6

 

Die Ostseite der Carlingford Road lag tief in abendlichen Schatten, als Kincaid den Midget am Bordstein anhielt. Er kurbelte die Fenster hinauf, schloß das Verdeck und blieb dann einen Moment stehen und betrachtete das Haus, in dem er wohnte. Es wirkte unnatürlich still und unbelebt, kein Licht in den Fenstern, kein Anzeichen von Bewegung. Mit einem Achselzucken sagte er sich, das sei zweifellos seine eigene verdrehte Sicht. Aber als er halbwegs die Treppe zu seiner Wohnung hinauf war, fiel ihm plötzlich ein, daß er den Major seit dem vergangenen Abend nicht mehr gesehen hatte.

  Im ersten Moment bekam er einen regelrechten kleinen Schreck, dann schalt er sich hysterisch. Es gab überhaupt keinen Grund anzunehmen, dem Major könnte etwas zugestoßen sein. Es war schließlich nicht so, daß im Haus der Tod lauerte wie ein Gespenst aus einem Gruselroman. Dennoch konnte er es nicht lassen, umzukehren, nach unten zu gehen und beim Major zu klopfen.

  Es blieb alles still. Kincaid wandte sich wieder zur Straße. Er beschloß, durch Jasmines Wohnung in den Garten zu gehen, um dort nach dem Major Ausschau zu halten. Genau in dem Moment sah er ihn vorn an der Straßenecke in die Carlington Road einbiegen. Er ging langsam und schwerfällig, von zwei großen Blumentöpfen mit Büschen behindert, die er in beiden Armen trug.

  Kincaid eilte ihm entgegen. »Mir scheint, Sie können Hilfe gebrauchen.«

  »Sehr aufmerksam, danke.«

  Als Kincaid den einen der schweren Töpfe entgegennahm, hörte er, wie angestrengt der Major atmete. »Ein langer Weg von der Bushaltestelle hier herauf.«

  »Was sind das für Pflanzen?« fragte Kincaid, während er seinen Schritt dem kürzeren des Majors anpaßte.

  »Rosen. Eine altmodische Art. Aus einer Gärtnerei in Buckinghamshire.«

  »Was?« rief Kincaid erstaunt. »Sie haben diese schweren Dinger mit dem Bus aus Buckinghamshire hierher geschleppt?«

  Sie hatten die Treppe erreicht, die zur Wohnungstür des Majors hinunterführte. Der Major stellte seinen Topf nieder, nahm seine Mütze ab und wischte sich den schweißfeuchten Schädel mit dem Taschentuch. »Woanders bekommt man sie nicht. Sie heißen Himalayan Musk.«

  Kincaid setzte seinen Topf ebenfalls ab und musterte mit zweifelnder Miene die kahlen, dornigen Stengel. »Aber hätten Sie nicht...«

  Der Major schüttelte energisch den Kopf. »Es ist natürlich die falsche Jahreszeit. Aber es mußte etwas ganz Besonderes sein.« Als er Kincaids verständnisloses Gesicht sah, erklärte er: »Für Jasmine. Der Duft ist das Entscheidende, wissen Sie. Diese Rosen duften noch, und Jasmine hat duftende Blumen geliebt. Sie sagte immer, es sei ihr ganz gleich, wie sie aussähen, Hauptsache, sie dufteten. Diese Rosen hier blühen nur einmal, spät im Frühjahr. Ein Meer rosaroter Blüten, und sie duften paradiesisch.«

  Kincaid brauchte einen Moment, um das zu verdauen; nie hatte er den Major soviel auf einmal reden hören, nie hatte er aus seinem Mund etwas vernommen, das nur im geringsten schwärmerisch klang. »Ja, Sie haben recht«, sagte er dann. »Sie hätten ihr sicher gefallen.«

  Der Major sperrte seine Wohnungstür auf und bückte sich nach den Töpfen.

  »Warten Sie, ich helfe Ihnen«, sagte Kincaid und hob schon einen der Töpfe mühelos auf.

  Der Major wollte ablehnen, zögerte, sagte dann: »Danke, das ist nett.«

  Kincaid folgte ihm in die Wohnung. Nichts als Braun, war sein erster Eindruck. Der Major machte Licht, und zu dem Eindruck von Braun kam der von sauber und ordentlich hinzu. Eine verblichene Blumentapete in Rosé- und Brauntönen, ein brauner Teppich, eine braune Couchgarnitur. Keine Bilder, keine Fotografien, keine Bücher, soweit Kincaid sehen konnte, als er dem Major durch das Wohnzimmer folgte. Der einzige Farbtupfer war der Stapel von Gartenzeitschriften und -katalogen, der auf dem Couchtisch aus Fichtenholz lag.

