Am Mittwoch morgen um neun Uhr eröffnete Dr. James Gordon die amtliche Untersuchung der Ursache von Jasmine Dents Tod. Im Gerichtssaal hing noch die Kälte der vergangenen Nacht, und die Luft roch schwach nach kaltem Zigarettenrauch. Kincaid war froh, daß die Coroner in London üblicherweise Mediziner mit juristischen Fachkenntnissen waren und man sich bei den meisten von ihnen darauf verlassen konnte, daß sie eine Leichenschau schnell und sachlich abwickeln. Auf dem Land konnten die Coroner, häufig Kleinstadtanwälte, die von der Lokalpolitik mehr verstanden als von Medizin und Jurisprudenz, manchmal der Versuchung, sich in Szene zu setzen, nicht widerstehen. Kincaid hatte schon früher mit Dr. Gordon zu tun gehabt. Er wußte, daß er gerecht, gewissenhaft und intelligent war. Gordons blaue Augen, so blaß in der Farbe wie sein gelichtetes rotblondes Haar, spiegelten scharfes Interesse. An einem alten Eichentisch voller Schrammen saß er Kincaid, Gemma, Margaret Bellamy und Felicity Howarth in dem kleinen Raum gegenüber. Alle außer Gemma waren als Zeugen geladen, und außer ihnen war niemand im Saal.
Sie warteten schweigend, während Gordon die von ihm ausgebreiteten Unterlagen studierte. Kincaid betrachtete die drei Frauen und dachte, wie klar ihre Haltung jeweils ihre Persönlichkeit ausdrückte. Gemma sah gleichzeitig entspannt und aufmerksam aus wie sie da, die Hände lose im Schoß gefaltet, auf ihrem Stuhl saß. Im grauen Licht, das durch das einzige Fenster des Raums fiel, hob sich ihr Haar mit kupfernem Glanz vom matten Oliv ihrer Jacke ab. Als sie Kincaids Blick auf sich fühlte, sah sie auf und lächelte.
Margaret war zwar einigermaßen ordentlich frisiert und gekleidet, drehte aber unablässig ein Papiertuch in den Fingern, das sich sehr schnell in seine Bestandteile auflöste. Als sie hereingekommen war, hatte Kincaid bemerkt, daß ihr Rock zipfelte, als hätten kleine Jungen sich dran hin und hergeschwungen, als er zum Trocknen aufgehängt gewesen war.
Felicity Howarth trug Anthrazitgrau statt Marineblau, und war so korrekt gekleidet wie an Jasmines Todestag, als er sie zum erstenmal gesehen hatte. Sie saß so gerade auf dem harten Stuhl, als hätte sie ein Lineal im Rücken, die Hände auf ihrer Handtasche, die mehr wie eine Aktenmappe aussah. Doch das rotblonde Haar wirkte im Gegensatz zu sonst stumpf, und die Fältchen um ihre Augen waren deutlicher sichtbar. Kincaid erinnerte sich, daß Gemma ihm erzählt hatte, Felicity habe im Augenblick besonders viele Patienten zu betreuen.
»Mr. Kincaid!«
Gordons Stimme riß Kincaid aus seinen Gedanken.
»Sir?«
»Mr. Kincaid, meines Wissens waren Sie derjenige, der Antrag auf eine Obduktion stellte?«
»Das ist richtig.«
»Etwas ungewöhnlich, nicht wahr, daß ein Beamter des CID persönlich eine Obduktion beantragt?« Gordon blickte Kincaid mit blauen Augen forschend ins Gesicht, doch ehe Kincaid etwas erwidern konnte, fuhr er zu sprechen fort. »Ich nehme an, Sie haben die Akte an die Staatsanwaltschaft gesandt?«
Kincaid nickte. »Ja.«
»Und gibt es Gründe, eine strafrechtliche Verfolgung einzuleiten?«
»Noch nicht, nein.«
Gordon seufzte. »Nun, ich kann nicht viel mehr tun, als die Genehmigung zur Beerdigung zu erteilen.« Er musterte die Gesichter der Anwesenden. »Sind Angehörige der Toten hier?« Auf Kincaids Kopfschütteln zog Gordon die Augenbrauen hoch, sagte jedoch nur: »Dann werde ich den Totenschein zur Post geben.«
Kincaid spürte eine plötzliche Entspannung der Atmosphäre im Raum. Er war sich der Spannung zuvor gar nicht bewußt gewesen, und selbst jetzt konnte er ihre Quelle nicht fixieren. Meg oder Felicity? Er hielt es durchaus für möglich, daß Felicity im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit schon früher gelegentlich bei einer Leichenschau hatte erscheinen müssen. Margaret war wohl die Unerfahrenste unter ihnen, hatte vermutlich nicht gewußt, wie schnell so eine Untersuchung vorbei sein konnte und daß der Coroner keine Befugnis hatte, jemanden zu beschuldigen.
