Penelope MacKenzie warf einen verstohlenen Blick in das Wohnzimmer des Apartments, in dem ihre Schwester Emma mit ihrem Vogelkundeheft saß und ganz in ihre Notizen vom Tage vertieft zu sein schien. Mit einem erleichterten Aufatmen machte Penny es sich vor dem Schlafzimmerfenster gemütlich. Noch ein paar Minuten ohne Forderungen, noch ein paar Minuten Schonung vor der fürsorglichen Beaufsichtigung ihrer Schwester.
Vor dem Tod ihres Vaters war alles anders gewesen. Da war Penny noch nicht vergeßlich gewesen; höchstens ab und zu ein bißchen zerstreut. Aber seit nun die letzte lange Krankheit ihres Vaters vorüber war, schienen einige der zerbrechlichen Verbindungen zwischen Denken und Handeln sich einfach aufzulösen.
Erst letzte Woche hatte sie einen Topf Wasser auf den Herd gestellt und war dann ins Wohnzimmer gegangen, um sich ein Buch zu holen. Als ihr der Topf wieder einfiel, war das ganze Wasser bereits verdunstet, der Boden des Topfs war in der Mitte geschmolzen, und die Masse war in einem silbrigen Strom über den Herd geflossen. Und wenig später hatte sie die Reste vom Sonntagsbraten ins Backrohr geschoben, anstatt sie in den Kühlschrank zu stellen. Emma war wütend gewesen, als sie es am nächsten Tag entdeckt hatte und den Braten wegwerfen mußte.
Aber das waren nur Kleinigkeiten. Penny dachte nicht gern an den Tag, an dem sie zum Einkaufen ins Dorf gegangen war, ihre Besorgungen erledigt und dann gemerkt hatte, daß sie nicht mehr wußte, wie sie nach Hause kam. Statt der Erinnerung an den bekannten Weg durch Ded-ham und danach den Hügel hinauf zum Ivy Cottage war in ihrem Hirn nur Leere gewesen.
In Panik flüchtete sie sich in die vertraute Wärme der Teestube ihrer Freundin Mary. Dort saß sie und schwitzte Blut, plauderte und trank heißen, süßen Tee, während sie versuchte, so zu tun, als hätte sich in ihrer Welt nicht gerade ein gähnender Abgrund aufgetan. Als sie endlich einen Nachbarn vorüberkommen sah, lief sie ihm nach und fragte atemlos: »Gehen Sie auch nach Hause, George? Dann gehen wir doch gleich zusammen.« Beim Gehen kehrte die Vertrautheit mit der Umgebung zurück und füllte das Vakuum, aber die Furcht hatte sich für immer in ihrem Inneren niedergelassen. Sie sagte keinem Menschen etwas davon, vor allem nicht Emma.
Vielleicht brauchte sie nur einen Urlaub, zwei Wochen ohne Pflichten und Verantwortung. Sie hatte lang genug dazu gebraucht, Emma davon zu überzeugen, daß sie nach den Jahren mit Vater Erholung verdient hatten. Und jetzt hatten sie ja sein Geld, jetzt konnten sie tun, was ihnen beliebte. Sie selbst hatte die Broschüre über das timesharing-Hotel im Reisebüro im Dorf entdeckt. Und Followdale war wunderschön - genauso schön, wie sie es sich vorgestellt hatte.
»Na, träumst du wieder mal, Pen?« Sie fuhr zusammen, als sie die Stimme ihrer Schwester hörte. »Komm, beweg dich. Wenn wir uns nachher in Ruhe für die Party umziehen wollen, müssen wir gleich einkaufen gehen.« Emma nahm ihre wasserdichte Jacke aus dem Schrank und begann mit ihrer nüchternen Resolutheit, sich fertigzumachen.
»Ja, Emma, ich komme«, antwortete Penny. Es war nicht nötig, Emma ungeduldig zu machen oder, schlimmer noch, ihre Nerven zu strapazieren, bis sie anfing, in diesem ihr völlig wesensfremden Ton sanfter Geduld zu sprechen. Penny rieb sich mit den Fingerspitzen die Stirn, als könnte ein Glätten der äußeren Linien ihrem Gesicht den gewohnten Ausdruck ruhiger Heiterkeit wiedergeben, und lächelte strahlend, als Emma sich nach ihr umdrehte.
