Das kleine Empfangsgebäude der Rievaulx-Abtei diente als Verkaufsstelle für Eintrittskarten und Souvenirs und 'als eine Art Minimuseum. Ein Modell der vollendeten Abtei unter einem Glassturz lud zu näherer Betrachtung ein. An den Wänden hingen Zeichnungen und Fotografien zur Geschichte der Abtei, doch Hannah ging an ihnen vorüber, ohne ihnen einen Blick zu gönnen. Sie hatte ihre Hausaufgaben schon am vergangenen Abend gemacht, nachdem Patrick erwähnt hatte, daß er die Absicht habe, hierherzukommen.
Da hatte sie in der Begegnung noch nicht mehr gesehen als eine Gelegenheit, mit ihm allein zu sprechen, ohne sich näher an den gefährlichen Abgrund der Enthüllung heranzuwagen. Sie hatte warten wollen, bis ihre Beziehung sich ein wenig über den ersten Funken warmer Herzlichkeit hinaus entwickelt hatte - sie hatte Vertrauen wachsen lassen wollen, sich ihrem Ziel mit aller Behutsamkeit nähern, ihn vielleicht fragen wollen, was für Gefühle er seiner leiblichen Mutter entgegenbrachte.
Jetzt schreckte sie vor all den erdachten Choreographien zurück, war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Aber sagen mußte sie es ihm. Aus irgendeinem Grund ” fühlte sie sich dazu gezwungen, ihm Kincaids Verdacht mitzuteilen; es schien ihr unmöglich, die Beziehung unter Vorspiegelung falscher Tatsachen fortzuführen. Wie konnte sie von Patrick erwarten, daß er ihr gegenüber ehrlich sein würde, wenn sie nicht mit ihm ehrlich umging?
Sie mußte seinen eigenen Bericht hören, selbst beurteilen, ob er wahr war oder nicht. Konnte ihr Sohn des Mordes fähig sein? Sie konnte es nicht ertragen, es nicht zu wissen.
Hannah trat durch die Hintertür des kleinen Gebäudes ins Freie. Der erste Blick auf die langgezogenen grünen Rasenflächen raubte ihr buchstäblich den Atem. Sie spürte das Brennen von Tränen in ihren Augen und drängte sie zurück.
Vor ihr erhob sich die Rievaulx-Abtei, eingebettet in eine natürliche Mulde am Fuß des Rievaulx-Moors, wie ein Edelstein eingefaßt vom leuchtend grünen Gras im Vordergrund und den roten und goldenen Tönen der Bäume, die den Hang bedeckten. Eine sanfte, tiefhängende Wolkendecke hatte die Morgensonne verdrängt, und die Feuchtigkeit in der Luft schien die Farben mit einer elementaren Lebendigkeit zu tränken.
Sie ging sehr langsam über den Rasen, den Blick auf die hochstrebenden Bögen des Chors gerichtet. Sechshundert Mönche hatten hier gelebt, gegessen, geschlafen, gebetet, die Schafe versorgt und die Gärten. Sie konnte sie beinahe bei ihrer Arbeit singen hören, derart zeitlos, traumhaft war die Atmosphäre dieses Ortes. Einen Herzschlag lang wußte sie, wie nahe sie sich ihrem Gott gefühlt haben mußten, und Neid durchzuckte sie.
Patrick saß auf einem abgebröckelten Sims, den Rücken an eine der Chorsäulen gelehnt, von deren verwittertem Stein sich sein Haar leuchtend abhob. Die genoppte braune Wolle seines Shetlandpullovers hätte beinahe das grobe braune Tuch einer Mönchskutte sein können, doch der Rauch, der von der Zigarette zwischen seinen Fingern aufstieg, ruinierte das Bild. Sie hatte ihn niemals rauchen sehen.
Er zeigte keine Überraschung über ihr Erscheinen, sprach erst, nachdem sie eine Weile dagestanden und ihn angesehen hatte.
