10

 

Das Käsebrötchen, das längst nicht mehr taufrisch gewesen war, lag Gemma schwer im Magen. Sie war nur auf einen Sprung ins Yard zurückgekehrt, um mit Kincaid Informationen auszutauschen und in der Kantine eine Kleinigkeit zu essen.

  Während sie sich jetzt abmühte, den Ford in eine Parklücke zu zwängen, die eine Nummer zu klein war, bedauerte sie es, das Brötchen gegessen zu haben. Bilder von in Muße genossenen Mittagessen in freundlichen kleinen Restaurants liefen vor ihrem inneren Auge ab, als sie den Motor abschaltete und Luft holte. Sie hörte die drängende Stimme ihrer Mutter: »Warum suchst du dir nicht eine erfreulichere Arbeit, Schatz? Eine mit ein bißchen Stil. Du könntest Anwaltsgehilfin werden. Oder auch Friseuse wie deine Schwester.«

  Gemma stieg kopfschüttelnd aus dem Auto und knallte laut die Tür zu, um alle weiteren inneren Ermahnungen abzuwürgen. Dann wollte sie doch lieber bei Käsebrötchen von gestern bleiben. Ein wenig unbedachter als gewöhnlich lief sie zwischen fahrenden Autos hindurch zur anderen Straßenseite und blieb vor dem Eingang zur Bezirksbaubehörde stehen.

  Diese bevorzugte Lage, gleich beim Holland Park, verlieh der Behörde, die in einem gründlich gesäuberten weißen Steingebäude mit glänzend schwarz lackierter Eingangstür untergebracht war, das passende Image. Gemma rückte ihre Umhängetasche zurecht und öffnete die Tür. Im Treppenhaus blieb sie wieder einen Moment stehen und spitzte die Ohren, lauschte der summenden Betriebsamkeit eines vielbeschäftigten Büros - dem Stimmengemurmel und Maschinengeklapper. Rechts von ihr war eine offene Tür. Licht, das durch ein Erkerfenster mit Blick zur Straße hereinströmte, beleuchtete eine junge Frau, die an einem einfachen Schreibtisch saß. Wäre nicht der Telefonhörer gewesen, den sie ans Ohr gedrückt hielt, sie hätte einem Porträt Whistlers entstiegen sein können - ganz in Weiß gekleidet, dunkles Haar, das ein milchweißes Gesicht umrahmte. »Einen Augenblick bitte«, sagte sie und sah Gemma fragend an, ohne den Hörer aufzulegen.

  »Ich hätte gern die Person gesprochen, die das Büro leitet.« Gemma zeigte ihren Dienstausweis.

  Die junge Frau verdrehte achselzuckend die Augen. »Da wenden Sie sich am besten an Mrs. Washburn. Eine Treppe höher, erste Tür rechts«, sagte sie und wandte sich wieder ihrem unterbrochenen Telefongespräch zu. Als Gemma die Tür erreichte, hörte sie die junge Frau mit übertriebener Mattigkeit sagen: »Er könnte wirklich die ganze Nacht durchmachen. Ich bin völlig erschöpft.«

  Du armes Ding, dachte Gemma mit einem Lächeln. Sogar ihre Neugier schien erschöpft zu sein - die meisten Leute fanden Verbrechen interessanter als Sex.

  Sie klopfte, als sie die angegebene Tür erreicht hatte, und hörte sogleich eine scharfe Stimme: »Ja? Was gibt’s denn?«

  Mrs. Washburns gereizte Miene verhieß nichts Gutes. Dank der schwarzgeränderten schweren Brille und des hennaroten Haares wirkten die scharfen Gesichtszüge der älteren Frau noch grimmiger.

  Gemma setzte ihr gewinnendstes Lächeln auf, stellte sich vor und reichte der Frau ihren Dienstausweis über den Schreibtisch. Dann zog sie sich den Besuchersessel heran und setzte sich.

  »Was soll das...«

  »Ich möchte mit Ihnen über Jasmine Dent sprechen, Mrs. Washburn.«

  Einen Moment lang saß Mrs. Washburn offenen Mundes da, schien allen Zorn, dem sie soeben hatte Luft machen wollen, vergessen zu haben.