... achtundzwanzig... neunundzwanzig... dreißig... Hannah Alcock saß vor dem Spiegel und zählte die Bürstenstriche. Merkwürdig, dachte sie, wie hartnäckig Kindergewohnheiten waren. Sie wußte keinen logischen Grund dafür, warum man sein Haar jeden Tag mit hundert Bürstenstrichen pflegen sollte, aber sie brauchte nur einen Moment die Augen zu schließen, und schon konnte sie sich in ihrem Nachthemd vor ihrem alten Toilettentisch sitzen sehen, wie sie die Bürste in gleichmäßigem Rhythmus durch ihr langes braunes Haar zog, und konnte aus dem Flur die Stimme ihrer Mutter hören: »Hannah, Kind, vergiß nicht, dir die Haare zu bürsten.«
All das war lange her - fast dreißig Jahre waren seit dem Tag vergangen, an dem sie sich das Haar, das ihr bis zur Taille reichte, plötzlich abgeschnitten hatte. Wie ein Schleier hatte es auf ihrem Rücken gelegen, ein sattes, schimmerndes Kastanienbraun mit rotem Glanz, der ganze Stolz ihrer Mutter, und sie hatte es brutal in Höhe ihres Kinns abgeschnitten.
Obwohl sie in den folgenden Jahren ihr Haar immer kurz getragen hatte, hatte sie an der Gewohnheit, es täglich zu bürsten, festgehalten. Ein albernes Ritual, das sie mit der Pubertät hätte ablegen sollen, aber wenn sie nervös war wie jetzt, fand sie es auf eigenartige Weise entspannend. Ihre Bauchmuskeln entspannten sich, während sie im Rhythmus mit den Bürstenstrichen atmete, und als sie später die Bürste mit dem silbernen Rücken neben den dazu passenden Spiegel legte, fühlte sie sich dem kommenden Abend besser gewachsen.
Die Cocktail-Party hatte schon vor einer Viertelstunde angefangen; wenn sie sich nicht beeilte, würde ihr Zuspät-kommen unhöflich wirken. Dennoch fuhr sie fort, sich im Spiegel zu betrachten. Ein apartes Gesicht, hatte sie sich angewöhnt zu denken, nachdem sie den Mädchenwunsch nach konventionellem hübschen Aussehen abgelegt hatte. Diese gefälligen, runden Blondinen, die sie so beneidet hatte, warenjetzt verblichen, ihre Haut war schwammig, ihr Haar gesträhnt und getönt, um das langsam überhandnehmende Grau zu verdecken. Ihr eigenes Haar, gepflegt und von einem teuren Friseur geschnitten, war nur an den Schläfen leicht ergraut, und der kräftige Knochenbau ihres Gesichts, den sie gehaßt hatte, verlieh ihren Zügen jetzt eine Individualität, die fesselte.
Seit Jahren schon kümmerte sie die Meinung anderer nicht mehr. Sie war erfolgreich, selbstsicher, gelassen, und sie hatte geglaubt, nichts könnte ihr mühsam errungenes inneres Gleichgewicht je wieder erschüttern. Bis dann diese merkwürdigen Regungen des letzten Jahres sich bemerkbar gemacht hatten und so heftig geworden waren, daß sie schließlich gar nicht mehr anders konnte, als etwas zu unternehmen, was sich vielleicht als nicht wiedergutzumachende Torheit entpuppen würde.
Sie hatte dieses persönliche Zusammentreffen mit einer Sorgfalt geplant, die sie dem anspruchsvollsten Experiment gewidmet hätte. Sie hatte einen Privatdetektiv engagiert, um Details seines Lebens in Erfahrung zu bringen, sie hatte sich in dieses timesharing-Projekt für dieselbe Woche eingekauft - und jetzt zitterte sie plötzlich vor Aufregung und Lampenfieber wie das schüchterne Schulmädchen, das sie einmal gewesen war.
