Kincaid drückte Mrs. Wade einen Moment die kleine Hand und dankte ihr so herzlich, wie es ihm möglich war. Sie war innerlich wieder davongegangen, während er oben gewesen war, und hatte sichtlich Schwierigkeiten, ihren Blick auf ihn einzustellen. Er nahm wahr, daß sie schwach nach Kaugummi und frisch geschnittenem Tabak roch, dem Aroma des Tabakladens.
»Was ist mir Ihrem Laden, Mrs. Wade? Haben Sie jemanden, der Sie vertreten kann?«
»Ich habe ihn fürs erste geschlossen. Ich konnte ihn nicht offenlassen. Ich wollte ihn immer Sebastian hinterlassen, wissen Sie. Er hätteja gar nicht hinter der Theke zu stehen brauchen, ich meine, dazu war er viel zu begabt, aber er hätte jemanden einstellen können und trotzdem noch ein nettes kleines Einkommen gehabt. Ich hab’ das ganze Versicherungsgeld von seinem Vater in den Laden gesteckt. Er hätte ihn einmal bekommen sollen.«
Kincaid tätschelte die schlaffe Hand und suchte nach einem Wort des Trostes. »Ich bin sicher, er hat das zu würdigen gewußt, Mrs. Wade. Es tut mir leid.«
Der Messingklopfer blitzte hell, als er die Tür hinter sich zuzog. Es war ein schöner, etwas windiger Morgen geworden. Ein Stück gelbes Papier flatterte unter dem Scheibenwischer des Midget wie ein kleiner Schmetterling. Er hatte sich einen Strafzettel für falsches Parken gehot - der zuständige Verkehrspolizist war offensichtlich ein wachsamer Typ.
Kincaid steckte den Strafzettel in seine Brieftasche. Er klappte das Verdeck des Midget herunter, schob sich hinter das Steuer und blieb eine Weile nachdenklich sitzen. Was sollte er jetzt mit diesen unerwarteten Informationen anfangen? Ignorieren konnte er sie auf keinen Fall. Warum, zum Teufel, hatten nicht Nashs Leute das Zimmer durchsucht? Es waren fast sechsunddreißig Stunden vergangen, seit Sebastian gefunden worden war, und Nash hatte lediglich eine Polizeibeamtin zu seiner Mutter geschickt, um dieser die Nachricht schonend beibringen zu lassen; er hatte die Mutter noch nicht einmal verhört. Ein Glück vielleicht für die Mutter; er jedenfalls konnte sich nicht vorstellen, daß Nash sich in irgendeiner Weise bemüht hätte, ihren Schmerz zu lindern.
Dennoch, Nash mußte informiert werden, daran war nichts zu ändern. Und darum brauchte er jetzt dringend Hilfe. Er ließ den Motor an und griff zum Autotelefon.
Kincaid schätzte sich glücklich, einen Vorgesetzten wie Chief Superintendent Denis Childs zu haben. Childs war ein intelligenter Mann, der Kincaid als Mensch sympathisch war und den er beruflich sehr schätzte - und Kincaid wußte, daß er genauso leicht einen Vorgesetzten wie Nash hätte erwischen können, auch wenn er es bevorzugte zu glauben, daß ein Polizeibeamter von Nashs Kaliber bei New Scotland Yard über den Rang eines Constables nie hinausgekommen wäre.
Denis Childs war ein wuchtiger Mann, neben dem Kincaid in seiner ganzen schlanken Größe beinahe zierlich wirkte. Mit seiner olivfarbenen Haut und dem freundlich unergründlichen Gesicht erinnerte er Kincaid manchmal an einen orientalischen Potentaten.