  Eins zu null für mich, dachte Gemma und fuhr zu sprechen fort, ehe die Gegnerin sich fassen konnte. »Soviel ich weiß, haben Sie sehr eng mit Miss Dent zusammengearbeitet, Mrs. Washburn. Ich hoffe sehr, daß Sie mir weiterhelfen können.«

  Sie lächelte aufmunternd und warf einen Blick auf das Namensschildchen aus Messing, das auf dem Schreibtisch stand. »Beatrice Washburn«, hieß es da in schwarzen Druckbuchstaben. Gemma fragte sich, ob auch Jasmine das Bedürfnis gehabt hatte, ihre Wichtigkeit so sichtbar zu demonstrieren, und wenn ja, was aus dem Namensschild geworden war. Ja, was war überhaupt mit den persönlichen Dingen geschehen, die Jasmine zweifellos hier im Büro gehabt hatte.

  »Ah, ich... Ja, natürlich habe ich mit Jasmine zusammengearbeitet ... wirklich tragisch, ihr Tod, aber ich wüßte nicht, wie ich Ihnen...«

  »Die Umstände von Miss Dents Tod geben uns einige Fragen auf. Wie Sie sicherlich wissen, gehört es zur Routine, in solchen Fällen mit Freunden und Kollegen der Toten zu sprechen.« Gemma neigte sich vertraulich näher. »Da Sie nach ihrem Tod ihre Position übernommen haben, Mrs. Washburn, dachte ich mir, daß Sie über Miss Dents Arbeit und ihre persönlichen Beziehungen hier im Büro am besten Bescheid wissen.«

  Das zu leugnen wäre mit allzu großem Gesichtsverlust verbunden gewesen. Mrs. Washburn schluckte also den Köder. »Ich habe nicht lange bevor Jasmine wegen ihrer Krankheit kündigen mußte hier angefangen. Ich habe sie daher nicht besonders gut gekannt.«

  »Aber sie wird Sie doch angelernt haben?«

  Mrs. Washburn blähte voll verletzter Würde die Wangen. »Ich bin mit weitreichender Erfahrung hierher gekommen. Bevor ich hier angefangen habe, war ich bei...«

  »Aber in einer neuen Stellung gibt es doch immer Dinge, die man nicht weiß und erst lernen muß. Jedes Unternehmen hat seine eigene Art, die Dinge zu erledigen, seine eigene Persönlichkeit gewissermaßen, und Miss Dent war das natürlich alles vertraut.«

  »Ja, sicher, sie hat mir im Notfall geholfen, aber von privater Vertraulichkeit im Dienst hat sie nichts gehalten, und mir war das sehr recht.«

  Mrs. Washburn endete mit so sauerer Miene, daß Gemma nur vermuten konnte, sie hatte bei Jasmine einen Annäherungsversuch unternommen und war zurückgewiesen worden. »Hatte Miss Dent zu jemandem hier eine besondere Beziehung?«

  »Privater Umgang mit den Schreibkräften wird nicht gern gesehen. Ich bin sicher, Jasmine hat das gewußt.«

  Du alte Hexe, dachte Gemma. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie die jungen Frauen im Schreibsaal hinter ihrem Rücken Gesichter schnitten.

  »Wie war ihre Beziehung zu Margaret Bellamy?«

  »Margaret?« fragte Mrs. Washburn, nun wieder gereizt. »Ich glaube, Margaret hat sie einige Male zu Hause besucht, nachdem sie hier aufgehört hatte, aber ich wüßte nicht, daß sie vorher näher befreundet waren.«

  Gemma stand auf. »Ich würde mich gern mit Margaret unterhalten, wenn Sie sie ein paar Minuten entbehren können.«

  »Bitte, gern, wenn Sie sie finden können.« Mrs. Washburn lachte bitter und sah auf ihre Uhr. »Diese Person hat doch immer eine andere Entschuldigung dafür, die Mittagspause zu überziehen und morgens zu spät zu kommen. Jetzt ist sie schon wieder anderthalb Stunden überfällig. So was kann man doch nicht durchgehen lassen. Wenn sie so weitermacht, arbeitet sie bei mir nicht mehr lange, das kann ich Ihnen sagen.«

  »Ich werde auf sie warten«, sagte Gemma, als Mrs. Washburn ihr kein entsprechendes Angebot machte. Sie fand es äußerst merkwürdig, daß die Frau sich nicht einmal danach erkundigt hatte, wieso sich die Polizei für Jasmine Dents Tod interessierte. Man konnte diesen Mangel an Neugier, einer völlig natürlichen menschlichen Eigenschaft, nur als ein Zeichen dafür auffassen, daß die Frau entweder ein Geheimnis hatte oder aber absolut ichbezogen war. »Mrs. Washburn.« An der Tür drehte sich Gemma noch einmal herum. »Wer hat der Behörde eigentlich Jasmine Dents Tod mitgeteilt?«

  Das scharfe Gesicht blieb ausdruckslos. »Ich weiß nicht. Eine der Typistinnen kam herauf und sagte es mir. Carla. Am besten fragen Sie sie selbst.« Sie wandte sich wieder den Papieren auf ihrem Schreibtisch zu, noch ehe Gemma zur Tür hinaus war.