  Der Major führte Kincaid in die Küche und öffnete die Tür zu einem betonierten Vorplatz, der sich bis unter die Treppe erstreckte, die von Jasmines Wohnung in den Garten führte. Auf der rechten Seite, in der Ecke, die der Zaun und die Hausmauer bildeten, hatte der Major sich einen kleinen Geräteschuppen gebaut. Kincaid streckte den Kopf hinein und bekam so intensiven Humusgeruch in die Nase, daß es ihm einen Moment den Atem verschlug.

  Der Major stieg die Treppe zum Garten hinauf und stellte seinen Topf ab. Kincaid folgte dem Beispiel und ließ dann seinen Blick durch den Garten schweifen. Der Kontrast zwischen der eintönig braunen Wohnung des Majors und dieser kleinen Oase der Fülle und der Farbenpracht hätte kaum stärker sein können. Er fragte sich, woran der Major sich im Winter erfreute, wenn im Garten nichts blühte.

  Nach einer kleinen Weile, während der auch der Major in Gedanken verloren schien, sagte Kincaid: »Wo wollen Sie sie einpflanzen?«

  »Da drüben, habe ich mir gedacht.« Der Major wies zu der Backsteinmauer am hinteren Ende des Gartens, der einzige Fleck, der, soweit Kincaid sehen konnte, noch nicht bepflanzt war. »Es sind Kletterrosen. Sie werden bald die ganze Mauer überwuchern.«

  »Lassen Sie mich Ihnen helfen.« Kincaid verspürte plötzlich den Wunsch, in diesem Moment des Gedenkens teilzuhaben, der passender war als jeder von einem Fremden abgehaltene Gottesdienst.

  Der Major zögerte wieder. Kincaid hatte den Eindruck, daß er stets so reagierte, wenn jemand ihn in seinem Einsiedlerdasein zu stören drohte. »Gut, ja. Im Schuppen ist noch ein zweiter Spaten.«

  Kincaid trug die Töpfe nach hinten zur Mauer, und als der Major mit den Spaten zurückkam und auf eine Stelle zwischen den Stiefmütterchen und den Löwenmäulchen deutete, begann er zu graben. Sie arbeiteten schweigend, während die Schatten im Garten länger wurden.

  Als der Major meinte, die Löcher seien tief genug, setzten sie die Wurzelballen behutsam hinein, füllten die Hohlräume auf und drückten die Erde mit den Händen fest. Nach jahrelangem Leben in einer Großstadtwohnung fühlte Kincaid sich danach so befriedigt wie in seiner Kindheit in Cheshire, als er mit Leidenschaft Erdburgen gebaut hatte.

  Der Major richtete sich auf und musterte auf seinen Spaten gestützt ihr gemeinsames Werk. »So, das hätten wir. Gut gemacht. Sie würde sich freuen, wenn sie es sehen könnte.«

  Kincaid nickte, den Blick auf die dunklen Fenster von Jasmines Wohnung gerichtet. In seinen eigenen Fenstern, eine Etage höher, spiegelte sich noch die Sonne.

  »Ich habe einen Bärenhunger. Kommen Sie doch mit, gehen wir etwas essen«, sagte er impulsiv und versuchte sich einzureden, er wolle lediglich die Gelegenheit nutzen, dem Major ein paar Fragen zu stellen, und sein Vorschlag habe überhaupt nichts mit dem Gedanken an seine leere Wohnung zu tun. Geduldig wartete er auf die Antwort des Majors.

  Der sah sich im Garten um, als wollte er sich bei den Tulpen und Forsythien Rat holen. »Gut. Dann waschen wir uns jetzt am besten mal die Hände.«

  Sie setzten sich in eine Imbißstube am Rosslyn Hill und bestellten Omelettes mit Pommes frites und Salat. Der Major hatte sich das dünne Haar sehr gründlich gebürstet, so daß seine Kopfhaut rosig schimmerte wie sein Gesicht; und Kin-caid wunderte sich über diese Generation, die zum zwanglosen Abendessen an einem Samstagabend einen Schlips umband. Er selbst hatte sein Baumwollhemd mit einem langärmeligen Pulli vertauscht, weil der Abend kühl geworden war.