»Sir«, sagte Kincaid nach den üblichen Begrüßungsfloskeln, »ich habe ein kleines Problem.«
»Ach was, tatsächlich?« meinte Childs gleichmütig, so wenig wie immer bereit, sich aus der Ruhe bringen zu lassen. »Und wie klein ist es?«
»Hm.« Kincaid zögerte. »Die Situation ist etwas knifflig. Gestern morgen habe ich den stellvertretenden Geschäftsführer des Hotels tot im Swimmingpool gefunden. Er ist an einem Stromschlag gestorben. Der zuständige Beamte hierist der Meinung, daß es Selbstmord war, aber ich denke, wenn die Laborbefunde kommen, wird er sehen, daß dem nicht so ist. Kurz und gut, mir gefällt die ganze Sache nicht besonders. Ich bin eben... äh... ganz zufällig auf Akten des Toten gestoßen, die ziemlich negative Dinge über einige der timeshare-Eigentümer enthalten.«
»Von wegen zufällig! Sie haben geschnüffelt, Kincaid, obwohl Sie gar kein Recht hatten, Ihre Nase da hineinzustecken.« In Childs’ Stimme schwang ein beifälliger Ton. »Erpressung?«
»Nein, das glaube ich nicht. Jedenfalls keine direkte Erpressung. Ich wollte Sie fragen, ob Sie mir nicht den Weg ein bißchen ebnen können, damit ich ganz diskret, auf eigene Faust, ein paar Nachforschungen anstellen kann. Ich möchte niemandem auf die Zehen treten...« Kincaid schwieg. »Um ganz ehrlich zu sein, am liebsten würde ich dem Mistkerl vors Schienbein treten, aber im Interesse der guten Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Abteilungen ...«
»Ich könnte mir denken, daß Sie bereits auf einige Zehen getreten sind. Der Assistant Commissioner wird Ihre Zurückhaltung zu schätzen wissen«, fügte Childs sarkastisch hinzu. »Aber ich will sehen, was ich tun kann. Ich glaube, der Chief Constable dort oben ist ein alter Freund des A. C. Vielleicht ist der A. C. bereit, Ihretwegen ein Wörtchen mit ihm zu reden. Unsere Unterstützung anzubieten, falls die Sache schwierig werden sollte. Ich werde mich einmal mit ihm unterhalten. Treten Sie inzwischen in keine Fettnäpfchen und auf keine Zehen.«
»Ich werde schweben wie ein Engel«, versprach Kincaid. »Ist es in Ordnung, wenn ich Sergeant James anrufe?«
»Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, antwortete Childs, und Kincaid legte befriedigt auf.
Gemma James schob zwei Kämme in ihre roten Locken, ein neuerlicher Versuch, sie zur Räson zu bringen. Stirnrunzelnd sah sie sich im Spiegel an, zog die Kämme wieder heraus und bürstete ihr Haar nach hinten, um es zum Pferdeschwanz zu binden. »Ich gebe auf«, sagte sie laut. Da Gott ihr nun einmal rotes Haar und Sommersprossen mitgegeben hatte, war es wohl das beste, beides zu akzeptieren, anstatt ständig eine kühle Blonde oder eine schwüle Brünette sein zu wollen.
Das Telefon läutete genau in dem Moment, als sie den widerspenstigen Toby einfing, um ihn zum Babysitter zu bringen. Der freie Vormittag hatte ihre Stimmung aufgehellt, und sie griff mit wiedergewonnener Energie nach dem Hörer. »Nein, nein, Schätzchen. Laß Mama das machen.« Sie hielt Tobys grapschende Fingerchen mit einer Hand fest, hob mit der anderen den Hörer ab und zog den Kleinen hoch, um ihn rittlings auf ihre Hüfte zu setzen. Einen Moment lang drückte sie ihre Wange an sein helles Haar. Es war dank einer Laune des Schicksals völlig glatt, ganz anders als ihr eigenes und das dunkle Wuschelhaar seines Vaters.
»Gemma?«
»Hallo, Sir. Wie ist der Urlaub?« Gemma lachte ins Telefon, überrascht und erfreut, Kincaids Stimme zu hören. Sie wußte nicht recht, sollte sie ihn beim Vornamen nennen oder mit seinem Titel ansprechen.
»Entschuldigen Sie, daß ich Sie störe, Gemma. Arbeiten Sie im Augenblick an irgendeiner besonderen Sache?«
Es war also ein geschäftlicher Anruf, sie hatte sich richtig entschieden. »Nein, eigentlich nicht. Warum?«
»Ich wollte Sie bitten, verschiedenes für mich zu überprüfen, und das möglichst inoffiziell. Ich habe es mit dem Chef geklärt, aber ich bin nicht wirklich zuständig.«
»Kaffeeklatsch mit den Lästermäulern?« Gemma kannte Kincaids indirekte Methoden.