  Gemma folgte dem schwachen Stimmengewirr zum Ende des Korridors, öffnete dort eine Tür und blieb auf der Schwelle stehen. Das Gespräch brach abrupt ab. Zwei junge Frauen saßen an Computern. Ihre Schreibtische waren zusammengeschoben, um den Aktenschränken und Zeichentischen im Raum Platz zu geben. Ein dritter Schreibtisch stand unter dem Fenster. Der Stuhl davor war unbesetzt.

  Die beiden jungen Frauen sahen Gemma an. Ihre bemüht ausdruckslosen Gesichter verrieten, daß sie wußten, wer sie war. Sie hatte die kleine Rezeptionistin also unterschätzt - das Buschtelefon funktionierte doch.

  »Ich suche Margaret Bellamy«, sagte sie harmlos, trat ins Zimmer und schloß die Tür.

  Die Frau, die ihr am nächsten saß, stieß sich auf ihrem Drehstuhl vom Schreibtisch ab und wandte sich ihr zu. »Die ist nicht da.« Sie lächelte zaghaft und zeigte dabei einen angeschlagenen Zahn.

  »Glauben Sie, daß sie bald wieder kommt? Ich werde warten.«

  Die beiden jungen Frauen tauschten einen Blick, dann sagte die erste. »Das kann man ihr nur wünschen. Die alte He...« Mrs. Washburn wird sie sowieso schon zur Schnecke machen.«

  »Oh, sie ist wohl zu spät dran?« Gemma trat zu der ersten Frau und bot ihr die Hand. »Ich bin Gemma James.«

  »Ich bin Carla. Das ist Jennifer.« Ein Nicken in Richtung zu ihrer Kollegin, die bisher noch nichts gesprochen hatte.

  Carla hatte krauses braunes Haar, das sie mit einem Gummiband hochgebunden hatte, und ein kantiges, sympathisches Gesicht. Ihre Beine, die unter einem Minirock aus Latex gut sichtbar waren, waren äußerst stämmig. Die andere Frau, Jennifer, schien, wie Gemma es für sich zu nennen pflegte, mit dem Untadeligkeitsgen ausgestattet. Es gab einfach nichts an ihr auszusetzen. Manche Frauen wurden mit solcher Perfektion geboren, und wenn man nicht zu ihnen gehörte, hatte es überhaupt keinen Sinn zu versuchen, diese Vollendung zu erreichen: Makellose Haut, vollkommen geschnittene Gesichtszüge, eine Mannequinfigur, Haar, das niemals widerspenstig war, Kleider nach der letzten Mode. Wenn sie jetzt auch noch sprechen könnte, wäre alles bestens, dachte Gemma und nahm sich ihre Bissigkeit gleich übel.

  »Haben Sie eine Ahnung, wo sie sein könnte?« Gemma hockte sich auf die Kante eines niedrigen Aktenschranks und sah auf ihre Uhr. Gleich halb zwei.

  Wieder sahen die beiden jungen Frauen einander an, und diesmal hatten sie wohl ein stummes Signal getauscht, denn jetzt sprach Jennifer. »Vielleicht mit ihrem Freund unterwegs.« Sie sprach mit einem leichten Akzent - West-England, dachte Gemma und ihre blauen Augen zeigten überraschende Intelligenz. »Sie war heute morgen völlig erledigt. Wegen Miss Dent. Sie sind doch wegen Miss Dent hier, stimmt’s?«

  Ja, das Buschtelefon funktionierte nicht nur; es funktionierte auf wunderbare Weise. »Indirekt«, antwortete Gemma, die sich nicht festlegen wollte. »Kennen Sie Margarets Freund?«