»Aber«, sagte Gordon mit Nachdruck, so daß alle Augen sich wieder auf ihn richteten, »ich würde dennoch gern einige Fragen zu meiner eigenen Beruhigung klären.«
Dieser gerissene alte Teufel, dachte Kincaid und lächelte.
»Mrs. Howarth«, sagte Gordon. »Sie haben Miss Dent am vergangenen Donnerstag besucht, ist das richtig?«
Felicity nickte. »Ja, gleich morgens. Ich habe ihr beim Baden geholfen, überprüft, ob der Katheter richtig sitzt, das Übliche eben.« Sie breitete mit hilfloser Geste die Hände aus. »Man kann im Grund für sterbende Patienten, solange sie noch aufstehen können, nicht viel tun. Man kann eigentlich nur den Fortschritt der Krankheit beobachten und dafür sorgen, daß die Patienten sich einigermaßen wohl fühlen.«
»Erschien sie Ihnen von ihrer Disposition her anders als sonst? Gab es Anzeichen einer Depression? War sie nervös?«
Felicity Howarth lächelte etwas nachsichtig. »Patienten, die an einer tödlichen Krankheit leiden, sind häufig niedergeschlagen, Dr. Gordon. Aber an diesem besonderen Tag ist mir nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Kein Anzeichen dafür, daß Jasmine mit dem Gedanken spielte, sich das Leben zu nehmen.«
Unbeeindruckt von Felicity Howarths Seitenhieb setzte Gordon seine Vernehmung fort. »Und das entsprach der täglichen Gewohnheit? Ein Besuch am Tag?«
»Ja...« Felicity hielt mit gerunzelter Stirn inne. »Das heißt, manchmal bin ich auf dem Heimweg noch einmal bei ihr vorbeigegangen, wenn ich in der Nähe einen Fall hatte. An solchen Tagen sagte ich Jasmine, daß ich vielleicht noch einmal vorbeischauen würde. Das hatte ich vergessen.«
»Und haben Sie noch einmal bei ihr vorbeigeschaut?«
»Nein.« Sie sagte es leise und mit Bedauern. »Als ich mit meinen Besuchen fertig war, war es zu spät.«
»Miss Bellamy.« Gordon richtete seinen scharfen Blick jetzt auf Meg. Kincaid sah, wie ihre Hände im Schoß zuckten. »Soweit ich gehört habe, hat Miss Dent mit Ihnen über die Möglichkeit eines Selbstmords gesprochen.«
»Ja, Sir.«
Gordon mußte sich Vorbeugen, um sie hören zu können. »War Ihnen klar, wie ernst das war, worum Miss Dent Sie da bat?«
Meg sah zu ihm. Ihr Gesicht war rot und fleckig, ihre Hände waren jetzt ruhig. »Sie hat mich ja nicht gebeten, irgend etwas zu tun. Sie wollte mich nur bei sich haben. Sie wollte nicht allein sterben. Kann das denn keiner von Ihnen verstehen?« Meg sah sie alle herausfordernd an. Keiner hielt ihrem Blick stand. Im nächsten Moment senkte sie ihren Blick wieder und sagte, die Augen auf ihre Hände gerichtet: »Es ist ja sowieso gleich. Am Ende war sie doch allein.«
»Sie waren auch am letzten Donnerstag noch einmal bei ihr?« fragte Gordon mit einer Spur Anteilnahme in der Stimme.