Was hatte sie denn zu verlieren? Vielleicht würde die Woche damit vergehen, daß sie in den Korridoren aneinander vorübergingen, einen Gruß, vielleicht ein paar Worte wechselten, und er dann abreiste, ohne sich ihres Namens oder ihres Gesichts zu erinnern. Das konnte doch nun wirklich nicht so schlimm sein.
Vielleicht würden sie aber auch Freunde werden. Weiter wollte sie nicht denken - was sie zu ihm sagen, wie er reagieren würde. Der heutige Abend mit der Möglichkeit, sich mit ihm bekannt zu machen und einige Belanglosigkeiten zu tauschen, reichte für den Anfang.
Sie stand auf, nahm im Wohnzimmer ihre Handtasche und ging.
Duncan Kincaid lehnte am Geländer seines Balkons und gestand sich ein, daß er überhaupt keine Lust hatte, sich eine Krawatte umzubinden und hinunterzugehen, um den ganzen Zirkus mitzumachen, den die gesellschaftlichen Formen verlangten. Sein vorheriger Energieschub war einer kriechenden Lethargie gewichen.
Es wäre so schön, sich eine Kleinigkeit zu essen zu machen und sich dann mit dem abgegriffenen Taschenbuch - Jane Eyre -, das er in der Schublade des Nachttischs gefunden hatte, auf dem Sofa auszustrecken. Die Eier, der Schinken und das frische Vollkornbrot, die er im Dorf gekauft hatte, reichten für einen geruhsamen Abend.
Er hatte vor dem Regal mit den Keksen gestanden, als eine mädchenhafte Stimme hinter ihm ihn veranlaßt hatte, sich herumzudrehen. »Sie müssen der neue Gast sein. Wir sind schon so gespannt darauf, Sie kennenzulernen.«
Vor ihm stand eine zierliche Frau in einem voluminösen, schottisch karierten Cape. Sie war vielleicht sechzig, mit feinem, wirr abstehendem grauen Haar, das ein schmales Gesicht mit zwei außergewöhnlich blauen Augen umrahmte. Unter dem Saum des Capes sahen altmodische Schnürstiefel hervor.
»Wir waren doppelt gespannt, als Cassie uns erzählte, daß Sie Kincaid heißen. Ein Schotte wie wir, dachten wir - wir sind nämlich MacKenzies. Unser Großvater hatte zu seiner Zeit einen großen Besitz in Perthshire.« Sie sprudelte die Worte hervor, ohne sich zum Atemholen Zeit zu nehmen. »Genauso muß es damals gewesen sein. Ich meine, wie es jetzt in Followdale ist. Ich kann mir richtig vorstellen ...«
Kincaid unterbrach sie erheitert: »Sie leben jetzt nicht mehr in Schottland?«
»O nein. Unser Vater - wissen Sie, es waren so viele Söhne da, daß er einen Beruf ergreifen mußte. Er nahm, als er noch ein relativ junger Mann war, eine Stellung in Essex an. Er war vierzig Jahre lang Pastor in Dedham, ehe er in den Ruhestand ging. Aber das alles kommt mir jetzt so weit entfernt vor.« Sie sah mit einem etwas wehmütigen Lächeln zu ihm auf. »Wir wohnen immer noch dort, Emma und ich, obwohl natürlich andere Leute in das alte Pfarrhaus eingezogen sind. Wir züchten Ziegen. Wunderbare Tiere, finden Sie nicht auch? So sauber, und Ziegenmilch und -käse sind heutzutage sehr gefragt. Unser Vater konnte sich allerdings nie dazu durchringen, das gut zu finden. Nun ja. Und Sie, Mr. Kincaid? Woher kommt Ihre Familie?«
»Ich bin Immigrant in der zweiten Generation, genau wie Sie. Mein Vater zog von Edinburgh nach Cheshire, ehe ich auf der Welt war, und heiratete dann eine Engländerin. Meine Herkunft ist also ziemlich gesprenkelt. Und...«
»Ich bin Emma McKenzie«, unterbrach die Frau, die Kincaid an der Theke beim Bezahlen gesehen hatte. »Meine Schwester Penelope.« Sie schüttelte ihm mit kräftigem Druck die Hand. »Guten Tag.«
Mit ihrem glatten grauen Bubikopf, der männlich wirkenden Windjacke und dem strengen Gesichtsausdruck erinnerte sie Kincaid an seinen Lehrer in der sechsten Klasse. Sie hatte einen Feldstecher um den Hals hängen.