  Die beiden Frauen lachten. »Roger?« sagte Jennifer. »Soviel Glück sollten wir mal haben.« Sie warf einen Blick auf Carla, die ein Gesicht zog. »Nein, im Ernst«, fuhr sie fort, »ich war dabei, als sie ihn kennengelernt hat.«

  Gemma verschränkte die Arme und neigte den Kopf leicht zur Seite. Sie sah aus, als hätte sie den ganzen Tag Zeit. »Tatsächlich? Wann war denn das?«

  Jennifer dachte nach und krauste dabei ihre schöne Stirn. »Im Oktober, glaube ich. Ich habe sie mal abends mitgenommen, als ich ausgegangen bin. Sie hat mir ein bißchen leid getan, wissen Sie.« Wieder warf sie Carla unter langen Wimpern einen Blick zu, und Carla nickte zustimmend. »Sie hat ja nie etwas unternommen. Abends hat sie sich immer nur mutterseelenallein in ihrem gräßlichen möblierten Zimmer verkrochen. Und da hab’ ich mir gedacht... na ja, Sie wissen schon.«

  »Das war wirklich sehr nett von Ihnen.« Gemmas Stimme war voll warmen Lobs. »Und was passierte an dem Abend?«

  Jennifer lächelte. Ihre Zähne waren weiß und ebenmäßig und so klein wie die eines Kindes. »Nichts. Wir saßen irgendwo an der Bar, und kein Mensch hat auch nur ein Wort mit uns gewechselt. Man hätte echt meinen können, wir hätten die Beulenpest oder so was. Und dann kreuzt plötzlich dieser wahnsinnig gutaussehende Mann auf. Ich meine, wirklich gutaussehend, wie ein...« Jennifer leckte sich die vollkommen geformten Lippen, während sie nach einem anschaulichen Vergleich suchte, »... wie ein amerikanischer Fernsehstar oder so was. Mann, dachte ich, nichts wie ran an den Speck.« Sie wackelte ein klein wenig mit den Schultern. »Und dann baggert er doch tatsächlich Margaret an.« Selbst jetzt noch schien sie konsterniert und schüttelte ungläubig den Kopf.

  Jennifers Worte verrieten weniger Eigendünkel als Ungläubigkeit darüber, daß ihre Welt so auf den Kopf gestellt werden konnte. Männer drehten die Köpfe nach Jennifer und nicht nach Margaret. Man trat die Naturgesetze nicht mit Füßen.

  »Im Grund kannst du froh sein«, bemerkte Carla. »So eine tolle Eroberung ist der gute Roger nun auch wieder nicht.«

  »Und wieso nicht?« fragte Gemma.

  Diesmal sah Carla ihre Freundin fragend an, und die nickte kaum merklich. Carla senkte den Blick, schien immer noch zu zögern, zog ihren Latexrock ein wenig weiter in Richtung zu ihren Knien. »Na ja... er geht eigentlich nie mit ihr aus, gibt keinen Penny für sie aus. Er kommt nur zu ihr in ihr möbliertes Zimmer und... Sie wissen schon.« Carlas Gesicht wurde rot bis unter die Haarwurzeln. Sie sah Gemma nicht in die Augen.

  »Und woher wissen Sie das?« fragte Gemma leise. Sie schob ihr Gesäß, das ganz taub geworden war, ein bißchen höher auf den Aktenschrank. »Hat Margaret Ihnen das erzählt?«

  »Nein.« Carla war immer noch blutrot. »Aber an manchen Tagen... man sieht es ihr einfach an. Ich weiß, ich hätte nichts sagen sollen...«

  »Lassen Sie nur«, fiel Gemma ihr ins Wort, um ihr keine Zeit zu lassen, sich über ihr unloyales Verhalten Gedanken zu machen. »Eigentlich interessiert Miss Dent mich mehr. Waren sie und Margaret schon befreundet, als sie noch hier gearbeitet hat?«

  Als Jennifer nichts sagte, antwortete Carla. »Nein. Miss Dent war immer fair - ganz im Gegensatz zu gewissen anderen Leuten.« Sie sandte einen finsteren Blick in Richtung zu Beatrice Washburns Büro. »Sie war auch immer freundlich, auf eine distanzierte Art und Weise, aber sie hat nie mit uns zusammen Teepause gemacht oder so was. Erst nachdem sie hier aufgehört hatte, fing Margaret an, sie zu besuchen. >Ich war gestern bei Jasmine<, sagte sie oft und blies sich dabei auf, als wäre sie was Besseres als wir, nur weil sie Miss Dent Jasmine nannte.«

  »War das, bevor sie Roger kennengelernt hatte, oder später?«

  Die beiden jungen Frauen sahen einander überlegend an. »Vorher«, antwortete Jennifer und Carla nickte.