»Ja, nach der Arbeit. Ich hatte ihr ein Curry mitgebracht. Ich wußte, daß sie nicht viel essen würde, aber sie versuchte es meistens, wenn sie meinte, ich hätte mir ihretwegen besondere Mühe gemacht.« Meg sah zu Gordon auf und sprach mit ihm, als wären sie allein im Saal. »Ich wäre niemals gegangen, wenn ich eine Ahnung gehabt hätte - niemals. Sie wirkte so - Aber dazu hätten Sie sie kennen müssen. Selbst wenn Jasmine von Selbstmord gesprochen hat, war sie immer ganz sachlich. Nie hat sie gesagt, >Meg, ich habe Angst<, oder >Meg, ich will nicht allein sein<. Selbst mit dem Tod vor Augen hat sie nie zugelassen, daß man hinter die Fassade sah. Aber an dem Tag, am letzten Donnerstag, da war sie anders. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll.« Das Gesicht voll konzentriert, die Hände erhoben, als wollte sie die Worte aus der Luft holen, hielt Meg inne und atmete tief ein. »Sie war offen. Die Fassade war abgebröckelt. Ich konnte ihre Zuneigung klar spüren. Und sie war glücklich. Das habe ich auch gefühlt.«
»Miss Bellamy.« Gordons Ton war tatsächlich sanft. Kin-caid zog eine Augenbraue hoch. Er hatte James Gordon emotionalen Appellen gegenüber für unempfänglich gehalten, doch Margaret Bellamy schien selbst bei den Dickfelligsten Beschützerinstinkte zu wecken. »Miss Bellamy«, setzte Gordon noch einmal an. »Eben solches Verhalten ist mit beabsichtigtem Selbstmord vereinbar. Man hat einen Entschluß gefaßt, man fühlt sich erleichtert, beinahe euphorisch.«
Meg hob den Kopf. »Ja, das hat man mir schon gesagt. Aber daran glaube ich nicht. Bei Jasmine war es nicht so.«
»Mr. Kincaid, Sie haben keinerlei konkrete Anhaltspunkte für einen Selbstmord gefunden?«
»Nein, Sir. Im Kühlschrank fanden wir zwei Ampullen Morphium, aber die Menge, die aus ihnen entnommen wurde, reichte bei weitem nicht an die heran, die man in Jasmine Dents Körper festgestellt hat. Und es waren keine leeren Ampullen in der Wohnung.« Kincaid hielt inne und richtete den Blick auf Gordon, während er sich sammelte. »Sie war ziemlich schwach. Das Treppensteigen war eine große Anstrengung für sie. Ich denke, es liegt im Bereich des Möglichen, daß Jasmine Dent sich selbst eine tödliche Dosis Morphium verabreichte, die Ampullen aus der Wohnung brachte - vielleicht vergrub sie sie im Garten - und sich dann in ihr Bett legte, um zu sterben. Aber ich halte das für höchst unwahrscheinlich. Außerdem war sie eine ordentliche und methodische Frau. Ich glaube nicht, daß sie sich das Leben genommen hätte, ohne etwas Schriftliches zu hinterlassen, für den Fall, daß es Fragen geben sollte.«
»Wie steht es mit der Lebensversicherung?« fragte Gordon. »Vielleicht war es ihr wichtig, ihren Tod als einen natürlichen erscheinen zu lassen, weil sonst der Anspruch an die Versicherungsgesellschaft verfallen würde.«
»Die Suizidklausel war bereits abgelaufen. Es spielte keine Rolle mehr.«
Gordon schob die Lippen vor und richtete die vor ihm liegenden Papiere zu einem ordentlichen Stapel zusammen. »Tja, Mr. Kincaid, ich glaube, ich kann nicht mit gutem Gewissen auf Tod durch Selbstmord erkennen. Diese Untersuchung wird daher gemäß Artikel 20 des Coroner’s Act vertagt, um der Polizei Gelegenheit zu geben, weitere Ermittlungen durchzuführen.«
Kincaid nickte. »Danke, Dr. Gordon.«
Als sie alle aufstanden und zur Tür drängten, hielt Gordon Kincaid auf. Zum erstenmal lächelte er, und seine Förmlichkeit fiel wie eine Verkleidung von ihm ab. »Es hätte die Dinge für Sie vielleicht vereinfacht, wenn ich auf Selbstmord erkannt hätte. Ein Soziopath ist mir tausendmal lieber als diese hinterhältigen Familiengeschichten - da gibt’s wenigstens gutes forensisches Material, Blutspritzer, Fingerabdrücke und dergleichen mehr. Da kann man wissenschaftlich arbeiten. Das ist so ein Hobby von mir«, fügte er etwas verlegen hinzu, während er Unterlagen in seine Aktentasche stopfte. »Auch historische Fälle. Jack the Ripper. Dr. Crippen. Ich habe wahrscheinlich den Beruf verfehlt. Ich hätte Gerichtspathologie machen sollen. Gordon drückte die Schlösser seiner Aktentasche zu, grüßte kurz und wandte sich zur Tür. »Also, viel Glück bei der Klärung dieser Geschichte.« Die Tür des Gerichtssaals fiel quietschend hinter ihm zu.