»Genau. In einigen Fällen werden Sie allerdings direkt mit den Verwandten sprechen müssen. Das Problem ist nur, daß ich nicht genau weiß, was ich eigentlich suche. Ungereimtheiten im Leben dieser Leute, Dinge, die irgendwie nicht ganz zu stimmen scheinen, irgendwas in der Richtung. Aber ich sollte Sie wohl erst einmal grundsätzlich informieren.«
Gemma, die den widerspenstigen Toby längst zu Boden gesetzt hatte, spitzte die Ohren und begann zu schreiben. Mit halbem Ohr hörte sie, wie der Kleine Töpfe und Pfannen aus dem Küchenschrank räumte, doch ihre Aufmerksamkeit war auf Kincaid konzentriert, und als sie schließlich auflegte, umspielte ein kleines befriedigtes Lächeln ihren Mund.
Gerade als Kincaid den Midget abgesperrt hatte und über den gekiesten Vorplatz zum Haus gehen wollte, kam Inspector Peter Raskin aus der Tür und eilte leichtfüßig die Treppe hinunter, ihm entgegen.
»Sir, ich hatte Sie fast schon aufgegeben«, sagte er statt einer Begrüßung. »Ich dachte, es würde Sie vielleicht interessieren, was die Laboruntersuchungen ergeben haben.«
Kincaid blickte zu den blinden Fenstern über ihnen hinauf. »Ja, wir müssen uns wirklich einmal unterhalten. Kommen Sie, gehen wir ein Stück.«
Sie gingen den Weg hinunter zu der Bank am Ende des Gartens - zu eben der Stelle, an der er und Hannah zwei Abende zuvor gestanden hatten, den Blick zum Haus, das mit seinen erleuchteten Fenstern so freundlich und einladend ausgesehen hatte.
»Sie zuerst«, sagte Kincaid, als sie sich gesetzt hatten.
»Sie hatten recht, weder auf dem Heizlüfter noch auf dem Stecker ist auch nur die Spur eines Fingerabdrucks zu finden, der nicht von Cassie Whitlake stammt. Also hat entweder Cassie selbst das Kabel eingesteckt - wobei ich mir nicht vorstellen kann, daß sie so unbekümmert ihre Spuren hinterlassen hätte -, oder aber die Person, die es getan hat, hat Handschuhe getragen. Angenommen, diese Person war Sebastian - und ich habe noch nie von einem Selbstmörder gehört, der zur Ausführung seiner Tat Handschuhe angezogen hat -, was hat er mit ihnen getan? Seine Kleider, seine Brieftasche, sogar sein Taschentuch und sein Kamm - alles lag ordentlich neben der Bank. Hat er das Kabel eingesteckt, die Handschuhe versteckt oder weggeworfen, um dann ans Becken zurückzukehren, sich auszuziehen und hineinzuspringen? Das macht mir keiner weis.« Raskin schwieg einen Moment. »Erstens hätte der Heizlüfter leicht schon einen Kurzschluß haben können, bevor er überhaupt ins Wasser gesprungen war, zweitens hab’ ich noch nie von einem methodischen Selbstmörder gehört, der keinen Abschiedsbrief hinterlassen hat.«
»Nein, daran glaube ich auch nicht«, sagte Kincaid. »Wie steht es mit der Todeszeit?«
»Zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht, meint der Arzt, nach dem Mageninhalt zu urteilen. Enger kann er es nicht eingrenzen.«
»Eine große Hilfe ist das nicht, aber ich habe eigentlich nichts anderes erwartet. Keiner der Gäste hat ein wirkliches Alibi?«
»Nein, kann man nicht behaupten.« Raskin zählte die Leute an den Fingern ab. »Cassie sagt, sie sei gegen zehn in ihren Bungalow gegangen. Die Hunsingers sind schlafen gegangen, nachdem sie die Kinder zu Bett gebracht und noch einen Kräutertee getrunken hatten. Marta und Patrick Rennie haben ausgesagt, sie seien die ganze Zeit in ihrem Apartment gewesen, aber sie scheint sich mit dieser Aussage irgendwie nicht wohl zu fühlen. Die Damen MacKenzie haben sich gegen zehn zurückgezogen und um elf beide geschlafen. Janet Lyle hatte Kopfschmerzen, und ihr Mann brachte ihr eine Tasse Tee. Danach ist sie eingeschlafen, und er ebenfalls. Hm, mal sehen, wer jetzt noch bleibt.«
»Die Frazers«, sagte Kincaid.