  »Ja, stimmt. Miss Dent ist Ende August gegangen, und nicht lange danach...«

  Die Tür öffnete sich. Carla verstummte, als hätte man ihr das Wort abgeschnitten, und wurde wieder blutrot. Jennifer setzte eine ausdruckslose Miene auf und wandte sich wieder ihrer Schreibmaschine zu.

  Eine Frau hastete atemlos ins Zimmer. Ihre helle Haut war gerötet vor Anstrengung, ihr feines, braunes Haar war wirr, ein Zipfel ihrer Bluse hing aus dem Rock.

  »Tut mir leid, daß ich mich verspätet habe. Ich wollte nicht...« Das Bündel Papiere, das sie in der Hand hielt, fiel zu Boden, als sie Gemma bemerkte. Sie bückte sich, schob die Papiere ungeschickt zusammen und hielt den Blick beharrlich gesenkt.

  »Sie sind Margaret«, sagte Gemma, eine Tatsache festellend. Ein blaßblauer Blick durch helle Wimpern, und schon senkte Margaret den Kopf wieder zu ihren Papieren. Gemma begriff, daß Margaret Bellamy große Angst hatte. »Ich bin eine Freundin von Duncan Kincaid. Können wir hier irgendwo in Ruhe eine Tasse Tee trinken?«

 

»Mrs. Washburn bringt mich um. Die schmeißen mich bestimmt raus.« Margaret rutschte nervös auf der roten Plastiksitzbank hin und her.«

  »Keine Sorge. Ich mach’ das schon mit ihr. Sie können sich drauf verlassen.« Gemma neigte sich über den Tisch und berührte Margarets Hand. Eine kräftige Hand mit kurzen Fingern und abgeknabberten Nägeln. Sie war eiskalt und feucht, und Gemma spürte ein feines Zittern.

  Eine gehetzte Kellnerin knallte die Tassen so heftig vor ihnen auf den Resopaltisch, daß der Tee in die Untertassen schwappte. Gemma war eingefallen, daß sie an dem Café auf dem Weg zur Baubehörde vorbeigekommen war. Die Atmosphäre wirkte nicht gerade beruhigend, aber Margaret schien den Lärm und den durchdringenden Geruch nach heißem Fett, der aus der Küche hereinwehte, nicht zu bemerken.

  »Margaret...«

  »Jetzt sitz ich wirklich in der Patsche, nicht?« Margaret sprach so leise, daß Gemma sich vorbeugen mußte, um die Worte zu verstehen. »Roger sagt, ich könnte ins Gefängnis kommen. Und es ist allein meine Schuld. Ich hätte Ihrem Freund nichts sagen sollen...«

  »Ich glaube...«, Gemma schwieg einen Moment, während sie große Mengen Zucker und Milch in ihren Tee gab, um ihm den Spülwassergeschmack zu nehmen, »wenn Sie die Wahrheit gesagt haben, dann haben Sie genau das Richtige getan. Duncan möchte nur sichergehen, daß es wirklich Jasmines eigener Entschluß war.«

  Margaret schüttelte mehrmals den Kopf. »Ich kann es immer noch nicht glauben, daß sie mich belogen haben soll. Ich dachte, ich hätte es inzwischen akzeptiert, aber das stimmt nicht. An dem Tag... ich war so erleichtert, als sie sagte, sie hätte es sich anders überlegt.« Sie sah Gemma an. »Glauben Sie, ich habe mir nur vorgemacht, daß es ihr Ernst war? Weil ich es eben gern hören wollte?«

  Aus dem Augenwinkel sah Gemma die Kellnerin mit zwei zerfledderten Plastikspeisekarten kommen. Sie hob die Hand und bedeutete der Frau zu gehen, ohne den Blick von Margarets Gesicht zu wenden. »Wenn Sie solche Angst hatten, warum haben Sie dann überhaupt eingewilligt, ihr zu helfen?«

  »Ach, anfangs war das etwas anderes. Ich habe mich wie eine Auserwählte gefühlt.« Margaret setzte sich etwas gerader und lächelte zum erstenmal. »Daß ein Mensch seine letzten Minuten auf dieser Erde mit mir verbringen wollte, daß er solches Vertrauen zu mir hatte - und ausgerechnet Jasmine! Sie war anderen gegenüber immer sehr zurückhaltend. Niemand hatte mir je solches Vertrauen entgegengebracht. Verstehen Sie?«

  Gemma nickte nur.