Kincaid und Gemma sahen einander an und begannen beide zu lachen. »Wer hätte das gedacht?« sagte Gemma.
»Bißchen, als hätte Maggie Thatcher die Unterhose runtergelassen«, fügte Kincaid immer noch lachend hinzu, als sie Gordon in den Korridor hinaus folgten.
Draußen war alles leer. Nur das Quietschen ihrer Schuhsohlen auf dem Linoleum war zu hören. Margaret Bellamy und Felicity Howarth waren verschwunden.
»Sie hatten offensichtlich keine Lust auf einen Schwatz«, stellte Gemma fest. »Aber um elf sehen wir sie ja sowieso wieder.«
»Nur wird sich da zum Schwätzen auch nicht viel Gelegenheit ergeben«, erwiderte er und öffnete Gemma die Tür. Gemeinsam traten sie in den grauen Londoner Morgen hinaus, und Kincaid faßte sie automatisch am Arm, als ein Taxi vorbeibrauste und Fontänen öligen Wassers aufspritzen ließ. »Ich komme mir vor, als inszenierte ich eine schlechte Farce mit einem unwilligen Ensemble. >Die Testamentsverlesung<«, intonierte er mit Grabesstimme. »Wahrscheinlich war es eine absurde Idee, aber er hielt inne, als sie den Midget erreichten, und sperrte Gemma die Tür auf der Beifahrerseite auf, »aber als Jasmines Testamentsvollstrecker kann ich zur Unterrichtung der Begünstigten die Form wählen, die ich für richtig halte. Und ich hätte Sie gern dabei, wenn die Vorstellung steigt. Sie können die guten Leute im Auge behalten, während ich Regie führe.«
Sid schoß auf Gemma zu und wickelte sich ihr schnurrend um die Beine, so daß sie stehen bleiben mußte, um nicht über ihn zu fallen. »Du treuloser Kerl«, schimpfte Kincaid. »Dabei bin ich derjenige, der dich füttert.«
»Sie haben sich ja tatsächlich richtig gut um ihn gekümmert.« Gemma kniete nieder, um den Kater zu streicheln. »Er hat sich glänzend erholt.«
Kincaid knipste die Lampen in Jasmines Wohnzimmer an und hatte gerade die Jalousien hochgezogen, als es das erstemal klopfte.
In verlegenem Schweigen, wie Fremde in einem Aufzug, standen Theo Dent, der Major und Felicity Howarth vor der Tür. Kincaid begrüßte sie, schloß die Tür hinter ihnen und hatte ihnen gerade ihre Mäntel abgenommen, als es wieder klopfte. Diesmal war es Margaret Bellamy, sichtlich außer Atem und um einiges zerzauster als bei der Leichenschau; und hinter ihr stand, zu Kincaids Vergnügen, Roger Leveson-Gower. Kincaid drehte sich um und tauschte einen Blick mit Gemma. Er wußte, daß sie das gleiche dachten - solche Pünktlichkeit bei fünf verschiedenen Personen war entschieden unnatürlich. Sie mußten ja alle sehr neugierig sein.
»Ist Ihnen die Post nicht gut genug«, fragte Roger, sich augenblicklich in den Mittelpunkt stellend, »daß Sie uns alle hierher lotsen mußten? Oder genießen Sie es einfach, den kleinen Diktator zu spielen?«
Kincaid lächelte. »Ich kann mich nicht erinnern, Sie eingeladen zu haben.«
Roger legte besitzergreifend einen Arm um Margarets Schultern. Sie schien zu schrumpfen unter seiner Berührung. »Es muß doch jemand dafür sorgen, daß Margaret anständig behandelt wird.«
»Ach, und da sind Sie genau der Richtige?«
»Ganz klar«, antwortete Roger. Die Ironie kam bei ihm gar nicht an.
Ohne Roger weiter zu beachten, wandte sich Kincaid den anderen zu. Felicity hatte auf einem der Eßzimmerstühle Platz genommen. Sie saß kerzengerade wie immer, aber ihre Kopfhaltung verriet Müdigkeit. Der Major war ihrem Beispiel gefolgt und hatte sich ebenfalls gesetzt. Seine Mütze in den Händen drehend, hielt er die blauen Augen unverwandt auf Kincaid gerichtet. Theo stand allein abseits, die Daumen unter seine Hosenträger geschoben, die er nervös schnalzen ließ.