»Richtig, die Frazers. Vater und Tochter kamen gegen halb elf aus York zurück, vom Abendessen, und sind danach beide zu Bett gegangen.«
»Und Hannah und ich«, fuhr Kincaid fort, »haben gegen elf noch hier im Garten einen Spaziergang gemacht.. .«
»... und danach haben Sie sich getrennt, und jeder ist in sein eigenes Apartment gegangen«, vollendete Raskin und dehnte seine Finger, bis die Knöchel knackten.
»Alles ziemlich unbrauchbar«, stellte Kincaid mißmutig fest. »Jeder von diesen Leuten kann lügen, und wir würden es nicht merken. Ich bin beispielsweise überzeugt davon, daß Angela Frazer keine Ahnung hat, ob ihr Vater im Apartment war oder nicht. Die beiden hatten auf der Heimfahrt einen Riesenkrach, und sie hat sich daraufhin im Badezimmer eingesperrt. Sie ist dort auf den Fliesen eingeschlafen.«
Raskin grinste. »Ihre Vernehmungstechnik muß ein ganzes Stück besser sein als die meines Chefs - er hat nicht mehr aus ihr herausbekommen als hin und wieder ein mürrisches Ja oder Nein.«
»Das kann ich mir vorstellen. Peter«, sagte Kincaid, sich vorsichtig seinen Weg ertastend, »ich habe heute Sebastians Mutter einen Besuch abgestattet.« Raskin zog nur eine Braue hoch. »Ich habe mir sein Zimmer angesehen. Er hatte einen ganzen Stapel Dossiers über die Eigentümer hier, einige davon mit durchaus brisantem Inhalt.«
Diesmal zog Raskin beide Augenbrauen hoch. »Das wird Nash Ihnen nie verzeihen, Sir. Sobald wir die Laborbefunde hatten, hat er ein Team zu Mrs. Wade geschickt - ihn wird wahrscheinlich der Schlag treffen, wenn er hört, daß Sie schon vor ihm dort waren.«
Kincaid lächelte ein wenig schuldbewußt. »Es war kein Vorsatz. Ich habe bereits Buße getan und die nötigen Schritte unternommen, um für eine Beruhigung Ihres Chefs zu sorgen. Aber es wird vielleicht ganz klug sein, wenn ich ihm aus den Augen bleibe, bis das Ganze von oben durchgesickert ist. Wenn Nash michjetzt zur Minna macht und danach alles zurücknehmen muß, macht das den Umgang mit ihm höchstens noch schwieriger.«
Raskin maß ihn mit einem nachdenklichen Blick. »Das heißt wohl, daß New Scotland Yard uns bei unseren Ermittlungen >behilflich< sein wird?«
»Möglich. Es geschieht selbstverständlich alles auf äußerst höfliche und diplomatische Art und Weise.«
»Selbstverständlich.« Sie tauschten ein verständnisinniges Lächeln. »Also dann«, sagte Raskin auffordernd, »wollen Sie mir nichts Näheres erzählen, Sir? Was für schmutzige Geheimnisse hat der neugierige Mr. Wade denn ausgegraben?«
Kincaid streckte die Beine aus und blickte sinnend zu seinen Schuhspitzen hinunter. »Es sind sehr viele Dossiers da, aber ich denke, wir sollten uns auf die Akten derjenigen Leute konzentrieren, die diese Woche hier sind. Zum Beispiel ist Sebastian einem Gerücht nachgegangen, das in Dedham zirkuliert und besagt, Emma und Penny MacKenzie hätten ihrem heißgeliebten Vater zu einem schnelleren Ende als von der Natur vorgesehen verholfen.« Raskin sah ihn verblüfft an, unterbrach jedoch nicht. »Er war Diabetiker, und sie haben ihm selbst das Insulin gegeben - sie könnten einfach die Dosis etwas erhöht haben.«
»Ja, möglich ist das wohl. Ich habe schon Unwahrscheinlicheres gehört. Und der nächste Kandidat?«
