, wenn Sie sie brauchen, aber soviel ich weiß, ist das ein sehr angesehenes Institut. Brauchen Sie die Referenzen von den Ärzten auch?«

  »Ja, bitte.«

  »Ich bin bereit, meinen Ruf darauf zu wetten, daß Felicity Howarth eine absolut kompetente Krankenpflegerin ist«, erklärte Martha Trevellyan langsam. »Ich bin wirklich überzeugt davon. Da bin ich ganz sicher«, fügte sie ironisch hinzu.

  »Ich glaube nicht, daß Sie sich Sorgen zu machen brauchen, Mrs. Trevellyan«, sagte Kincaid lächelnd, um den Boden für einen harmonischen Abgang zu bereiten. »Uns geht es nur darum, die noch offenen Fragen zu klären.«

 

Als sie Richmond erreichten, hatte der Dunst sich aufgelöst, und wäßriges Sonnenlicht sickerte durch das Blätterdach, das die Straße beschattete. Kincaid warf einen Blick auf den Plan. »Petersham ist nicht mehr weit, und wenn die Anweisungen stimmen, die sie mir am Telefon gegeben haben, liegt die Schule gleich an der Hauptstraße.«

  »Oh, das Lied kenne ich. Ihre Navigationskünste lassen einiges zu wünschen übrig.«

  Er sah sie an. Ihr Blick war konzentriert auf die Straße gerichtet, doch ihr Mund verzog sich zu einem feinen Lächeln. »Da Sie nicht fahren und zugleich navigieren können, werden Sie wohl mit meinen Mängeln leben müssen, hm?«

  Kurz nachdem sie Petersham erreicht hatten, erhob sich rechts von ihnen eine hohe Mauer aus rotem Backstein, die der Straße folgte.

  »Langsam, Gemma. Jetzt müßte gleich die Einfahrt kommen.«

  Sie fuhren nach rechts durch ein offenes Tor in eine Landschaft gepflegter grüner Rasenflächen und symmetrisch angeordneter Gebäude aus dunkelrotem Backstein. Jenseits glitzerte in der Sonne die Themse.

  »Du meine Güte«, sagte Gemma, als sie den Wagen parkte, »unser Roger hat es wirklich schwer gehabt, nicht?«

  Eine Sekretärin führte sie in ein Arbeitszimmer mit hohen Bücherwänden und Fenstertüren mit Blick auf den Fluß. Sie warteten schweigend. Gemma stellte sich an eines der Fenster und sah den Schwänen zu, die träge auf dem Wasser dahintrieben, und Kincaid bemerkte, daß der schwarze Pulli, den sie trug, den Kontrast zwischen ihrem leuchtenden Haar und ihrer blassen Haut noch stärker betonte.

  Die Tür flog auf, und der Schulleiter eilte mit fliegender schwarzer Robe ins Zimmer. Er war ungefähr in Kincaids Alter, ein Energiebündel mit schütterem Haar, Brille und dem Ansatz eines Bäuchleins.

  »Ich bin Martin Farrow.« Er gab ihnen beiden mit kurzem, kräftigem Druck die Hand. »Was kann ich für Sie tun?«

  Kincaid sagte sich, daß dieser Mann für Wortreichtum wenig übrig hatte. »Es geht um einen Ihrer ehemaligen Schüler, Roger Leveson-Gower - erinnern Sie sich an ihn? Ich denke, Sie werden etwa zehn Jahre zurückgehen müssen.«

  Martin Farrow forderte sie nicht auf, sich zu setzen. Kincaid vermutete, daß dieses Versäumnis nicht auf Unhöflichkeit zurückzuführen war, sondern auf die Tatsache, daß Farrow sich schlicht nicht vorstellen konnte, daß es Leute gab, die nicht lieber standen als saßen.

  Farrow wippte leicht auf den Fußballen auf und nieder, während er nachdachte. »O ja, ich erinnere mich sehr gut an ihn. Ich war damals stellvertretender Direktor, und die meisten Regelverstöße und Disziplinarsachen landeten bei mir. Was hat Roger denn mit seinem Leben angefangen? Hat er eine Karriere als Fälscher gemacht? Oder als Versicherungsbetrüger? Oder hat er sich darauf spezialisiert, vertrauensseligen alten Damen ihre Ersparnisse abzuschwatzen?«

  »Nichts so Spektakuläres. Aber ich sehe schon, daß Roger bereits sehr früh kriminelles Potential zeigte. Warum haben Sie ihn nicht hinausgeworfen?«

  »Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir’s getan.« Farrow begann im Zimmer auf und ab zu gehen, während er sprach, zupfte hier an einem Sofakissen, rückte dort einen Stuhl zurecht, und Kincaid und Gemma mußten sich wie Kreisel drehen, um ihn nicht aus dem Blickfeld zu verlieren.