»Ich dachte mir schon, daß Sie vielleicht kommen würden. Wunderbar, nicht wahr?« Er wies mit einer Kopfbewegung auf den Chor rund um sie herum. Er ließ die Zigarette fallen und trat den Stummel in den Boden. Auf ihren Blick hin sagte er: »Wenn Marta dabei ist, rauche ich ' nie. Da würde ich ja den Vorteil meiner moralischen Überlegenheit einbüßen. Und Politiker«, er lächelte, und seine Stimme hatte einen spöttischen Unterton, den sie nie zuvor gehört hatte, »halten an jedem Vorteil eisern fest.«
»Ist das auch der Grund, weshalb Sie nicht wollen, daß jemand von der Sache mit Cassie erfährt?« sagte Hannah, erstaunt, wie ruhig ihre Stimme klang. Sie hatte nicht die Absicht gehabt, ihn direkt zu beschuldigen; doch die Worte sprangen ihr wie von selbst über die Lippen. »Wozu waren Sie bereit, Patrick, um zu verhindern, daß Marta davon erfährt? Um zu verhindern, daß Sie vielleicht die Unterstützung von Martas Eltern verlieren und damit wahrscheinlich die Wahl?« Hannah merkte, daß sie keuchte, und sie begann zu frösteln wie bei einer Erkältung.
Patrick zog überrascht die Augenbrauen hoch. Er setzte zum Sprechen an, ging dann ein paar Schritte zur Mitte des Chors und blieb, die Hände in den Hosentaschen, mit dem Rücken zu ihr stehen. Nach einem kleinen Moment sagte er ruhig: »Mir ist klar, daß wir alle verdächtig sind. Das wäre jedem Idioten klar. Aber gerade von Ihnen habe ich aus irgendeinem Grund keinen Angriff erwartet. Wie sind Sie denn«, fuhr er fort, ohne sich umzudrehen, »auf diese... diese phantastische Geschichte gekommen?«
»Duncan Kincaid glaubt, daß Sebastian hinter Ihre Beziehung zu Cassie gekommen ist und Ihnen gedroht hat, sie publik zu machen - um Geld zu erpressen oder nur, weil er Cassie haßte, weiß ich nicht.«
Jetzt drehte er sich doch um, immer noch ruhig und bedächtig. »Das ist doch Unsinn, Hannah. Glauben Sie im Ernst, daß Marta mich wegen eines Seitensprungs verlassen würde? Daß sie klein und gedemütigt zu ihren Eltern und ihrer Clique in Sussex zurücklaufen und zugeben würde, daß sie mich nicht halten konnte? Oder daß ihre Eltern öffentlich die Demütigung ihrer Tochter zugeben würden? Nie im Leben. Wir haben es nicht nur mit meinem Ehrgeiz zu tun, wir haben es auch mit dem Ehrgeiz dieser Familie zu tun, und die gibt ihre Ambitionen so leicht nicht auf. Selbst wenn man ihnen unwiderlegbare Beweise vorlegte, würden sie sämtliche Augen zudrücken, weil ihnen das in den Kram paßt. Oh, Marta würde sicher kräftig sticheln und noch ein bißchen mehr Gin schlucken, aber das wäre auch alles.«
»Aber was...«
»Sie halten mich für gefühllos, nicht wahr?« Patricks Ton war überraschend bitter. »Sie glauben, ich hätte Marta und ihre Eltern wegen ihres Einflusses gewählt?« Einen Moment lang starrte er sie herausfordernd an, aber sie sagte nichts. »Dann lassen Sie sich belehren, Hannah. Sie haben mich gewählt. Ich war für sie das perfekte Mittel zur Erfüllung ihrer gesellschaftlichen Ambitionen, das Kuscheltier, das man verhätschelt und pflegt wie eine preisgekrönte Katze, der charmante Schwiegersohn, der stets bereit ist, sich geschwätzigen alten Damen zu opfern. Ich würde sagen, ich habe meinen Teil der Abmachung durchaus erfüllt.« Wieder lag in seinem Lächeln dieser Hauch von Selbstironie.