  Als sie den ersten Schluck von ihrem Bier getrunken hatten, wischte sich der Major den Schaum vom Schnauzer und fragte: »War der Bruder inzwischen da? Erledigt er die Formalitäten wegen der Beerdigung und so weiter?«

  »Ja, der Bruder war hier, aber soviel gibt es im Moment nicht zu erledigen, da die Beerdigung vorläufig nicht stattfinden wird.«

  Der Major riß erstaunt die blauen Augen auf. »Wieso denn das?«

  »Weil ich eine Obduktion angeordnet habe, Major. Es gab Anzeichen dafür, daß Jasmine Selbstmord begangen haben könnte.«

  Einen Herzschlag lang starrte der Major ihn sprachlos an, dann stellte er sein Glas mit solchem Schwung auf den Tisch, daß etwas Bier überschwappte. »Was soll das? Warum konnten Sie sie nicht einfach in Frieden sterben lassen? Spielt es denn für irgend jemand eine Rolle, wenn die arme Seele sich ihr Leiden etwas abgekürzt hat?«

  Kincaid zuckte die Achseln. »Nein, gewiß nicht, Major, und ich hätte bestimmt nichts unternommen, wenn nicht noch etwas anderes hinzugekommen wäre. Ein paar Dinge paßten nicht zu der Selbstmordtheorie, und ich weiß jetzt mit Sicherheit, daß sie keines natürlichen Todes gestorben ist. Ich habe inzwischen den Obduktionsbefund.«

  »Was für Dinge?« fragte der Major.

  »Jasmine spielte in der Tat mit dem Gedanken an Selbstmord, das wissen wir. Sie hatte ihre Freundin Margaret gebeten, ihr dabei zu helfen. Dann jedoch erklärte sie Margaret, sie habe eine andere Einstellung dazu gewonnen und es sich nun anders überlegt. Sie hinterließ keinen Abschiedsbrief, keinerlei Erklärung. Aber mindestens Margaret hätte sie doch ganz gewiß etwas hinterlassen. Und...« Kincaid machte eine kleine Pause, um einen Schluck Bier zu trinken, »sie verabredete sich mit ihrem Bruder, den sie seit sechs Monaten nicht mehr gesehen hatte, für morgen.«

  Der Major hatte nickend zugehört, doch als Kincaid endete, sagte er: »Ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand dem armen Ding etwas antun würde. Sie hätte es doch sowieso nicht mehr viel länger gemacht.« Die blauen Augen in dem runden Gesicht hatten einen überraschend scharfen Glanz.

  Das Erscheinen der Kellnerin, die ihr Essen brachte, gewährte Kincaid Aufschub. Der Major goß Essig über seine Pommes frites und Flaschensoße über sein Omelette. Kincaid krauste unwillkürlich die Nase, als ihn die Essigdünste erreichten. Junggesellengewohnheiten, dachte er. In ein paar Jahren würde er selbst es nicht anders machen.

  »Was meinen Sie, Major? Sie haben sie gekannt, besser vielleicht als ich.«

  Der Major schob einen Bissen Omelette in den Mund. »Ich kann beim besten Willen nicht behaupten, sie gut gekannt zu haben. Wir haben uns immer nur über Alltägliches unterhalten - den Garten, das Fernsehprogramm. Margaret habe ich nie kennengelernt, aber ich hab’ sie natürlich kommen und gehen sehen, und manchmal kam sie zur Treppe heraus, wenn ich im Garten war, und hat mir gewinkt. Ein freundliches junges Ding. Nicht wie Jasmine. Damit will ich nicht sagen«, fügte er hastig hinzu, »daß Jasmine unfreundlich war. Aber sie war verschlossen, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Wie von seiner eigenen Redseligkeit überrascht, hielt der Major plötzlich den Mund und widmete sich seinem Omelette.

  Im Hintergrund zischte und gurgelte die Espressomaschine. Kincaid nahm einen Happen von seinem Omelette und fragte: »Haben Sie Margaret einmal in Begleitung kommen sehen? Mit einem Freund vielleicht?«

  Der Major runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Kann ich nicht behaupten.«

  Kincaid war sicher, daß er sich an Roger erinnert hätte. »Haben Sie Theo, ihren Bruder, einmal kennengelernt?«

  »Nein. Sie hatte ja in den letzten Monaten kaum Besuch. Nur die Pflegerin kam regelmäßig. Die«, sagte er in vertraulichem Ton und neigte sich näher zu Kincaid, »ist wirklich eine gutaussehende Frau.«

  Kincaid vermerkte mit Erheiterung, daß des Majors Leidenschaft für Pflanzen sich nicht auf Rohkost erstreckte - fast die ganze Kresse- und Gurkengarnitur auf seinem Teller war unberührt.