»Ich kann mir nicht denken, daß Mr. Kincaid unsere ganze Familiengeschichte hören möchte, Penny. Außerdem müssen wir jetzt gehen, wenn wir rechtzeitig zu der Party kommen wollen.« Emma nickte ihm zu und schob ihre Schwester recht grob in Richtung Tür.
»Miss MacKenzie«, rief Kincaid, als sie schon fast draußen waren. »Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen. Vielleicht sehen wir uns bei der Party.« Er wurde mit einem strahlenden Lächeln belohnt.
Lautes Klopfen an der Tür riß Kincaid aus seinen Gedanken, und er wurde sich plötzlich bewußt, daß es auf dem Balkon kühl geworden war. Er ging hinein und öffnete die Tür des Apartments. Sebastian Wade stand draußen, die Faust schon erhoben, um ein zweites Mal zu klopfen.
»Entschuldigen Sie«, sagte Wade, »manchmal geht mein Enthusiasmus mit mir durch. Ich bin gekommen, um mich Ihnen als Begleiter zu der kleinen Party anzubieten und um Ihnen das Haus zu zeigen, wenn Cassie das noch nicht getan haben sollte.«
»Sie hat es mir zwar versprochen, aber es ist nichts daraus geworden. Ja, ich würde mir das Haus sehr gern ansehen.«
»Wenn Sie wüßten, was für ein Genuß auf Sie wartet! Landleben der gehobenen Klasse mit allem modernen Komfort. Wollen Sie so gehen, wie Sie sind, der sportliche Landjunker im Freizeit-Look?« Er musterte Kincaids Hemd mit dem offenen Kragen und die Kordhose.
»Nein, warten Sie, ich hole mein Jackett«, antwortete Kincaid, der sah, daß ihm die Entscheidung abgenommen worden war. Er war bereit, sich treiben zu lassen.
»Ihr Apartment«, sagte Sebastian in spöttischer Reiseleiterimitation, »heißt Sutton-Suite, weil Sie von Ihrem Balkon aus den Blick auf Sutton Bank haben. Originell, nicht wahr? Die Apartments haben alle so unglaublich einfallsreiche Namen. Das ist sehr viel persönlicher, hat so den heimeligen Touch, wie wenn jemand seine Doppelhaushälfte im dichtbesiedelten Vorort >Bellevue< nennt. Direkt unter Ihnen befindet sich die Thirsk-Suite, derzeit Eigentum unseres aufstrebenden jungen Abgeordneten Patrick Rennie und seiner Gemahlin Marta mit dem ewigen Pferdeschwanz und der schwarzen Samtschleife. Sehr schick. Sie haben hier mehrere Wochen, über das Jahr verteilt.«
Kincaid band vor dem Spiegel im Wohnzimmer die Krawatte, schlüpfte insjackett und klopfte auf die Taschen, um zu prüfen, ob er Brieftasche und Schlüssel mit hatte.
»Das Apartment neben dem Ihren«, fuhr Sebastian fort, als sie die Tür hinter sich geschlossen hatten und die drei Stufen zum Hauptkorridor hinunterstiegen, »das Rich-mond, wird seit heute morgen von Hannah Alcock bewohnt, einer Wissenschaftlerin, die sehr professionell und sehr tüchtig aussieht. Außerdem recht attraktiv, auf eine etwas knochige Art, wenn man für intelligente Frauen was übrig hat.« Er warf Kincaid einen Blick blitzender Boshaftigkeit zu.
»Sie nicht?«
»O doch, ich finde viele Frauen vom rein ästhetischen Standpunkt aus attraktiv«, antwortete Sebastian in dem zweideutigen Ton, an den Kincaid sich schon zu gewöhnen begann. »So, diese Tür hier, unmittelbar rechts von Ihnen, führt auf den Balkon oberhalb des Swimming-Pools hinaus.« Er öffnete sie und ließ Kincaid den Vortritt.