»Graham Frazer. Er hat anscheinend eine heiße Affäre mit Cassie Whitlake - was an sich nicht weiter schlimm wäre, wenn nicht Frazer zur Zeit einen erbitterten Kampf um das Sorgerecht für Angela führte, bei dem diese Geschichte vielleicht als Munition gegen ihn eingesetzt werden könnte. Das sind übrigens Sebastians Vermutungen. Er war sehr gründlich. Er notierte außerdem zunehmende Unstimmigkeiten zwischen den Rennies. Das ist alles über die derzeitigen Gäste - abgesehen von einer alten Vorstrafe Maureen Hunsingers wegen Drogenbesitzes.«
Raskin verschluckte sich beinahe. »Unsere Große Mutter? Ich hätte nie geglaubt, daß ihr je etwas Giftiges über die Lippen käme.«
Kincaid grinste. »So unlogisch ist das gar nicht. Die Naturkostbewegung ist in gewisser Weise ein später Abkömmling der Hippiekultur der sechziger und siebziger Jahre, und diese Vorstrafe ist zwanzig Jahre alt. Wie Sebastian davon Wind bekommen hat, ist mir schleierhaft.«
»Was ist mit den anderen?« fragte Raskin.
»Hannah Alcock und die Lyles sind zum erstenmal hier. Vielleicht hatte er da nichts gefunden.«
»Das gleiche gilt für die MacKenzies«, erinnerte ihn Raskin.
Kincaid runzelte die Stirn. »Ja, das wäre zu bedenken. Es würde mich interessieren, wie er an diese kleine Geschichte gekommen ist.«
»Und nichts über Ihren Vetter?« Raskin grinste boshaft.
»Nein, Gott sei Dank nicht«, antwortete Kincaid mit Erleichterung. »Jack hat offensichtlich eine blütenweiße Weste. Sonst hätte das für mich peinlich werden können.«
»Und wer«, sagte Raskin mit Bedacht, »ist nun Ihrer Meinung nach das arme Opfer des Erpressers gewesen?«
Kincaid antwortete nicht gleich. Er hielt den Blick auf das stille Haus gerichtet, und als er sprach, war seine Stimme sehr leise. »Es mag merkwürdig erscheinen, aber ich glaube nicht, daß Sebastian jemanden erpreßt hat. Zumindest nicht um Geld. So wie es aussieht, hat er über fast jeden Eigentümer eine Akte angelegt. Der Inhalt ist größtenteils harmloser Natur - Charakterstudien, könnte man sagen. Vielleicht ging es ihm nur um ein bißchen Macht.« Kincaid rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. »Ich weiß nicht... Ich verlasse mich da auf mein Gefühl. Ich kann ihn einfach nicht als Erpresser sehen.«
»Na wunderbar, ich höre schon, was mein Chef dazu sagen wird. Der hält nämlich nicht viel vom Gefühl.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen.« Kincaid lachte. »Aus diesem Grund werde ich mich heute nachmittag lieber mal eine Weile rar machen. Jedenfalls so lange, bis mein Chef Gelegenheit hatte, ein paar Steinchen in den Teich zu werfen. Sonst buchtet Nash mich am Ende noch ein. Ich glaube, ich werde ein bißchen wandern. Ich mache ja schließlich Urlaub hier«, erklärte Kincaid nicht ohne eine gewisse Ironie.
Der Anblick Emma MacKenzies, die auf einer Bank oberhalb des Tennisplatzes saß, veranlaßte Kincaid, von seinem Weg abzuweichen. Durch ihren Feldstecher blickte sie angespannt zu den Baumwipfeln hinauf und ließ sich in ihrer Konzentration auch nicht stören, als Kincaid sich neben ihr hinsetzte. Er wartete schweigend, folgte mit den Augen ihrem Blick, und es dauerte nicht lange, da sah er es rot aufleuchten.
»Ach verdammt. Jetzt ist er weg«, sagte Emma und senkte den Feldstecher.