  »Wie war es am Donnerstagabend? Haben Sie gesehen, ob da jemand Jasmine besucht hat?«

  »Da war ich nicht zu Hause. Donnerstags bin ich nie zu Hause. Da hab’ ich Chor.«

  »Sie singen?« fragte Kincaid. Er schob seinen leeren Teller weg und beugte sich mit aufgestützten Ellbogen vor.

  »Seit meiner Kindheit. Ich hab’ vor dem Stimmbruch sogar Preise gewonnen.«

  Kincaid hatte den Eindruck, daß das Gesicht des Majors noch tiefer gerötet war als sonst. Dies also war die andere Leidenschaft seines Lebens. »Das ist ja interessant. Und wo singen Sie?«

  Der Major trank sein Bierglas aus und tupfte sich den Schnauzer mit der Serviette. »In der St. John’s Kirche. Beim Sonntagsgottesdienst. Mittwochs im Abendgottesdienst. Und donnerstags haben wir Probe.«

  »Sind Sie am Donnerstag spät zurückgekommen?«

  »Nein. So gegen zehn, wenn ich mich recht erinnere.«

  »Und haben Sie irgend etwas Ungewöhnliches gehört oder gesehen?«

  Kincaid hielt nicht gerade den Atem an vor Spannung. Solche Fragen mußte er stellen, aber die Antworten fielen selten aufregend aus. Wenn jemand etwas wahrhaft Ungewöhnliches beobachtet hatte, erzählte er das meist gleich von selbst. Kleine Ungereimtheiten hingegen fielen den Leuten oft erst wieder ein, wenn man ihrem Gedächtnis mit Fragen nachhalf.

  Der Major schüttelte den Kopf. »Nichts, nein.«

  Die Kellnerin räumte Kincaids leeren Teller ab und kam gleich mit ihrer Rechnung wieder. Der Geräuschpegel in dem Lokal war ständig gestiegen, und als Kincaid sich jetzt umblickte, sah er, daß alle Tische besetzt waren und an der Tür die Leute Schlange standen, die auf einen Tisch warteten. Widerstrebend trank er den letzten Schluck Bier.

  »Na, dann wollen wir den Massen mal Platz machen.«

  Im Schatten der Polizeidienststelle Hampstead bogen sie nach kurzem Marsch in die Pilgrim’s Lane ein. Kincaid fand es recht ironisch, daß er sich seine Wohnung ausgerechnet in der Nähe dieses Gebäudes gesucht hatte, das von J. Dixon Butler entworfen worden war, dem Architekten, der mit Norman Shaw zusammen New Scotland Yard sein bauliches Gesicht gegeben hatte. In Kincaids Phantasien umwaberten stets Nebelschwaden seine Queen-Anne-Türmchen, und viktorianische Bobbys eilten schneidig zur Rettung armer Opfer herbei.

  Als sie die Carlingford Road erreichten, brach der Major das Schweigen zwischen ihnen und sagte: »Was ist mit dem Dachhasen? Ist für den gesorgt?«

  »Dachhase?« echote Kincaid verständnislos. »Ach so, Sie meinen die Katze. Nein. Nein, ich weiß nicht, was aus dem Tier werden soll. Sie würden wohl nicht...«

  Der Major schüttelte schon den Kopf. »Ich kann die Tiere nicht im Haus haben. Da muß ich dauernd niesen. Und womöglich würde mir der Bursche in meinen Blumenbeeten graben.« Ihm sträubte sich der Schnauzer vor Unwillen, »Aber man muß natürlich etwas tun.«

  Kincaid seufzte. »Ich weiß. Ich werde mich darum kümmern. Gute Nacht, Major.«

  »Mr. Kincaid!« Kincaid, der schon auf der Treppe zur Haustür war, blieb stehen. »Ich glaube, Ihr Nachhaken in dieser Sache ist eher schädlich als hilfreich. Manchmal ist es einfach besser, man weckt schlafende Hunde nicht.«

  Kincaid wanderte ruhelos in seinem Wohnzimmer auf und ab. Es war noch früh, noch nicht einmal neun Uhr. Er war müde, aber wie aufgedreht, unfähig sich auf irgend etwas zu konzentrieren. Er zappte durch das komplette Fernsehprogramm und schaltete den Apparat schließlich mißmutig aus. Keines seiner Bänder, keine seiner CDs konnte ihn locken, ebensowenig die Bücher, die zu lesen er noch keine Zeit gefunden hatte.