Feuchtigkeit und scharfer Chlorgeruch wehten Kincaid entgegen, und sein erster Eindruck, als er die kleine Galerie betrat, war der eines Südseeparadieses en miniature. Der Boden war mit glasierten roten Ziegeln gepflastert, grüne Pflanzen wucherten überall, und über ein schwarzes schmiedeeisernes Gitter hinweg konnte man unten das Wasser sehen.
»Genial, finden Sie nicht? Ein Ausblick, von dem aus Sie unsere Gäste beobachten können, wie sie sich fröhlich im Pool tummeln, diesem absoluten Schlager unseres Angebots. Macht sich bei den Rundgängen mit Interessenten echt gut, kann ich Ihnen sagen. Schlimm wird’s nur, wenn der Gast eine Gästin ist, zwei Zentner wiegt und einen Tanga trägt.«
Kincaid lachte. »Mich scheinen Sie ja nicht gerade für einen ernst zu nehmenden Interessenten zu halten.«
Sebastian betrachtete ihn einen Moment, und als er sprach, fehlte seiner Stimme ausnahmsweise der ätzende Unterton. »Nein. Ich würde sagen, Sie lassen sich durch Wohlanständigkeit nicht so leicht verführen. Sie haben vielleicht andere Schwächen, hm? Aber das hier würden Sie sicher nicht wählen, wenn man Ihnen einen Urlaub schenkte.«
Kincaid dachte darüber nach. »Nein. Sie haben recht, so angenehm es ist, ich würde es mir wahrscheinlich nicht aussuchen. Es ist mir zu strukturiert. Zu gemütlich. Ich komme mir ein bißchen wie ein Kind vor, das ins Ferienlager geschickt wird.«
»Wenn du brav bist, gibt’s nach dem Abendessen einen Pudding. Hm. Kommen Sie. Sie sollten die Erfahrung jetzt gründlich auskosten, wenn Sie nicht die Absicht haben, sie zu wiederholen. Am hinteren Ende des Korridors«, sagte er mit einer Geste zur anderen Seite, »ist eine Treppe, die zum Pool-Eingang hinunterführt. Der Pool hat auch ein warmes Sprudelbad. Es befindet sich direkt unter uns. Die Sprudeldüsen kann man selbst aufdrehen, wenn man Lust dazu hat. Ich geh’ da oft hinunter. Einer der Vorteile dieses Jobs.«
Kincaid konnte sich vorstellen, daß Sebastian Wade, im ständigen Machtkampf mit der Geschäftsleitung, sämtliche Vorteile des Jobs aus Prinzip wahrnahm.
Sie überquerten den Balkon und traten durch die Tür in die kühlere Atmosphäre des gegenüberliegenden Korridors. »Der Grundriß ist nicht symmetrisch.« Sebastian wies zum rückwärtigen Teil des Hauses. »In diesem Apartment wohnen die Lyles, aus Hertfordshire oder einer ähnlich tristen Gegend. So ein pingeliges kleines Männchen, ehemaliger Soldat - er wirkt absolut lächerlich. Mich hat er bereits stundenlang mit seinen Erlebnissen in Irland gelöchert. Wenn man ihm zuhört, könnte man glauben, er hätte die iRA ganz allein in die Knie gezwungen. Meiner Ansicht nach hat er allenfalls seine Untergebenen zur Weißglut gebracht, wenn er welche hatte.«
Kincaid mußte lächeln, daß ausgerechnet der akribische Sebastian mit seinem indiskreten Blick für das Detail einen anderen als pingelig bezeichnete.
»Das Apartment hier ist eine Art Maisonette. Da wohnen die Hunsingers, Maureen und John. Späte Hippies, die in Manchester einen Naturkostladen betreiben. Sie sind letzte Woche mit ihren ungeheuer gesunden Kindern hier angekommen.« Sebastian sah Kincaid fragend an. »Sie wissen, daß nicht alle Gäste zur gleichen Zeit ankommen und abreisen?«
Sie gingen durch den Flur zum vorderen Treppenabsatz. »Die Frazers zum Beispiel, die die Suite hier vorn haben, sind auch schon seit einer Woche hier. Vater und Tochter.« Kincaid wartete auf eine schnippische Bemerkung, aber es kam keine. Das Gesicht abgewandt, stieß Sebastian die Tür zur Treppe auf.