»Was war es denn?«
»Ein männlicher Dompfaff. Kommt zwar häufig vor, aber man sieht sie selten. Sie sind sehr scheu.«
»Ich habe noch nie Vögel beobachtet«, bemerkte Kincaid. »Das muß interessant sein.«
Emma warf ihm einen mitleidigen Blick zu. Unmöglich, jemandem, der eine so naive Bemerkung machen konnte, eine lebenslange Leidenschaft zu erklären. »Hm.« Sie wandte sich von ihm ab, um wieder zu den Bäumen hinaufzublicken. »Es ist eine Kunst. Sie sollten sich einmal darin versuchen.« Sie hielt ihm ihren Feldstecher hin. »Nehmen Sie ihn. Ich gehe jetzt sowieso hinein, der Nachmittag ist die ungünstigste Tageszeit.«
»Gern.« Kincaid nahm den Feldstecher und zog sich den Riemen über den Kopf. »Vielen Dank. Ich habe vor, zum Sutton Bank hinaufzuklettern.« Er zögerte, dann sagte er in möglichst neutralem Ton: »Miss MacKenzie, haben Sie sich viel mit Sebastian unterhalten?«
Emma hatte Anstalten gemacht aufzustehen. Jetzt hielt sie inne, ließ sich wieder zurücksinken, setzte sich bequemer. »Er schien mir ein intelligenter Junge zu sein, aber schwierig. Hinter dieser Schlagfertigkeit und dem spöttischen Mundwerk hat sich meiner Ansicht nach eine leicht verletzliche Empfindsamkeit versteckt.« Sie schwieg einen Moment nachdenklich. »Er konnte sehr liebevoll sein. Er war liebevoll zu Angela Frazer. Ich glaube, er hat sie als eine Art Schicksalsgenossin gesehen, jemand, der wie er nie dazugehörte; für ihren Vater immer nur eine Randfigur. Und ich hatte den Eindruck, daß er Graham Frazer verachtete. Ich weiß nicht, warum. Auch zu den kleineren Kindern war er sehr liebevoll, hat sich immer irgendwelche Spiele oder Unternehmungen für sie ausgedacht, um sie zu unterhalten. Er schien sich in ihrer Gesellschaft wohl zu fühlen.«
»Nett zu Kindern und zu Tieren«, murmelte Kincaid und spürte, wie Emma MacKenzie an seiner Seite erstarrte. Er sah förmlich, wie sie die Zugbrücke hochzog, und verfluchte sich für seine Taktlosigkeit. »Nein, nein, ich mache mich nicht über Sie lustig«, beteuerte er hastig. »Ich habe ihn auch gemocht, obwohl ich ihn nur so kurz kannte und eigentlich wider Willen. Und ich muß sagen«, fügte er mit einem unbefangenen Lächeln hinzu, »Sie sind eine sehr gute Beobachterin.«
Emma entspannte sich wieder, aber er spürte, daß der Strom versiegt war. Wenn er sie jetzt drängte, würde er nur ihr Gewissen auf den Plan rufen, und sie würde sich jede Neigung zu »billigem Tratsch« verbieten.
»Wonach soll ich eigentlich Ausschau halten?« fragte er und hob den Feldstecher an die Augen.
»Ich vermute, Sie könnten nicht einmal ein Rotkehlchen von einer Elster unterscheiden. Am besten nehmen Sie das hier mit«, sie reichte ihm ein kleines, abgegriffenes Buch, »da können Sie im Zweifelsfall nachschlagen. Versuchen Sie einfach, aufmerksam zu sein. Ich könnte mir denken, daß das Beobachten von Vögeln nicht so anders ist als das Beobachten von Menschen. O ja«, fügte sie hinzu, als sie seinen überraschten Blick sah, »Sie sind darin sehr geübt. Ich vermute, es ist eine Gabe, die Sie von Natur mitbekommen und dann ausgebildet haben. Sie flößen anderen Vertrauen ein mit dieser Miene aufrichtigen Interesses an jedem geäußerten Wort und einer kleinen Schmeichelei ab und zu. Und ich gehe jetzt lieber, ehe ich etwas sage, was ich besser nicht sagen sollte.«
Damit stand sie auf und stapfte entschlossen zum Haus.