  »Wir führen hier eine gute Schule, modern und fortschrittlich. Wir halten nichts von mittelalterlichen Methoden nach dem Grundsatz >gelobt sei, was hart macht<. Schüler wie Roger Leveson-Gower können dem Ruf einer Schule nur schaden.«

  An ihren üblichen Dialog bei einer Vernehmung gewöhnt, sah Kincaid Gemma erwartungsvoll an. Doch die sah mit ausdrucksloser Miene an Farrow vorbei zum Fenster hinaus.

  »Äh«, sagte er, ehe die Pause allzu lang werden konnte, »was hat er denn für einen Trumpf im Ärmel gehabt?«

  Farrow blieb stehen, die Hände auf die Rückenlehne eines Lehnstuhls gestützt, und Kincaid konnte ihn sich plötzlich hinter dem Pult vorstellen. »Sein Vater hat unseren Baufonds mit großzügigen Spenden unterstützt.« Er zuckte die Achseln.« Das Übliche eben. Und mag der Junge noch so ein Früchtchen gewesen sein, er war zu schlau, um sich bei einer wirklich ernsten Sache erwischen zu lassen. Aber ich muß sagen, ich war froh, als er ging.«

  »Der Vater scheint entweder sein Vermögen oder seine Großzügigkeit verloren zu haben; dieser Tage lebt Roger nämlich auf Kosten einer jungen Frau, die wahrscheinlich nicht viel mehr als das Existenzminimum verdient.«

  Farrow lächelte. »Das sieht ihm ähnlich. Immer hat er die Kleinen tyrannisiert - sie hatten Todesangst vor ihm, und immer hat er’s geschafft, daß sie für seine Dummheiten bestraft wurden.«

  »Hat er Ihres Wissens je eine Neigung zu Gewalt gezeigt?«

  »Nein.« Farrow schüttelte den Kopf. »Dazu ist er viel zu berechnend, hat viel zuviel Angst um sein eigenes kleines Leben.« Er überlegte einen Moment. »Wenn Roger Leveson-Gower je zu Gewaltmethoden greifen sollte, dann würde er es meiner Meinung nach nur in aller Heimlichkeit tun.«

  »Zufrieden?« fragte Kincaid, nachdem Farrow sie mit einem freundlichen Winken verabschiedet hatte.

  »Er war ein intelligenter Bursche«, hatte Farrows letzter Kommentar gelautet. »Ich hasse es, wenn ich mitansehen muß, wie gute Gaben sinnlos vergeudet werden.«

  »Haben Sie erwartet, daß er Klassenbester war?« fragte Gemma, während sie den Gang einlegte und den Rover auf die Straße hinauslenkte.

  »Wäre ein Mord an Jasmine risikolos genug gewesen, um ihn zu locken? Was meinen Sie? Hätte er sich sicher gefühlt?«

  Gemma zuckte die Achseln, ohne den Blick von der Fahrbahn zu wenden. »Auf jeden Fall hätte er nicht mit Ihnen gerechnet. Sie sind der Sand im Getriebe. Ohne Sie hätte niemand an Jasmines Tod etwas Besonderes gefunden.«

  Er wartete darauf, daß sie die Gelegenheit ergreifen würde, um Roger zum Täter zu machen, aber sie hüllte sich in Schweigen.

  Als sie wieder in Richmond waren, sagte er: »Gemma, was ist eigentlich los? Bei dem Gespräch mit Farrow waren Sie schon so wortkarg, als hätte es Ihnen die Sprache verschlagen, und jetzt reden Sie mit mir auch nicht. Wenn ich’s mir genauer überlege, waren Sie den ganzen Tag schon etwas seltsam.«

  Sie warf ihm einen kurzen Blick zu und richtete dann ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Verkehr. »Oh, verdammter Mist!« Dank der flüchtigen Ablenkung blieb ihr keine Zeit mehr, sich in die rechte Spur einzureihen, und auf der linken wurden sie in eine der schmalen Einbahnstraßen geschleust. »Was machen wir jetzt?«

  Kincaid lächelte. »Wir haben keine Wahl. Fahren wir einfach weiter. Wir werden schon sehen, wo wir wieder rauskommen.«

  Die Straße verengte sich zu einer kopfsteingepflasterten Gasse, die sich zwischen endlos scheinenden Reihen von Lagerhäusern hindurchschlängelte. Plötzlich schossen sie in die Sonne hinaus. Vor ihnen, jenseits eines mit Backstein gepflasterten Platzes, der mit einer Kette abgesperrt war, lag die Themse.«

  »Halten Sie da drüben.« Kincaid deutete auf eine Stelle vor der Absperrung. »Vertreten wir uns ein wenig die Füße.« Zu ihrer Rechten sauste der Verkehr über die bucklige Brücke, die sie überquert hatten, ehe sie auf Abwege geraten waren.