»Und was sind das für Leute?« erkundigte sich Kincaid, dessen Neugier geweckt war.
»Ich überlasse es Ihnen, sich eine Meinung zu bilden«, antwortete Sebastian ein wenig brüsk. Doch nach einem kurzen, etwas unbehaglichen Schweigen gab er nach. »Eine schmutzige Scheidung. Angela ist gerade fünfzehn, und sie ist der Zankapfel. Dabei will keiner von beiden sie in Wirklichkeit haben, und sie weiß das auch.« Die Maske maliziöser Unbekümmertheit war abgefallen, die helle Stimme klang bitter.
Kincaid hatte das Gefühl, daß er zum zweiten Mal an diesem Abend einen Blick hinter die spröde Fassade erhascht hatte. Doch mehr, so schien es, würde es auch nicht werden, denn schon auf dem Weg die Treppe hinunter zum Vestibül setzte Sebastian seinen bissigen Monolog fort.
»Bleibt noch das Erdgeschoß. Das vordere Apartment steht diese Woche leer. Es heißt übrigens das Herriot. Reiner Zufall, daß wir nicht auch noch Siegfried und Tristan haben. Wir bemühen uns selbstverständlich, aus unserer einheimischen Prominenz Kapital zu schlagen, wo es geht. Von den Rennies habe ich Ihnen bereits erzählt, und in dem hinteren Apartment auf der anderen Seite wohnen die Schätze dieser Woche, die Schwestern MacKenzie aus Denham Vale. Die guten Damen haben die erste Woche ihres Besuchs ungeheuer genossen - es ist richtig herzerwärmend.« Als er Kincaids verstehendes Lächeln sah, fügte er hinzu: »Ich sehe, Sie haben die beiden Damen schon kennengelernt. Aber lassen Sie sich vom Schein nicht trügen. Ich glaube nicht, daß Emma wirklich der alte Haudegen ist, der sie zu sein scheint, und die reizende Penny ist auch nicht ganz so verhuscht.«
Sie hatten das Portal erreicht und blieben stehen. »Und die Bungalows?« fragte Kincaid.
»Leer. Außer Cassies.« Ebenfalls ein Tabuthema, dachte Kincaid in Anbetracht von Sebastians kurzer Antwort. »Den Empfangsraum haben Sie gesehen. Dahinter ist der Salon mit der White-Rose-Bar. Sie soll die Eigentümer zum geselligen Beisammensein anregen. Die Bezahlung ist Ehrensache, aber es gibt immer welche, die nicht zahlen, und man erkennt sie sofort. An dem verstohlenen Blick nach dem Einschenken, wenn sie prüfen, ob jemand bemerkt hat, daß sie kein Geld in die Schale gelegt haben.«
Sebastian musterte sich im Spiegel, schnippte mit den Fingerspitzen eine helle Haarsträhne aus der Stirn und prüfte den Sitz seiner Leinenhose. »Also, auf, auf zum fröhlichen Jagen. Soll ich Sie zur Schlachtbank führen?« Sein Blick, so verschwörerisch wie ein Zwinkern, hinterließ in Kincaid das unangenehme Gefühl, daß Sebastian Wade ihn genauso durchschaute wie alle anderen armen Irren dieser Welt.
Die Luft im Salon war zum Schneiden, und verschlimmert wurde die unangenehme Muffigkeit noch durch die trockene Hitze der rotglühenden Heizrohren im offenen Kamin. In Grüppchen standen die Gäste auf dem rot-grün gemusterten Teppich, und ihre Stimmen vermischten sich zu einem unverständlichen Chor.
Sebastian führte ihn an den Tresen und schenkte ihm ein Lager ein. Während Kincaid wartete, bemerkte er hinter der Bar einen Raum, den Sebastian nicht erwähnt hatte. Im Gegensatz zum stilvoll eingerichteten, gepflegten Empfangsraum, in dem Cassie Whitlake ihn empfangen hatte, war dies ein Büro, in dem offensichtlich gearbeitet wurde. Statt eleganter Stilmöbel gab es hier einen grauen Metallschreibtisch, Aktenschränke, einen stabilen Schreibtischstuhl und einen alten hölzernen Garderobenständer. Die Addiermaschine war kaum noch zu sehen unter Bergen von Papieren, die den ganzen Schreibtisch und zum Teil auch die Schreibmaschine bedeckten. Dies mußte Cassies Reich sein, die Schaltzentrale des Hauses. Kein Wunder, daß Sebastian vorgezogen hatte, es nicht zu erwähnen.