Kincaid richtete das Wort an alle. »Ich werde Sie nicht lange aufhalten. Es tut mir leid, wenn ich Ihnen Umstände gemacht habe. Ich weiß, das ist ein wenig dramatisch, aber mir erschien dieser Weg, die Dinge zu erledigen, als der praktischste.« Er machte eine Pause, um sich zu vergewissern, daß er ihre Aufmerksamkeit hatte. »Und es erschien mir nur recht, Ihnen Jasmines Wünsche persönlich mitzuteilen. Wenn so eine Nachricht per Brief mit der Post kommt...« Er zuckte die Achseln. »Da könnte man ebensogut im Toto gewonnen haben. Aber dies hier sind keine anonymen Geschenke. Jasmine hat sich sehr sorgfältig überlegt, was sie für jeden von Ihnen tun wollte. In gewisser Weise ist dies ihre letzte Mitteilung an Sie.«
Kincaid mußte einen Kloß in seiner Kehle hinunterschlucken. Er hatte sich vorher nicht überlegt was er sagen würde, und seine Worte überraschten ihn selbst ebenso wie die Stimmung von Endgültigkeit, die sie vermittelten.
Megs Augen wurden feucht. Sie befreite sich aus Rogers Arm. Kincaid setzte an, zu ihr zu sprechen, zögerte und wandte sich statt dessen an Theo.
»Jasmine hat Ihnen kein Bargeld hinterlassen, Theo, aber sie hat alles Notwendige zur Bezahlung der Hypothek auf dem Laden veranlaßt. Sie hat Sie ferner als Begünstigten ihrer Lebensversicherung angegeben, die sich auf eine stattliche Summe beläuft.« Unterschiedliche Emotionen spiegelten sich in Theos Zügen - Enttäuschung, Erleichterung und schließlich Verwirrung, als wäre er nicht sicher, ob er belohnt oder bestraft worden sei.
»Meg, abgesehen von einigen kleineren Vermächtnissen hat Jasmine Ihnen ihr gesamtes Vermögen hinterlassen. Dazu gehören diese Wohnung und alle ihre Wertpapiere.«
Roger preßte die Lippen zusammen und zwinkerte einmal, aber es gelang ihm dennoch nicht ganz, seine Genugtuung zu verbergen. Meg sah hingegen noch unglücklicher aus als zuvor.
»Mrs. Howarth und Major Keith«, fuhr Kincaid fort, »jedem von Ihnen hat Jasmine eintausend Pfund in Wertschätzung ihrer Freundschaft« hinterlassen. Sie hat außerdem dem Tierschutzverein einen Betrag gespendet. Und das ist schon alles. Ich habe für jeden von Ihnen eine Kopie.« Er wies auf den Stapel Papiere, den er auf den Eßtisch gelegt hatte. »Wenn Sie -«
»Das ist nicht recht.« Felicitys Gesicht war beinahe so weiß wie die Bluse, die sie unter der anthrazitgrauen Kostümjacke trug. Sie schüttelte heftig den Kopf. »Ich kann das nicht annehmen. Es war meine Aufgabe, mich um sie zu kümmern. Niemals hätte ich erwartet -«
»Ich ebensowenig.« Der Major stand auf. Er drückte nervös seine Mütze zwischen seinen kurzen, kräftigen Fingern zusammen. »Das geht einfach nicht. Schlimm genug, daß sie so früh sterben mußte, aber dann auch noch von ihrem Tod zu profitieren...« Er sah sich im Zimmer um, als hoffte er, jemand würde ihm weiterhelfen. Dann sagte er: »Entschuldigen Sie mich«, drehte sich herum und ging zur Tür hinaus.
Im nachfolgenden Schweigen hörte Kincaid, wie der Nachhall vom Zuschlagen der Tür langsam verklang.