  Die Sonne lag warm auf ihren Gesichtern, und eine kleine Brise zauste ihr Haar. Am anderen Flußufer tauchten Trauerweiden im ersten frischen Grün ihre Zweige ins Wasser. Ein vertäutes Hausboot schaukelte sachte von seinem Spiegelbild begleitet in der Strömung, und auf einem Pfosten stand ein Pelikan auf einem Bein und träumte. Selbst die Verkehrsgeräusche schienen hier gedämpft.

  »Das war ja ein richtiges Glück, daß wir falsch abgebogen sind. Kommen Sie.« Kincaid begann langsam an der Sperrkette entlangzugehen. »Zu schade, daß das Schicksal einen auf diese kleinen Geschenke nicht vorbereitet. Wir hätten ein Picknick mitnehmen sollen.« Er machte halt, als Gemma stehen blieb und ihr Gesicht mit geschlossenen Augen der Sonne entgegenhob. »Also, was ist?«

  Sie seufzte und antwortete, ohne ihn anzusehen. »Diese Privilegiertheit. Die ganze Schule hat förmlich danach gestunken. Geld und Privilegien, seit Generationen, ob nun fortschrittlich oder nicht. Aber Sie können das wahrscheinlich gar nicht verstehen.« Sie verschränkte die Arme über der Brust und sah ihn an. Im Sonnenlicht konnte er im Braun ihrer Augen goldene Lichter sehen. »Geld an sich läßt mich kalt. Die Leveson-Gowers zum Beispiel - die können im Geld schwimmen und sind trotzdem Gesindel. Sie haben keinen Geschmack, und ich bin ihnen haushoch überlegen. Aber diese Selbstsicherheit, die diese Leute schon mit der Muttermilch einsaugen, wenn ich die sehe, dann wird mir immer ganz anders - diese Selbstverständlichkeit, mit der man immer genau weiß, was man gerade sagen oder tun muß. Für Sie ist das so selbstverständlich wie das Atmen.«

  »Moment mal, ich bin nicht das Produkt einer exklusiven Privatschule. Das wissen Sie doch, Gemma. Meine Eltern fühlten sich viel zu sehr als Liberale, um ihre Sprößlinge in so eine Brutstätte des Konservatismus zu geben. Sie waren der Meinung, die örtliche Gesamtschule sei gut genug für uns, und ich denke, sie hatten recht.« Er schob beide Hände in die Hosentaschen und ging weiter. Gemma hielt mit ihm Schritt. Als sie nichts entgegnete, fuhr er zu sprechen fort. »Da steckt doch noch etwas anderes dahinter, nicht wahr? Die Männerprivilegien attackieren Sie doch im allgemeinen, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich erlebe doch immer wieder, wie Sie im Yard ihre Frau stehen und meistens auch gleich noch ein paar Leuten kräftig auf die Zehen treten.«

  »Das ist etwas ganz anderes«, gab sie heftig zurück. »Da kenne ich die Regeln.« Dann lächelte sie etwas verlegen. »Ich bin heute wohl ein bißchen empfindlich. Tut mir leid. Ich sollte es nicht an Ihnen auslassen, nur weil die allgemeine Beschreibung auf Sie paßt.«

  »Geht es um Rob?« fragte Kincaid in sachlichem Ton. Ihren gelegentlich eingestreuten Bemerkungen hatte er entnommen, daß ihr geschiedener Mann wenig Interesse an Toby oder der Aufrechterhaltung freundschaftlicher Beziehungen zeigte. Aber er hatte nicht aufdringlich sein wollen.