Es klingt alles so verführerisch plausibel, dachte Hannah. Wie sollte sie ihm nicht glauben, wenn sie ihn so vor sich sah, so merkwürdig verletzlich wirkend in dieser leicht gebeugten Haltung, während der Wind das glatte blonde Haar auf seiner Stirn zauste?
»Aber Patrick...«, Hannah hatte Mühe, die Worte zu finden, um fortzufahren, »was ist dann an dem Abend passiert, an dem Sebastian gestorben ist? Duncan glaubt, daß Penny Sie gesehen hat.«
Patrick kam zu dem Torbogen zurück und lehnte sich an die Säule. Er zog eine zerknüllte Packung Marlboro aus seiner Hosentasche, riß im Schutz seiner gekrümmten Hand ein Streichholz an und zog einmal an der Zigarette, bevor er zu sprechen anfing. »Ich war an dem Abend tatsächlich draußen. Marta habe ich gesagt, ich wollte ein Buch aus dem Wagen holen - ob sie das geglaubt hat oder nicht, weiß ich nicht. Sie war nüchterner als sonst. Wir waren erst am Morgen angekommen, und Cassie war mir den ganzen Tag aus dem Weg gegangen, so daß ich schließlich anfing zu glauben, sie wollte mich nicht sehen.« Während er sprach, beobachtete er, wie der Wind die Glut am Ende seiner Zigarette anfachte. Nicht einmal hob er den Blick zu Hannah. »Schließlich bin ich zu Cas-sies Bungalow gegangen und habe geklopft, aber sie hat sich nicht gemeldet. Ich hatte im Auto ein Notizbuch liegen, da habe ich eine Seite herausgerissen und Cassie einen kurzen Brief geschrieben, den ich ihr in den Türspalt gesteckt habe.«
»Und dann sind Sie direkt in Ihr Apartment gegangen?« Hannah bemühte sich, ruhig zu sprechen, nicht zu verraten, wie verzweifelt sie hoffte, daß es so gewesen war.
»Nein, nicht direkt.« Patrick ließ das Streichholz ins Gras fallen, wich Hannahs Blick immer noch aus. »Ich dachte, sie säße vielleicht noch an der Arbeit, ein Vorwand, um in ihrem Büro auf mich zu warten. Das war wahrscheinlich naiv von mir. Das Büro war dunkel und leer, genau wie der Salon, aber als ich durch den Salon wieder hinausgegangen war und gerade durch die Empfangshalle gehen wollte, hörte ich hinter mir ein Geräusch.«
Er schien jetzt ganz in seinem eigenen Bericht gefangen, schien mehr zu sich selbst als zu Hannah zu sprechen, während er sich einer Einzelheit nach der anderen erinnerte. »Ich hörte, wie jemand ganz plötzlich die Luft einsog, es klang beinahe wie ein unterdrückter Schrei. Ich drehte mich um, und als meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte ich beim Sofa eine Gestalt stehen sehen. Es kam immerhin soviel Licht durch die Salonfenster, daß ich glaubte, Penny zu erkennen. Ich wollte etwas sagen, aber wie sie da so stand, ohne sich zu rühren, ohne ein Wort zu sprechen, das hatte etwas ganz Sonderbares. Es wirkte verstohlen, vielleicht auch ängstlich. Na ja, und dann überlegte ich mir, daß ich eigentlich auch nicht erpicht darauf war, mich erklären zu müssen, und da hab’ ich mich umgedreht und bin gegangen.« Zum erstenmal hob er den Blick und sah sie an. »Ich hätte gleich zu Anfang die Wahrheit sagen sollen. Aber ich wollte keine Erklärungen abgeben müssen. Ich hätte sicher irgendwelche Ausreden erfinden können, aber Ausreden klingen auch immer wie Ausreden. Als Penny dann auch nichts sagte, wurde es irgendwie immer peinlicher. Es wäre beinahe komisch gewesen, wenn das Ende nicht so tragisch gewesen wäre.«
Das Knattern eines Rasenmähers zerfetzte den tiefen Frieden der Abtei. Hannah fuhr zusammen. Sie meinte, nie ein aufdringlicheres Geräusch gehört zu haben. Patrick seufzte und rieb sich das Gesicht.