  »Und außerdem war es aufregend. Das Planen und Organisieren. Und daß ich ein Geheimnis hatte, von dem kein Mensch etwas wußte. Ein Geheimnis über Leben und Tod.« Margaret lächelte wieder, als sie sich jener Zeit erinnerte. »Manchmal hab’ ich mir vorgestellt, ich würde es allen im Büro sagen, aber ich wußte natürlich, daß ich das nicht tun konnte. Es war viel zu persönlich, nur zwischen Jasmine und mir.« Sie trank einen Schluck Tee und zog ein Gesicht wegen des bitteren Geschmacks. Zum erstenmal blickte sie in ihre Tasse.

  »Und dann?«

  Margaret zuckte die Achseln. »Der Tag kam immer näher. Ich bekam es mit der Angst zu tun.« Sie warf Gemma einen flehentlichen Blick zu. »Anfangs sah sie so gut aus. Ihr Haar war nach den Behandlungen wieder nachgewachsen. Ich wußte, daß sie leicht müde wurde, aber eigentlich wirkte sie gar nicht wie eine Kranke. Dann wurde sie immer dünner. Und jeden Tag wurde sie ein bißchen schwächer. Jeden Tag bat sie mich irgendeine Kleinigkeit für sie zu tun, die sie am Vortag noch selbst hatte tun können. Dann wurde der Brustkatheter gelegt. Sie wurde auf flüssiges Morphium gesetzt, auch wenn sie niemals über die Schmerzen sprach.«

  Diesmal machte Gemma die Kellnerin mit einem Blick auf sich aufmerksam und sagte beinahe lautlos: »Heißes Wasser bitte.« Das Café begann sich zu leeren, und der Lärm hatte soweit abgenommen, daß sie Margarets leise Stimme ohne Anstrengung hören konnte. Als die dampfende Kanne gebracht wurde, goß Gemma ohne zu fragen heißes Wasser in Margarets zur Hälfte geleerte Tasse und lehnte sich dann abwartend wieder zurück.

  »Sie hat nie einen Zeitpunkt festgelegt«!, fuhr Margaret fort, als hätte es keine Unterbrechung gegeben. Sie hielt den Blick auf ihre Hände gerichtet, die die heiße Teetasse umschlossen hielten. »Langsam begann mir davor zu grauen - jeden Tag, wenn ich sie besuchte, dachte ich, ist das wohl heute der Tag? Wird sie heute sagen, ich bin bereit, Margaret, tun wir es? Ich konnte kaum noch essen. Mir war dauernd übel. Ich fing an, darüber nachzudenken, wie es sein würde, wenn ich ihr die Plastiktüte über den Kopf ziehen mußte, weil das Morphium nicht wirkte.

  Eines Tages dann, als ich kam, wirkte sie sehr ruhig, gar nicht so rastlos wie sonst. Ich dachte, sie hätte vielleicht die Morphiumdosis erhöht. Dann sagte sie auf einmal, >Ich werde meinen fünfzigsten Geburtstag nicht mehr erleben, Meg. Es hat keinen Sinn.< Und da wußte ich, daß sie ihren Entschluß gefaßt hatte.«

  Gemma trank einen Schluck von ihrem verdünnten Tee und wartete. Als Margaret sich in Schweigen hüllte, fragte sie behutsam: »Hat sie Ihnen ein festes Datum genannt?«

  »Den Tag vor ihrem Geburtstag. Ich habe nachts wachgelegen und mir vorgestellt, wie es sein würde, wenn sie stirbt. Wie sie aussehen würde. Woran ich merken würde, daß es vorbei ist. Ich konnte es nicht aushalten. Und ich konnte es ihr nicht sagen.«

  Als Margaret aufblickte, fand Gemma ihre Augen so gerötet und verschwollen, als hätte sie tagelang geweint. »Aber Sie haben es ihr dann doch gesagt?«