Meg trat einen Schritt auf die Tür zu. »Kann denn nicht jemand etwas tun? Mit ihm sprechen? Ich bin sicher, Jasmine hätte nicht gewollt, daß er es so... falsch auffaßt. Sie wollte ihm doch nur für seine Güte danken.«
»Sei nicht albern.« Rogers Verachtung war unverkennbar. »Der kommt bald wieder zu Verstand, darauf kannst du dich verlassen.«
Kincaid sagte zu Felicity: »Ich weiß nicht, ob Sie ein Vermächtnis ausschlagen können. Sie müssen das mit Jasmines Anwalt besprechen. Selbstverständlich könnten Sie das Geld verwenden, wie Sie es für richtig halten - Sie könnten es zum Beispiel für einen wohltätigen Zweck spenden, wenn Ihnen das angenehmer wäre.«
»Nichts kann mir das angenehmer machen. Ich werde es einfach nicht annehmen.« Felicitys Stimme war laut; der erste Riß in der professionellen Fassade.
Meg trat zu ihr und sah ihr ernsthaft in die Augen. »Jasmine hat mir so oft erzählt, wie gut Sie zu ihr waren, wie sehr sie Ihre Ehrlichkeit schätzte. >Kein Getue<, sagte sie immer.« Meg lächelte bei der Erinnerung und kniete vor Felicity nieder. »Sie mochte das an Ihnen. Sie waren der einzige Mensch, bei dem sie sich darauf verlassen konnte, daß er ihr schonungslos die Wahrheit sagte. Die meisten von uns haben in dieser Hinsicht versagt. Es ist leichter vorzugeben, es verginge bald wieder.« Meg hockte sich auf ihre Fersen und wandte den Blick ab, während sie an ihrem Rock zupfte. »Sogar wenn sie davon gesprochen hat, daß sie sich das Leben nehmen wollte, habe ich es nie wirklich geglaubt - es wurde nie richtig real. Es war wie im Kino oder im Theater.« Sie sah sie alle an außer Roger. »Verstehen Sie das?«
»Ja«, antwortete Theo. Er hatte das nervöse Zupfen an seinen Hosenträgern eingestellt, als er Meg zugehört hatte, und setzte sich jetzt auf einen Stuhl am anderen Ende des Eßtischs. Die Ellbogen aufgestützt, sagte er: »Bei mir war es genauso. Ich hätte die Wahrheit erkennen müssen, als sie sagte, es ginge ihr besser, mich aber trotzdem nicht sehen wollte. Ich hätte nicht lockerlassen sollen, ich hätte einfach nach London kommen und vor ihrer Tür kampieren sollen, bis sie mich hereingelassen hätte. Ich hätte alles für sie tun müssen, was in meiner Macht stand.« Mit einem hilflosen Achselzucken hob er die Hände. »Sie wußte sicher, daß ich den Weg des geringsten Widerstands gehen würde - so war ich immer schon. Jasmine war ja immer für mich da - oft genug ärgerlich«, er lächelte, »aber sie war da, und ich wollte nicht glauben, daß sich daran je etwas ändern würde.« Theo machte eine Pause und sah Meg an. »Ich bin froh, daß meine Schwester Sie gekannt hat, Margaret. Sie haben sie nicht enttäuscht.«
»Nein?« fragte Meg und hob den Kopf, um Theo in die Augen zu sehen.
Roger verdrehte angewidert die Augen. »Wie rührend! Mir wird gleich übel.«
Die Stimmung war zerstört. Meg wandte sich von Theo ab und blickte an sich selbst hinunter. Kincaid beobachtete, wie die verlegene Befangenheit sich ihrer wieder bemächtigte, als sie sich ihrer kindlichen Haltung bewußt wurde. Als sie aufstehen wollte, verfing sich der Absatz ihres Schuhs in ihrem Rocksaum und der Stoff riß. Mit einer Grimasse fiel sie wieder auf die Knie.
»Warten Sie«, sagte Felicity. »Ich helfe Ihnen.« Sie schien zumindest einen Teil ihrer Fassung wiedergewonnen zu haben, während Meg und Theo gesprochen hatten, und schlüpfte jetzt schnell wieder in die ihr vertraute Rolle. Sie kniete nieder und befreite geschickt Megs Absatz aus dem zerrissenen Stoff. »Geht es so? Sie werden allerdings zu Nadel und Faden greifen müssen, um den Rock wieder in Ordnung zu bringen.«
Roger verschränkte die Arme und sagte in übertrieben geduldigem Ton: »Bist du jetzt so weit, Margaret?«, machte aber keinerlei Anstalten, ihr aufzuhelfen.