»Ich habe keinerlei Beweise, Hannah. Keinen Beweis dafür, daß ich an diesem Abend nichts anderes getan habe und einfach zu Bett gegangen bin.« In Erwartung einer Antwort hielt er den Blick jetzt auf sie gerichtet.
»Was hätten Sie getan, wenn es so gewesen wäre, wie Duncan sagt? Wenn Sebastian mit Marta gesprochen hätte, und sie Sie verlassen und das Geld ihrer Mutter mitgenommen hätte?« Sie sprach ohne Erregung, nur neugierig.
»Wenn ich diese Vorwahl nicht gewinne, dann gewinne ich die nächste oder die danach, und ich brauche ihre Hilfe nicht, um es zu schaffen. Ich könnte es eines Tages bis zum Premierminister bringen, Hannah, wenn ich meine Trümpfe richtig ausspiele, und Marta ist schon lange keine Hilfe mehr, sondern eher eine Last.«
»Aber wenn Sie bereits eine Frau geheiratet hatten, die Sie benutzen wollte, wieso suchen Sie sich dann eine zweite, die genau das gleiche vorhat?«
Er zuckte die Achseln. »Schlechte Menschenkenntnis wahrscheinlich. Natürlich hab’ ich es allmählich gemerkt, aber sie ist dennoch sehr... attraktiv. Ich kenne vielleicht meine Stärken als Politiker, aber deswegen bin ich noch lange nicht unfehlbar. Außerdem hatte ich nie die Absicht, Cassie zu heiraten.« Sein Mund verzog sich zu einem kleinen ironischen Lächeln, und er richtete sich auf, trat einen Schritt näher an sie heran. »Und jetzt möchte ich Ihnen eine Frage stellen, Hannah. Woher nehmen Sie das Recht, mir Vorwürfe zu machen? Oder vielleicht«, er lächelte wieder, »sollte ich mich lieber fragen, wieso ich mich verpflichtet fühle, mich vor Ihnen zu rechtfertigen. Irgend etwas ... zwingt mich, Ihnen gegenüber ehrlich zu sein. Ich verstehe das nicht.«
Hannah wandte sich von ihm ab. Sie stand am Scheideweg, sie mußte sich entscheiden. Jetzt zu sprechen, erforderte mehr Mut als alles andere, was sie je in ihrem Leben getan hatte. Er hatte ihr den perfekten Einstieg geliefert, und dennoch blieb sie stumm, und ihr Geist war wie erstarrt. Sie zwang sich zu atmen. Und nach einem langen Augenblick des Schweigens begann sie stockend zu sprechen, aber die Worte, die sie sagte, hatten keine Ähnlichkeit mit denen, die sie vorbereitet hatte.
»Sie hätten mich mit sechzehn sehen sollen, Patrick. Zu groß, zu knochig, nur Arme und Beine und linkische Bewegungen. Kein Junge zeigte auch nur das geringste Interesse an mir, bis mich eine Schulfreundin in den großen Ferien mit nach Hause nahm und ihr älterer Bruder sich meiner erbarmte. Er kann höchstens neunzehn gewesen sein, aber ich fand ihn toll, in meinen Augen war er ein weitläufiger Gentleman. Ich war neugierig und fühlte mich geschmeichelt, und er war sehr ungeschickt - aber das wußte ich damals nicht, ich fand nur alles ziemlich enttäuschend.«
Sie drehte sich halb herum und riskierte einen Blick auf sein verwundertes Gesicht, ehe sie fortfuhr.