  Gemma blieb wieder stehen und schaute über den Fluß. »Ich glaube, er ist abgehauen. Keine Schecks, kein Telefon, keine Nachsendeadresse.«

  »Haben Sie versucht, ihn ausfindig zu machen?«

  »Übers Yard, ja, soweit das möglich war, ohne anzuecken. Es gibt da ein paar Kollegen, die mir eine Gefälligkeit geschuldet haben.« Sie hielt inne und sagte dann heftig: »Dieser gemeine Kerl! Ich bemühe mich, nicht wütend zu werden, aber manchmal muß sich die Wut einfach Luft verschaffen. Wie kann er uns das antun?«

  Kincaid wartete schweigend. Sie stieß prustend die Luft aus und entspannte sich ein wenig. »Aber es ist nicht seine Schuld allein«, sagte sie. »Es gehören immer zwei dazu. Ich habe mich wider besseres Wissen dafür entschieden, Rob James zu heiraten, und jetzt muß ich eben die Konsequenzen tragen. Jammern hilft nichts, und außerdem können wir nicht unser Leben lang alles x-mal hinterfragen. Wir tun immer das, was wir gerade können.«

  »Und Sie haben Toby«, sagte Kincaid milde.

  »Ja. Ich kann mir ein Leben ohne Toby nicht vorstellen. Aber genau das ist der springende Punkt - wie soll ich es allein schaffen?«

  »Aber sicher...«

  »Mein ganzes Geld geht für Tobys Betreuung drauf. Es ist schon unter normalen Umständen schwierig, aber wenn ich Überstunden machen muß... ich komme ja so kaum damit aus.«

  »Können Sie nicht an einer anderen Stelle sparen?« Er sprach so beiläufig, wie ihm das möglich war, da er glaubte, wenn er die Teilnahme zeigte, die er empfand, würde Gemma es sich später übelnehmen, daß sie ihm ihr Herz ausgeschüttet hatte.

  »Rob wollte unbedingt das Haus kaufen, obwohl die Zinsen damals so hoch waren. Es wäre eine Kapitalanlage für die Zukunft, sagte er.« Ihr Lächeln war bitter. »Jetzt hängt es mir wie ein Mühlstein am Hals, und völlig runtergekommen ist es außerdem. Rob hatte Riesenpläne, was er im Haus alles machen wollte - aber natürlich ist überhaupt nichts passiert und...« Sie brach plötzlich ab und rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. »Mein Gott, hör sich das einer an. Und ich habe gesagt, ich wollte es nicht an Ihnen auslassen. Es tut mir wirklich leid.« Sie lächelte diesmal reuig. »Ich habe oft genug erlebt, wie die Leute Ihnen ohne den geringsten Anstoß ihre ganze Lebensgeschichte erzählen. Ich müßte es wirklich besser wissen.«

  »Was wollen Sie denn nun tun, Gemma?«

  »Ich weiß es nicht. Meine Mutter hat mir angeboten, sich um Toby zu kümmern...«

  »Das ist doch großartig. Das wäre...«

  Sie schüttelte schon den Kopf. »Ich möchte ihnen nicht verpflichtet sein. Ich habe auf eigenen Füßen gestanden, seit ich aus der Schule gekommen bin, und ich habe nicht die Absicht...«

  »Und wer leidet unter Ihrem Eigensinn? Finden Sie nicht, daß es falscher Stolz ist, Hilfe auszuschlagen, wenn man sich in einer Notlage befindet?«

  »Das ist es gar nicht. Es ist... Sie sind im Grunde mit meiner Berufswahl nicht einverstanden.« Eine Wolke schob sich vor die Sonne, und Gemma zog fröstelnd die Schultern zusammen. Der Wind war stärker geworden und trieb kleine Kräuselwellen über die Wasserfläche. »Ich habe Angst, daß sie das an Toby weitergeben, sicher nicht absichtlich, aber daß er ihre Mißbilligung einfach spüren würde. Gute Mütter arbeiten nicht abends und an Wochenenden. Gute Mütter lassen sich nicht scheiden. Gute Mütter arbeiten nicht in Männerberufen.«

  Kincaid schob seine Hand unter ihren Ellbogen und drehte sich herum. »Kommen Sie, wir kehren um.« Unter dem weichen Fleisch ihres Arms fühlte er einen harten, zierlichen Knochen, und er spürte auch ein leichtes Frösteln, als der Wind ihnen in die Gesichter blies. Er zog seine Hand weg. »Trauen Sie sich selbst etwas zu, Gemma. Er ist Ihr Sohn, und Ihr Einfluß ist stärker.« Er lächelte ein wenig über ihr zweifelndes Gesicht. »Und Ihren Eltern sollten Sie auch ein bißchen was Zutrauen. Schließlich haben sie Sie großgezogen, und ganz so übel sind Sie doch nicht geworden, oder?«