Felicity richtete sich auf, reichte Meg eine Hand, nahm dann ihre Handtasche vom Stuhl. Sie wandte sich Kincaid zu und sprach langsam und mit Bedacht, als hätte sie die Worte auswendig gelernt. »Mr. Kincaid. Es tut mir leid. Es war unfair von mir, Sie zu attackieren. Ich weiß selbstverständlich, daß die Verantwortung nicht bei Ihnen liegt, und ich werde die nötigen Schritte unternehmen, um diese Angelegenheit zu klären.«
»Haben Sie vor, zu Antony Thomas zu gehen? Oder vielleicht zu Ihrem eigenen Anwalt?«
»Ja. Sobald -«
»Wie lang dauert es?« unterbrach Roger. »Bis das Gericht die Gültigkeit des Testaments bestätigt, meine ich.«
Kincaid zog eine Augenbraue hoch.« Hat Margaret es denn besonders eilig?«
»Würden Sie endlich aufhören, über mich zu reden, als wäre ich gar nicht vorhanden?« fuhr Meg sie alle zornig an. »Nein, ich habe es überhaupt nicht eilig, Jasmines Geld einzustecken. Ich wollte es von Anfang an nicht haben, und es ist mir auch völlig egal, wenn ich nie einen Penny davon zu sehen bekomme.« Sie hielt inne, schnappte einmal kurz nach Luft und feuerte dann ihre letzte Salve ab. »Meinetwegen können Sie alle zum Teufel gehen!« Damit stakte sie hocherhobenen Hauptes aus der Wohnung, und ihr Zorn verlieh ihr eine Würde, die auch der herabhängende Rocksaum nicht schmälern konnte.
Roger folgte ihr mit einem Achselzucken, als wollte er sagen, was kann man da schon machen?, vergaß jedoch nicht, eine der Testamentskopien mitzunehmen, die auf dem Tisch lagen.
Zu Kincaids Überraschung faßte Theo sich als erster. »Diese Frau hat wirklich was Besseres verdient. Was sieht sie nur in diesem unangenehmen Burschen?« Kaum waren die Worte heraus, lief er brennend rot an und sagte gedrückt: »Oh, Entschuldigung. Das war unangebracht.« Und nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Dann gehe ich jetzt besser auch.«
Auch er vergaß nicht, sich eine Kopie des Testaments mitzunehmen.
Felicity wandte sich an Gemma und Kincaid. »Sie waren sehr freundlich«, sagte sie mit einem dünnen Lächeln, »auch wenn ich meine Zweifel habe, daß Freundlichkeit zu den Motiven gehört, die Sie veranlaßt haben, uns hier zusammenzurufen. Mr. Kincaid, diese Untersuchung ist sehr schlimm für Margaret und Theo - sie haben schon genug damit zu tun, mit ihren Schuldgefühlen und ihrem Schmerz fertigzuwerden -, Sie wären wohl nicht bereit, sie einzustellen?«
Kincaid schüttelte den Kopf. »Nein. Tut mir leid.«
»Ich dachte es mir schon.« Felicity seufzte und sah auf ihre Uhr. »Tja, dann gehe ich jetzt. Meine Patienten warten.« Sie nahm Handtasche und Mantel und ging.
»Dann waren’s nur noch zwei«, murmelte Kincaid und setzte sich auf die Kante von Jasmines Krankenhausbett. »Abgang der Akteure. Sie haben sich bewundernswert im Hintergrund gehalten«, fügte er mit einem Blick zu Gemma hinzu, die immer noch an die Küchenanrichte gelehnt stand.
Sie streckte sich und ging zu einem der Eßzimmerstühle. Sid, der beim ersten Klopfen wie der Blitz verschwunden war, erschien plötzlich wieder und sprang auf ihren Schoß. Gemma streichelte geistesabwesend seinen Kopf, während sie sprach. »Daß der reizende Roger seine Freude verbergen würde, habe ich gar nicht erwartet, aber Theo hat auch nicht gerade wie ein Wilder protestiert.«
Kincaid zog eine Augenbraue hoch. »Und die anderen? Haben die zuviel protestiert?«
In Gemmas Lächeln sprühte ein Funken Mutwillen. »Ihre kleinlaute Meg hat eine bemerkenswerte Wandlung zur Tigerin durchgemacht. Wären Sie nicht gern Mäuschen, wenn sie und Roger unter vier Augen miteinander reden?«
»Ist Ihnen aufgefallen«, sagte Kincaid, »daß Meg über Jas-mines Absichten genauestens informiert war?«
Meg hockte fröstelnd auf dem Bett. Selbst der letzte Hauch Wärme von der vergangenen Nacht hatte sich längst verflüchtigt, und der Heizkörper war, als sie ihn berührte, eiskalt. Mrs. Wilsons Großzügigkeit ging nicht so weit, daß sie die Zimmer ihrer Untermieter auch tagsüber warm hielt. Sie hatte für Faulenzer, die bis in die Puppen schliefen, nichts übrig und verkündete das häufig genug aus den warmen Regionen ihrer Küche.