»Natürlich waren die Konsequenzen solcher... solcher Dummheit und Naivität unausweichlich. Sie können sich nicht vorstellen, wie schrecklich es für mich war, meinen Eltern sagen zu müssen, ich sei schwanger. Meine Eltern ... sie hatten für Fehler kein Verständnis. Ich war bereits für das folgende Jahr an der Universität angenommen. Daß ich das Kind vielleicht behalten könnte, war für sie undenkbar. Und ich - ich hatte nicht den Mut, mich ihnen entgegenzustellen. Ich hätte es schaffen können. Ich hätte von der Schule abgehen und mir eine Stellung suchen können. Irgend etwas hätte ich bestimmt arbeiten können.«
Hannahs Stimme war lauter geworden. Sie merkte, daß sie wieder zu zittern begonnen hatte, und kreuzte die Arme fest über ihrer Brust. Dann sprach sie weiter, ruhiger jetzt. »Es wurde alles sehr diskret abgewickelt. Ich ’ fuhr zu einer Tante. Als das Kind geboren war, ein kleiner Junge, brachten meine Eltern ihn weg. Sie sagten, sie hätten ein gutes Zuhause für ihn gefunden.«
Hannah drehte sich jetzt ganz herum, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Sie senkte die Arme, als wollte sie sich vor ihm entblößen. »Erst im vergangenen März, als mein Vater starb und ich Einsicht in seine persönlichen Unterlagen bekam, fand ich heraus, was sie tatsächlich getan hatten. Mein Vater - er war Anwalt, sagte ich das? - hatte unter seinen Mandanten ein Ehepaar Rennie, das unbedingt ein Kind wollte. Selbstverständlich hat mein Vater ihnen niemals gesagt, daß er ihnen seinen eigenen Enkel gebracht hat. Ein glattes, sauberes Geschäft.« Hannah unterdrückte angestrengt den plötzlichen hysterischen Wunsch zu lachen. »Und wissen Sie das Schlimmste von allem? Mein Vater hat die ganzen Jahre mit ihnen Kontakt gehalten, und ich hatte keine Ahnung. Ihre Eltern haben ihm Ihre Schulzeugnisse geschickt - Fotos von Patricks erstem Kricketspiel, Patricks erstes Pony -, und ich habe nichts davon je zu Gesicht bekommen. Für ihn waren Sie ein realer Mensch, aber ich... mir war das nie vergönnt.«
Die Worte gingen ihr aus. Sie hatte keine Rechtfertigung mehr anzubieten. Zum erstenmal seit sie zu reden begonnen hatte, sah sie ihn direkt an. Erst als sie die bleiche Stille seines Gesichts sah, erkannte sie, wie ungerührt er geblieben war, als sie ihn mehr oder weniger des Mordes beschuldigt hatte.
Die Stille dröhnte in ihren Ohren. Sie konnte sich nicht erinnern, wann das Knattern des Rasenmähers aufgehört hatte.
Patrick schluckte. »Was... ich kann das nicht glauben. Sie sollen meine Mutter sein?« Seine Stimme war ungläubig, ausnahmsweise einmal nicht beherrscht. »Das kann nicht sein. Sie sind zu jung...«
»Nein, das bin ich nicht, Patrick. Ich war ja praktisch noch ein Kind.«
Er schüttelte den Kopf. »Unmöglich, Sie...«
»Weshalb sollte ich dich belügen? Welchen Grund sollte ich haben, dir das zu erzählen, wenn es nicht wahr wäre?«
Er gab nach. »Aber ihn habe ich gekannt. Ihren Vater. Er hat Dad und mich manchmal zum Mittagessen in seinen Club eingeladen, wenn mein Vater in London zu tun hatte. Ich habe die Namen nicht miteinander in Verbindung gebracht. Ich hätte mir nicht träumen lassen...«
»Daß er dein Großvater war? Nein, er hat dafür gesorgt, daß du niemals auf diesen Gedanken kommst.« Dieser letzte Verrat ihres Vaters kränkte sie tief. Sie schloß die Augen. Sie sah das Bild deutlich vor sich. Ihr Vater jovial bei Zigarren und Brandy, wie er zu dem gesichtslosen Major Rennie sagte: »Verraten Sie dem Jungen nicht, daß ich seine Adoption arrangiert habe. Das würde ihn vielleicht befangen machen.« Als sie die Augen öffnete, sah sie, daß Patrick sie konsterniert anstarrte.
