17

 

Kincaid ging im trübe erleuchteten Empfangsraum auf und ab und horchte ein wenig schuldbewußt nach Anne Percys leichtem Schritt auf der Treppe. Er hatte Patrick Rennie allein mit seinem Whisky in der Bar zurückgelassen und wußte jetzt noch weniger, ob der Mann authentisch war oder ein begabter Lügner.

  Wenn Cassie seine Geschichte bestätigen sollte, war das dann ein ausreichendes Alibi für ihn? Hannah hatte Kincaid erzählt, daß sie versuchsweise bei ihm geklopft hatte, ehe sie zur Treppe gegangen war. Es sei aber nur ein sehr leichtes Klopfen gewesen, hatte sie gesagt, da sie plötzlich anderen Sinnes geworden sei und beschlossen habe, sich allein mit Nash auseinanderzusetzen. War das vielleicht das Geräusch gewesen, das er gehört hatte, während er mit Gemma telefonierte? Oder war er im fraglichen Moment auf dem Balkon gewesen und hatte überhaupt nichts gehört?

  »Es ist alles eine Zeitfrage«, murmelte er vor sich hin. Angenommen, Hannah hatte nur Minuten auf der Treppe gelegen - konnte Patrick beweisen, daß er direkt von Cassies Bungalow gekommen war? Und wie verhielt es sich mit Cassie und Graham? Alibi auf Gegenseitigkeit bei einem narrensicheren Mordversuch? Immer vorausgesetzt natürlich, daß Hannah nicht eine halbe Stunde oder länger bewußtlos dagelegen hatte - dann konnte es jeder von den dreien gewesen sein. Aber weshalb sollte einer von ihnen - oder sonst jemand - Hannah töten wollen?

  Und wo waren die anderen in der fraglichen Zeit gewesen?

  In einem Anfall zorniger Frustration schlug Kincaid sich mit der Faust in die offene Hand. Nichts hatte er zuwege gebracht. Er, der sich so oft über die unkreative Monotonie der Schreibtischarbeit beklagt hatte, hätte jetzt alles für einen Stapel sauber getippter Protokolle der tüchtigen Gemma gegeben. Chief Inspector Nash war von anfänglich bewußter Ablehnung auf eine hinterhältige Ausweichtaktik umgestiegen; beide Strategien zeitigten dasselbe Resultat - Kincaid hatte keinerlei Fakten.

  Eine Bewegung in dem schattig düsteren Raum, ein Luftzug vielleicht, veranlaßte Kincaid, sich nach der Tür zum Salon umzudrehen. Im dämmrigen Licht glaubte er flüchtig Sebastian Wade zu sehen, wie er ihn an jenem Spätnachmittag gesehen hatte - nonchalant an den Türpfosten gelehnt, die Hände in den Hosentaschen, ein boshaftes Lächeln im Gesicht.

  Wie zum Teufel, dachte Kincaid, paßt das alles zusammen?

  Rasche Schritte auf der Treppe zogen ihn in den Vorsaal. Anne Percy begegnete seinem fragenden Blick mit einem Lächeln.

  »Es geht ihr gut«, sagte sie, die letzten Stufen herunterkommend. »Sie ist natürlich ein bißchen mitgenommen. Am Handgelenk hat sie eine kleine Verstauchung und am Kopf eine ziemlich dicke Beule. Ich habe ihr gesagt, daß sie gesunde Knochen hat.« Erheiterung lag in Annes Lächeln. »Keine Anzeichen von schleichender Osteoporose.« Sie seufzte, streckte sich und sagte in ernsterem Ton: »Sie geben doch auf sie acht, nicht wahr, Duncan? Ich werde den Gedanken nicht los...« Mit gekrauster Stirn hielt sie einen Moment inne. »Wer auch immer sie gestoßen hat, er hätte leicht bleiben können, um dafür zu sorgen, daß sie nie wieder aufsteht.«

  »Es ist möglich, daß er mich aus meinem Apartment kommen hörte. Was hier passiert ist, hat sich im Grunde ähnlich abgespielt wie bei Sebastian und Penny. Der Täter sah eine Gelegenheit und packte sie kurzerhand beim Schopf. Das Risiko war praktisch gleich Null. Hätte er sich allerdings auf der Treppe über Hannah gebeugt, so wäre das nicht ganz so risikolos gewesen.«