  »Es war der schlimmste Tag meines Lebens. Dachte ich damals jedenfalls. Ich hätte nicht gedacht, daß es noch schlimmer kommen könnte.« Margaret wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »In der Arbeit war ich fast den ganzen Tag nur in der Toilette, weil ich mich dauernd übergeben mußte. Ich nahm mir fest vor, es ihr sofort beim Kommen zu sagen.« Sie lächelte ironisch. »Sie ließ mich nicht einmal ausreden. >Mach dir keine Sorgen, Meg<, sagte sie. >Ich weiß nicht, ob ich den Mut gefunden oder verloren habe, aber ich habe mich entschlossen, bis zum bitteren Ende durchzuhalten.<«

  »Und wieso haben Sie ihr geglaubt?« fragte Gemma. »Wieso dachten Sie nicht, sie wolle sie nur entlasten?«

  Margaret krauste die Stirn, während sie über die Frage nachdachte. »Ich weiß nicht, ob ich es genau erklären kann. Es war nichts... nichts Angespanntes mehr da. Keine Anstrengung, keine Aufregung. Verstehen sie?«

  Gemma ließ es sich durch den Kopf gehen. »Ja, ich glaube schon. Sie hat Sie nicht gebeten zu bleiben?«

  »Nur ein Weilchen. Ich habe alles getan, was ich auch sonst immer für sie tat - die Katze gefüttert, ein bißchen aufgeräumt. Dann bin ich zu dem indischen Restaurant gegangen und habe ihr zum Abendessen ein Curry geholt. Sie konnte nicht mehr viel essen, aber sie hat sich immer noch bemüht.«

  »Margaret«, sagte Gemma vorsichtig, »hat Jasmine eigentlich jemals mit Ihnen darüber gesprochen, was Beihilfe zum Selbstmord juristisch bedeutet?«

  Margaret nickte eifrig. »Sie sagte, solange ich sie nicht berühren oder ihr etwas eingeben würde, könnte mir nichts passieren. Außerdem dachten wir ja, daß kein Mensch etwas merken würde. Jasmine sagte, wir würden dafür sorgen, daß es natürlich aussieht - sie wollte keine Komplikationen.«

  Hatte Jasmine es Margaret nur leicht machen wollen? War ihre Gelassenheit an diesem Tag Entschlossenheit entsprungen und nicht Hinnahme? War sie eine so geschickte Lügnerin gewesen, daß sie die Menschen, die sie am besten kannte, so leicht hinters Licht führen konnte? Und wenn sie gelogen hatte, warum? Gemma dachte an das junge Mädchen auf dem Foto, mit ihrer zarten Schönheit und dem verschlossenen, beinahe geheimnisvollen Gesicht. Eine kluge Frau, eine Frau, die planen und organisieren konnte - war ihre Verabredung mit Theo für den Sonntag nichts weiter gewesen als eine überflüssige Inszenierung? Gemma schüttelte den Kopf. Nach dem, was Gemma über Jasmine wußte, konnte sie sich das nicht vorstellen.

  Eine Frage gab es, die sie Margaret noch nicht gestellt hatte. »Jasmine hat ein Testament hinterlassen, Meg.« Gemma gebrauchte absichtlich die abgekürzte Form des Namens, die Jasmine gewählt hatte. »Hat sie Ihnen darüber etwas gesagt?«

  Margaret starrte in ihre leere Teetasse, als könnte sie die Antwort im Satz finden.

  Gemma wartete schweigend, ohne sie zu ermuntern, ohne die Spannung zu durchbrechen, die sich aufbaute.

  »Wir haben gestritten.« Margarets Fingerspitzen wurden weiß, so fest drückte sie sie gegen die Tasse. »Ich habe ihr gesagt, es sei furchtbar unfair, aber sie wollte nichts davon hören. Sie sagte, für Theo hätte sie schon getan, was sie konnte. Aber ich wollte nicht von ihrem Tod profitieren. Es war ein schreckliches Gefühl - als hätte ich sie für einen Preis gemocht.« Sie sah Gemma an, und die Tränen schossen ihr in die Augen. »Das verstehen Sie doch, nicht wahr?«

  Gemma griff über den Tisch und legte ihre Hände auf die Margarets. »Haben Sie irgend jemandem von dem Testament erzählt, Meg?« fragte sie ruhig. »Ganz gleich, wem.«

  Margaret riß ihre Hand zurück und hätte beinahe ihre Tasse umgestoßen. »Nein! Natürlich nicht. Ich habe keinem Menschen was davon gesagt.«

  Sie packte Handtasche und Strickjacke zusammen und schob ihre Tasse weg. Gemma roch den beißenden Geruch der Angst.