Mit ihren Gläsern in den Händen bahnten sie sich einen Weg wieder durch den Salon zu einem Platz mit guter Übersicht in der Nähe der Tür. Einen Fuß hinter sich hochgestellt, lehnte Sebastian an der Wand und sah sich mit lebhaftem Interesse um.
»So«, sagte er, »und jetzt dürfen Sie raten. Mal sehen, ob Sie mir sagen können, wer wer ist.« Vier Personen standen mit Gläsern in den Händen im Gespräch vor dem offenen Kamin, ihre Aufmerksamkeit in der Art geübter Partygänger halb auf das Gespräch, halb auf die Umgebung gerichtet. »Immer auf dem Qui-vive, hm? Damit sie’s nur ja nicht verpassen, wenn es irgendwo interessanter ist.« Sebastian trank einen Schluck und wartete darauf, daß Kincaid den Beschriebenen Namen geben würde.
»Hm«, meinte Kincaid, die Herausforderung annehmend, »der große Blonde mit dem Maßanzug aus der Savile Row - der Herr Abgeordnete?« Schlank, mit glänzendem, perfekt gestyltem Haar und einem gutaussehenden Gesicht, dem die stark ausgeprägten Wangenknochen einen charakteristischen Zug verliehen.
Als Sebastian nickte, fuhr Kincaid fort: »Es ist nicht nur das Aussehen, das ihn verrät. Er benimmt sich ganz wie jemand, der weiß, daß er im Blickpunkt der Öffentlichkeit steht. Hm, und die Frau mit dem Kräuselhaar und dem langen Schlabberkleid? Das ist doch bestimmt nicht die Gemahlin, oder? Nein, das ist die Naturkostladenbe-sitzerin, Maureen. Stimmt’s?«
Sebastian grinste beifällig.
Ein schmächtig wirkender Mann mittleren Alters mit schütterem Haar und Brille schien das Gespräch für immer an sich gerissen zu haben. Die Gesichter der Zuhörer drückten Desinteresse unterschiedlichen Grades bis hin zur Langeweile aus. »Mr. Lyle aus Hertfordshire, ja? Und die dunkelhaarige Frau mit der Duldermiene muß seine Angetraute sein.«
»Bravo. Lauter Volltreffer bis jetzt. Können Sie die anderen auch noch abschießen?«
»Sie reden von den Leuten, als wären sie Schießbudenfiguren.« Doch Kincaid, dem diese Prüfung Spaß machte, sah sich gehorsam weiter um.
An einem Tisch am Fenster saß ein wuchtiger Mann mit wenig Haar und einem dafür um so üppigeren braunen Vollbart. Er spielte mit zwei Kindern ein Brettspiel, aber obwohl er sich so konzentriert wie die Kinder über das Brett neigte, schien er sich in Jackett und Krawatte unwohl zu fühlen. Immer wieder steckte er den Finger unter seinen Kragen und bewegte unbehaglich die Schultern unter dem Jackett. »Der Rest der Familie Hunsinger, würde ich sagen.«
Aber Sebastian hatte ihn nicht gehört. Seine Aufmerksamkeit galt einem jungen Mädchen, das allein an der Wand stand. Sie war ein wenig rundlich, Reste von Babyspeck wahrscheinlich, und ihre Gesichtszüge wirkten noch ungeformt, wie verwischt. Die dunklen Schatten, die ihre Augen umgaben, verliehen ihr das Aussehen einer Nachtschwärmerin, und ihr von violetten Strähnen durchzogenes Strubbelhaar paßte zu ihrem verdrossenen Gesicht. Kincaid stieß Sebastian an und sagte mit gesenkter Stimme: »Angela? Vielleicht sollten Sie zu ihr gehen und versuchen, sie ein bißchen aufzuheitern. Ich komme hier schon allein zurecht.«
»Gut«, sagte Sebastian. »Bis später.«
Kincaid bedauerte seinen Abgang beinahe sofort. Um das Sofa herum segelte die Frau mit dem Schlabberkleid mit wild entschlossenem Lächeln auf ihn zu. Sie hat anscheinend nur auf die Gelegenheit gewartet, dachte er, während er nach einer Fluchtmöglichkeit Ausschau hielt. Sein Blick fiel auf eine Frau, die zögernd an der Tür stand. Sie trug etwas Cremefarbenes, Seidenes, das ihre aparte, herbe Schönheit perfekt zur Geltung brachte. Die fehlende Wissenschaftlerin, dachte er, aber bevor er auch nur einen Schritt in ihre Richtung machen konnte, überschwemmte ihn Maureen Hunsinger mit einer Welle guter Absichten.