  Als er sich dabei ertappte, daß er die Fotografien an seiner Wand anstarrte, drehte er sich um und faßte ganz bewußt den braunen Karton auf seinem Couchtisch ins Auge. Die klassische Vermeidungshaltung, die Weigerung, eine unangenehme Aufgabe anzupacken. Oder, um ehrlicher zu sein, dachte er, die Angst davor, daß Jasmine ihm frisch und schmerzhaft lebendig aus den Seiten ihrer Tagebücher entgegentreten würde.

  Er gestattete sich noch einen kleinen Aufschub - die Zeit, sich eine Tasse Kaffee zu machen. Dann ging er mit der Tasse wieder ins Wohnzimmer und machte es sich im Lichtschein der Stehlampe auf dem Sofa bequem. Er zog den Karton etwas näher zu sich heran und strich mit den Fingern über die blauen Papprücken der Schreibhefte. Eine feine Staubschicht blieb an ihnen haften.

  Wenn er sich schon darauf einlassen mußte, dann wollte er mit der Lektüre wenigstens von vorn anfangen - in den früheren Heften würde die Jasmine, die er kannte, nicht so unmittelbar zu spüren sein; außerdem hatte er bereits einen flüchtigen Blick in das letzte Heft geworfen und nichts auf den ersten Blick Nützliches entdeckt. Er nahm das am stärksten verblichene Heft aus dem Karton und schlug es auf. Das Papier war spröde und vergilbt und roch ein wenig muffig. Kincaid unterdrückte ein Niesen.

  Die Eintragungen begannen im Jahr neunzehnhunderteinundfünfzig. Die Handschrift der zehnjährigen Jasmine war sauber und gewissenhaft, die Aufzeichnungen waren so banal wie befangen: Theos Heldentaten (schon damals war das beschützerische Interesse an dem jüngeren Bruder offenkundig), Schulnoten, eine Tennisstunde, ein Ritt auf dem Pferd der Nachbarn.

  Kincaid blätterte ein Heft durch, dann ein zweites und drittes. Mit den Jahren veränderte sich die kindliche Handschrift, entwickelte sich zu Jasmines charakteristischer, zierlicher Schreibweise. Manchmal lagen Wochen, Monate zwischen einzelnen Einträgen, und wenn sie auch unbefangener wurden, so verrieten sie doch nichts über die Seelenlage der Schreiberin. Er hatte mit der Lektüre des vierten Heftes angefangen, als ein Eintrag vom März sechsundfünfzig ihn aufmerksam machte. Er kehrte noch einmal zum Anfang zurück und las genauer.

  »9. März

  Theos zehnter Geburtstag. Die übliche Feier. Alles wie im letzten Jahr und in den Jahren davor. Wir drei in unseren guten Kleidern am Eßtisch, drückende Hitze, geschlossene Fensterläden, und keiner sagt ein Wort. Der Koch hat einen Kuchen gebacken. Was er sich eben unter einer Geburtstagstorte vorstellt. Scheußlich (er ist immer scheußlich), aber Vater saß nur mit einem Gesicht da, als stünde das Jüngste Gericht vor der Tür, und Theo kicherte nicht einmal. Ich hätte am liebsten laut geschrien.

  Vater hat Theo ein Modellflugzeug zum Selberbasteln geschenkt, und Theo interessiert das natürlich nicht im geringsten. Bestimmt muß ich ihm am Ende helfen, das Ding zusammenzubauen. Man darf Vater schließlich nicht kränken. Ich habe einen Monat lang jeden Tag das Pferd dieser gräßlichen Mrs. Savarkar bewegt, um das Geld für den Tennisschläger zusammenzubringen, den ich Theo geschenkt habe. Ich meine, gegen das Pferd hatte ich ja gar nichts, aber Mrs. S. ist eine richtige Hexe. Immer kommandiert sie einen herum, bloß weil wir >arme Engländer sind.