»Warum erzählen Sie mir das alles jetzt, Hannah? Sie hätten sich längst mit Ihrem Vater auseinandersetzen können. Sie waren eine Erwachsene mit den Rechten einer Erwachsenen. Und warum so?« Seine Verwirrung war in seiner Stimme zu hören. »Wie haben Sie mich gefunden? Ich meine, hier, im Followdale House?«
»Ich habe einen Privatdetektiv engagiert.« Sie zuckte unter seinem angewiderten Blick zusammen.
»Guter Gott, ich kann es nicht glauben. Sie haben mich überwachen lassen? Sie haben mich bespitzelt...«
»Ich habe nur die Adresse deiner Eltern. Ich konnte doch nicht einfach zu ihnen gehen und sagen, ich wollte dich sehen. Und ich wollte dich erst einmal auf neutralem Boden kennenlernen, ganz ohne Vorurteile, so objektiv wie möglich. Ich war nicht einmal sicher, ob ich überhaupt mit dir sprechen würde.«
»Wie angenehm risikolos für Sie. Sie haben sich wieder einmal alle Möglichkeiten offengelassen. Was hätten Sie denn getan, wenn ich häßlich und unangenehm gewesen wäre? Oder dumm? Wären Sie dann einfach gegangen und hätten so getan, als wäre nichts gewesen - genau wie Sie das vor fast dreißig Jahren getan haben?« Patricks Gesicht war nackt, bar allen routinierten Charmes, und zum erstenmal entdeckte Hannah in ihm einen Widerschein ihrer eigenen Züge. »Warum haben Sie sich dann doch entschlossen, mit mir zu sprechen, Hannah?«
»Ich mußte es einfach tun. Ich könnte nicht weiterleben, ohne mit dir gesprochen zu haben.«
»Ging es Ihnen um Ihren Seelenfrieden oder um meinen?«
Darauf hatte Hannah keine Antwort. Unglücklich stand sie vor ihm und wartete darauf, was als nächstes kommen würde.
»Was haben Sie erwartet? Haben Sie geglaubt, Sie könntennach all diesen Jahren einfach in mein Leben treten und würden mit offenen Armen aufgenommen werden?«
»Patrick, bitte...«
»Daraus wird nichts, Hannah. Wir haben keine gemeinsame Basis, auf der wir aufbauen können. Meine Eltern waren mir echte Eltern. Und was haben Sie mir gegeben? Mein Leben, gewiß. Soll ich vielleicht dankbar sein, daß Sie mich nicht abgetrieben haben? Das wäre wahrscheinlich möglich gewesen, selbst damals.«
Sie fühlte sich völlig ausgehöhlt, sie hatte keine Kraft mehr zu sprechen. Wie konnte sie diesem plötzlich so harten, barschen Mann beschreiben, wie sehr sie ihn in jenen Monaten, als sie mit ihm schwanger gewesen war, geliebt hatte? Wie sie getrauert hatte, als man ihn ihr genommen hatte? Und wie konnte sie ihm erklären, was ihr später geschehen war? Es schien lächerlich, absurd, auch nur daran zu denken. Mit Anstrengung holte sie Atem. »Patrick, ich...« Die Tränen, die sie bis jetzt zurückgedrängt hatte, drohten sie zu ersticken. »Du verstehst es nicht. Ich kann es dir nicht begreiflich machen.«
»Nein.«
Das Schweigen zog sich in die Länge, bis Hannah meinte, sie müsse sprechen, sie müsse ein Steinchen finden, das sie in diesen Abgrund werfen konnte, der sich zwischen ihnen aufgetan hatte. »Ich wollte...«
»Sie wollten«, sagte Patrick, freundlicher jetzt, »das Unmögliche. Was für eine Enttäuschung für Sie«, fügte er ironisch hinzu, »den lang verlorenen Sohn zu finden und ihn des Mordes für fähig zu halten.«
»Nein, Patrick, das stimmt nicht. Das habe ich nie gedacht.« Hannahs Stimme schwoll erregt an. »Ich hatte Angst um dich, ich hatte Angst, du könntest in Schwierigkeiten stecken. Ich wollte nicht, daß du...«
»Sie wollten sich das Bild des perfekten Sohnes nicht verderben lassen, wie? Den Sie wie den Märchenprinz in einen tiefen Schlaf versetzt haben, um ihn eines Tages mit dem Mutterkuß zu wecken?«
Sie weinte jetzt offen. »Nein, Patrick, bitte, das ist unfair.«
»Ja, das ist es wahrscheinlich«, sagte er nach einer kleinen Pause, »aber Ihre Erwartungen waren es auch. Sie hätten, wie man so schön sagt«, in seinem Lächeln lag kein Humor, »die Finger davon lassen sollen.« Einen Moment lang sah Patrick sie schweigend an, dann schien er einen Entschluß gefaßt zu haben. »Tut mir leid, Hannah.«
Hannah sah zu, wie er seine Hand auf die abgebröckelte Mauer legte, sie übersprang und über den Rasen davonging.