Hannah sah, daß die Party schon in vollem Gang war, und bemühte sich, als sie den Salon betrat, einen, wie sie hoffte, Ausdruck freundlicher Erwartung aufzusetzen. Sie ging direkt zur Bar und schenkte sich einen Whisky ein. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letztenmal so dringend einen Mutmacher gebraucht hatte.
Neben ihr goß sich gerade die weichere der beiden MacKenzie-Schwestern einen großen Cream Sherry ein. Ihr flaumiges graues Haar umgab ihr Gesicht wie ein vom Wind zerzauster Heiligenschein. Penny neigte sich zu Hannah und hob mit verschwörerischem Flüstern ihr Glas: »So etwas gönne ich mir nur ganz selten. Und was«, fuhr sie in vertraulichem Ton fort, »halten Sie von unserem letzten Neuzugang, Miss Alcock? Wir haben ihn heute nachmittag beim Einkaufen getroffen, ein reizender junger Mann, so höflich. Cassie hat erzählt, er sei Beamter, irgendein schrecklich langweiliger Posten. Das würde man nie vermuten, wenn man ihn so sieht, nicht?«
Hannah sah ihrem Blick folgend zur anderen Seite des Raums hinüber, wo ein hochgewachsener Mann an der Wand lehnte, sichtlich in die Enge getrieben von einer üppigen Frau in einem unmöglichen Kleid. Er sah nicht wie ein Beamter aus. Sympathisch, Mitte Dreißig, vielleicht auch etwas älter, mit widerspenstigem toffeebraunen Haar und einer nicht unbedingt aristokratischen Nase. Er hörte Maureen mit einer Miene amüsierten Interesses zu, doch Hannah meinte etwas Wachsames an ihm wahrzunehmen, eine innere Distanz, die ihn von den anderen unterschied.
»Kincaid«, sagte Penny. »Er heißt Duncan Kincaid.« Hannah sah weg und fand es albern, daß sie sich solchen extravaganten Spekulationen hingab, wenn sie viel dringendere Sorgen hatte. In diesem Moment drehte Kincaid, als hätte er ihren Blick gespürt, plötzlich den Kopf und sah sie lächelnd an. Ein sympathisches Lächeln, verschmitzt und gütig zugleich, und absolut entwaffnend.
Cassie erschien lautlos wie immer an Hannahs Seite, angekündigt durch den scharfen Duft ihres Parfüms. Er erinnerte Hannah an brennendes Laub.
»Sie und Miss MacKenzie haben sich heute morgen schon kennengelernt, glaube ich? Darf ich Sie mit einigen der anderen Gäste bekanntmachen?«
Cassie kam ihren Pflichten als professionelle Gastgeberin mit der Sorgfalt nach, die Hannah von ihr erwartet hatte. Das Zusammentreffen, das sie sich so brennend wünschte, würde so leicht und mühelos wie eine Zufallsbegegnung vonstatten gehen. Sie durfte sich nur nicht durch einen Versprecher oder eine unkontrollierte Geste verraten. Ihr Magen war so fest zusammengekrampft, daß sie kaum atmen konnte. Sie zwang sich, lockerzulassen und tief durchzuatmen, zwang sich mit einem zittrigen Lächeln zu sagen: »Ja, gern, das wäre nett.«