  Kann ich mich wirklich an die Nacht erinnern, in der Theo zur Welt kam, oder habe ich nur die Geschichten unserer Ayah so oft gehört, daß ich nicht mehr unterscheiden kann, was ich von ihr gehört habe und was ich aus eigener Erfahrung weiß? Ich erinnere mich an lautes Geschrei und an Rauch und den Geruch nach Feuer, aber ich glaube, das alles ist erst später passiert und hat sich nur in meinem Gedächtnis mit der Erinnerung an den Doktor, der an die Tür trommelt, und an die Schreie meiner Mutter vermischt.«

  »22. Mai

  Mr. Patel hat mich in der Schule wieder in den Arm gekniffen. Er geht dauernd im Gang auf und ab, und seine Kleider knistern wie welkes Laub, und die ganze Zeit schaut er uns beim Schreiben über die Schulter. Ich kann es immer spüren, wenn er von hinten kommt. Dann wird mir im Nacken ganz heiß.

  Heute hat er mich am Oberarm gepackt und mir seine Finger ins Fleisch gebohrt und gedrückt, daß ich die Zähne zusammenbeißen mußte, um nicht zu schreien. Er sagte, ich hätte meine Aufgaben nicht ordentlich gemacht, aber das war nur ein Vorwand, um mich nach dem Unterricht dazubehalten, das wissen alle. Ich habe gehört, wie die anderen Mädchen hinter meinem Rücken gekichert haben.

  >Jasmine<, sagte er, als alle weg waren, und zischte das >S< in meinem Namen, daß sich mir die Haare sträubten. »Erinnerst du dich noch an deine englische Mutter, Jasmine? Du brauchst jemanden, der dich führt, Jasmine.< Dann kam er um das Pult herum. Ich preßte mich an den Türpfosten und drückte meine Bücher ganz fest an meine Brust. >Du weißt doch, daß du nicht in die Sonne gehen solltest, nicht wahr? Sonst siehst du gleich aus wie eine Inderin.< Dabei hat er mich angelächelt. Er sah aus wie eine kahlköpfige Schildkröte mit seinem dünnen, sehnigen Hals und seinen Glotzaugen. Ich bin weggerannt, bevor er mich noch einmal anfassen konnte. Ich bin den ganzen Weg bis nach Hause gerannt, und zu Hause habe ich mich übergeben. Ich wollte, ich könnte ihn umbringen.

  Bis ich heimkam waren die Fingerabdrücke auf meinem Arm ganz blau geworden. Ich zog eine langärmlige Bluse an, damit Vater und Theo sie nicht sehen konnten. Mit Vater darüber zu sprechen, hat sowieso keinen Sinn. Ich habe es einmal versucht. Er bekam nur diesen verschwommenen Gesichtsausdruck, als wünschte er, ganz woanders zu sein, und sagte, meine Phantasie ginge mit mir durch.

  Ich weiß, warum Mr. Patel mich nach Mami gefragt hat. Sie glauben, daß ich ein Mischling bin, wegen meiner Haar- und Hautfarbe, und daß Mami in Wirklichkeit gar keine Engländerin war.

  Ich erinnere mich an meine Mutter. Ich erinnere mich an den weichen Stoff ihrer Kleider und wie sie immer nach Rosen geduftet hat. Ich erinnere mich an die Puppen, die sie mir aus England schicken ließ, und die Geschichten, die wir uns über sie ausgedacht haben. >Du mußt eine richtige Engländerin werden, Jasmine«, hat sie immer gesagt, >damit du auch weißt, was sich gehört, wenn wir nach Hause reisen.< Das war das einzige, wovon sie immer gesprochen hat - von der Reise nach Hause. Sie muß hier schrecklich unglücklich gewesen sein. Kann es sein, daß jemand an Heimweh stirbt?«

  »5. Juni

  Theo, die kleine Ratte, hat Vater verraten, daß ich die Schule geschwänzt habe, während er verreist war. Vater setzte seine Unglücksmiene auf und sagte, ich wollte ihm nur das Leben schwer machen, und jetzt müßte er mit dem Direktor sprechen.«

  »30. Juni

  Gestern ist Vater gestorben. Der Arzt sagt, es war sein Herz. Er meinte, es hätte was mit den Fieberkrankheiten zu tun, an denen er leidet, seit er nach Indien kam.

  Er saß beim Abendessen und las Zeitung. Plötzlich sagte er, ihm sei nicht gut, er wirkte irgendwie verwundert dabei, und dann fiel er über dem Tisch zusammen.

  Ich kann es nicht glauben. Was soll aus Theo und mir werden?«