Sie saß auf dem Toilettendeckel, ein feuchtes Tuch an ihr Gesicht gedrückt. Sie hatte aufgehört zu weinen und fühlte sich ausgelaugt, von jenem seltsamen leichten Schwindelgefühl erfaßt, das manchmal auf langes Weinen folgt. Es war Jahre her, daß sie so geweint hatte, ihr Schluchzen aus solchen Tiefen aufgestiegen war. Jetzt fühlte sie sich auf merkwürdige Weise in Frieden, beinahe gereinigt.
Patrick hatte natürlich recht gehabt. Was hatte sie erwartet? Bedingungslose Annahme? Vielleicht sogar Liebe? Das waren Phantasien gewesen, aus dem Hunger geboren. Sie hatte das Bild des perfekten Sohnes geschaffen, um eine Undefinierte Leere in ihrem eigenen Inneren zu füllen.
Hannah seufzte und tauchte das Tuch in das Becken mit dem kalten Wasser. Nun, jetzt war es vorbei. Sie hatte getan, was sie sich vorgenommen hatte - es war sinnlos, noch länger hierzubleiben und sich weiter zu erniedrigen. Vorausgesetzt, daß die Polizei sie abreisen ließ. Noch einmal tupfte sie ihr Gesicht mit dem feuchten Tuch ab, dann rieb sie es mit einem Handtuch trocken, vermied es aber, in den Spiegel zu sehen. Es würde Stunden dauern, ehe die Schwellungen zurückgingen, und es war das beste, wenn sie jetzt gleich mit Inspector Nash sprach. Sonst würde ihr ihre Entschlossenheit vielleicht wieder abhanden kommen.
Auf der Suche nach moralischer Unterstützung ging Hannah zuerst zu Kincaids Apartment, aber als ihre zum Klopfen gekrümmte Hand die Tür berührte, merkte sie plötzlich, daß sie ihm jetzt nicht ins Gesicht sehen konnte, und wandte sich ab. Besser, sie sprach allein mit Nash.
Der Flur war leer, das Haus still, und Hannah wurde sich bewußt, daß sie keine Ahnung hatte, wie spät es war. Mittag? Früher Nachmittag? Teezeit? Die Zeit hatte alle Bedeutung für sie verloren. Einen Moment blieb sie am Kopf der Treppe stehen und überlegte, was sie Nash sagen wollte. Daß ihr Arbeitgeber krank sei? Daß sie eiligst nach Oxford zurückmüsse, weil dort ein dringendes Projekt wartete?
Schuldbewußtsein überflutete sie. Wie hatte sie Miles’ Krankheit in diesen letzten Tagen so einfach vergessen können? Es war ihr nicht einmal eingefallen, in der Klinik anzurufen, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen, und das nach allem, was er für sie getan hatte. Höchste Zeit, daß sie sich endlich zusammennahm.
Sie hörte kein Geräusch. Nur der feine Luftzug verriet ihr, daß die Tür hinter ihr sich geöffnet hatte. Ehe sie sich umdrehen oder etwas wagen konnte, erhielt sie einen harten Stoß in den Rücken.
Und als ihr die Treppe entgegenkam, klammerten sich ihre Gedanken an ein kleines, belangloses Detail - die Hand in ihrem Rücken hatte sich warm angefühlt.