Aber Meg war ja normalerweise tagsüber auch nicht zu Hause. Sie hatte sich einen Tag freigenommen, um, wie sie erklärt hatte, persönliche Dinge zu erledigen, und nach Mrs. Washburns rascher und schweigender Zustimmung hatte sie kaum noch Zweifel daran, daß ihre Tage bei der Baubehörde gezählt waren. Diese Erkenntnis war ihr beinahe eine Erleichterung.
An den Wochenenden ging sie außer Haus, wenn das Zimmer kalt zu werden begann - ging einkaufen, lief ziellos durch die Straßen, und in den letzten Monaten hatte sie Jasmine besucht.
Papierknistern lenkte ihre Aufmerksamkeit auf Roger. Er saß am Tisch und kaute mechanisch den letzten Bissen einer Fleischpastete, ihrer Fleischpastete - er hatte zwei beim Bäcker an der Ecke gekauft. Aber Meg hatte nur einmal in die kalte Pastete mit dem talgigen, nach Zwiebel schmeckenden Fleisch hineingebissen und hätte sich beinahe übergeben.
Roger knüllte das Einwickelpapier zu einer Kugel zusammen, die er in Richtung Abfalleimer quer durch das Zimmer warf. Er verfehlte sein Ziel. Achselzuckend ließ er die Papierkugel liegen, wo sie gelandet war.
»Roger, kannst du nicht -«, begann Meg und brach ab, da sie nicht die Worte finden konnte, ihm zu sagen, daß er gehen solle, ohne ihn wütend zu machen.
»Ach, du möchtest wohl, daß ich gehe, Schätzchen, hm?« sagte Roger leise und kam durchs Zimmer, um sich neben sie auf das Bett zu setzen. Ihr Magen krampfte sich zusammen, und ihre Hände begannen zu zittern.
»Ich soll dich allein lassen? Das würde ich doch niemals tun, Meg, mein Schatz.« Er strich mit seinen Fingern leicht über ihren Rücken. »Du weißt doch, was das bedeutet, nicht wahr, Meg? Sobald das Testament für gültig erklärt ist, und das wird sicher nicht lange dauern, haben wir’s geschafft. Eine anständige Wohnung, vielleicht ein Urlaub irgendwo. Hast du nicht Lust, irgendwo in Spanien in der Sonne zu liegen, Meg, und pina coladas zu trinken?«
Er hatte ihre Bluse aufgeknöpft, während er sprach, und schob jetzt eine Fingerspitze unter den Rand ihres Büstenhalters.
Meg spürte die Reaktion ihres Körpers. »Roger, nicht jetzt. Mrs. Wilson -«
»Die hält jetzt ihr Mittagsschläfchen vor der Glotze. Die hört nichts. Jedenfalls nicht, wenn du schön brav bist. Und ich möchte gern, daß du schön brav bist. Nicht wie heute morgen, als du diese Szene hingelegt hast. Was sollte denn der Superintendent denken, Schätzchen? Du hast ja herumgekreischt wie ein Fischweib.« Er drückte sie in die Kissen und hob ihre Beine auf das Bett. »So geht das nicht, Meg. Hörst du?« fragte er mit einschmeichelnder Stimme.
Meg nickte. Im kalten, grauen Licht, das durch das Fenster fiel, konnte sie die feinen Sommersprossen auf seiner Haut sehen und die Bräunung, die dort begann, wo das offene Hemd seine Brust freiließ. Sie klammerte sich an die Erinnerung ihrer Rebellion gegen ihn an diesem Morgen und hüllte sich darin ein wie in eine zweite Haut.
Roger zog seine Jeans herunter und schob ihren Rock hoch. Das zerwühlte Laken hatte sich unter ihren Schulterblättern zu einem Klumpen zusammengeschoben, und Meg konzentrierte sich auf diese Belästigung, weil sie glaubte, wenn sie sich stark genug darauf konzentrierte, würde das die verräterische Reaktion ihres Körpers blockieren.
Roger legte sich mit einem leisen Stöhnen auf sie.
Meg drehte das Gesicht zur Wand.