  Anne schauderte. »Ein schlechter Gedanke.«

  »Ja, ich weiß. Ich habe ihr gesagt, sie soll ihr Apartment absperren und nicht Weggehen, ohne mir Bescheid zu sagen. Worauf sie erklärte, sie brauche keinen Babysitter«, fügte er mit einer gewissen Gereiztheit hinzu. »Sie war ganz fügsam und vernünftig, bis sie anfing sich zu erholen.«

  »Jetzt ist Chief Inspector Nash bei ihr. Beruhigend wird das sicher nicht auf sie wirken.«

  »Nein. Aber es ist gut, wenn sie es hinter sich bringt. Dann wird er sie hoffentlich in Ruhe lassen.« Kincaid musterte Anne beifällig. Unter einem gelben Lackmantel ’ trug sie fuchsienfarbene Leggins und dazu ein passendes langes Oberteil mit breiten Streifen. Mit Kincaids Bild von einer Landärztin hatte sie absolut nichts gemein.

  »Was ist denn so lustig?« fragte Anne, als sie das breite Lächeln auf seinem Gesicht sah.

  »Ich dachte gerade an unseren ruppigen alten Hausarzt, der uns verarztet hat, als wir klein waren.«

  Sie blickte an sich hinunter und lachte. »Naja, die Zeiten ändern sich eben. Gott sei Dank.« Ihr Blick ging zu ihrer Uhr. »Aber manches andere scheint sich nie zu ändern. Ich bin schon wieder zu spät dran. Die Mädchen warten auf ihr Abendessen. Ich muß mich beeilen, tut mir leid.«

  Er war plötzlich verlegen, als sei er daran schuld, daß sie ihre Pflichten vergessen hatte, doch er sagte recht ruhig:

  »Ja. Kommen Sie, ich bringe Sie hinaus.«

  Ihr gelber Mantel raschelte und quietschte, als sie hinausgingen, und einmal streifte ihr Arm leicht den Kincaids. Als sie den Wagen erreichten, öffnete sie die Tür und warf ihr Köfferchen hinein. Dann drehte sie sich nach Kincaid um. Er stand ihr nahe genug, um den Lavendelduft wahrzunehmen, der von ihr ausging - ein sauberer, angenehmer Duft -, und er suchte nach einem Wort, das sie vielleicht doch noch einen Moment zurückhalten würde. »Vielen Dank. Das war alles ziemlich scheußlich für Sie, denke ich mir.«

  Anne lächelte. »Oh, der Tod ist mir vertraut. Die Umstände waren hier anders. Aber morgen ist der Amtsarzt sowieso aus dem Urlaub zurück, dann habe ich keinen Notdienst mehr.«

  »Tut mir leid«, sagte Kincaid in das Schweigen hinein, das zwischen ihnen hing.

  »Ja, mir tut es auch leid«, antwortete Anne Percy, als sie in ihren Wagen stieg. Kincaid sah ihr nach, als sie davonfuhr, und wußte nicht, was sie beide eigentlich gemeint hatten.

 

Am selben Abend fuhr Gemma in nördlicher Richtung die Banbury Road hinauf. Große, stattliche Häuser flankierten die Straße zu beiden Seiten, warm und einladend im Glanz ihrer erleuchteten Fenster. Das herbstlich gefärbte Laub der alten Bäume in den Gärten wirkte wie ausgebleicht im schwindenden Licht.

  Sie war nie zuvor in Oxford gewesen - nie hatte ein Fall sie hierher geführt, und es war ganz sicher kein Ort, den ihre Eltern für einen Urlaubsaufenthalt gewählt hätten. Ihre Eltern fuhren, soweit sie zurückdenken konnte, jedes Jahr zur gleichen Zeit für zwei Wochen in dasselbe Dorf in Cornwall - ein hübscher, zuverlässiger Ort und nicht im mindesten abenteuerlich.

  Sehr zu ihrer Überraschung war Gemma bezaubert von der Stadt. Nachdem sie sich durch die Vermittlung der Haushälterin einen Abendtermin bei Miles Sterrett gesichert hatte, blieben ihr mehrere Stunden freie Zeit, die sie dazu nutzte, die Stadt zu erforschen. Vom Cornmarket bis zum Magdalen College hinunter und zum Fluß lockten die Stillen, grünen Innenhöfe der Colleges.

  Sie ging langsam, den Kragen ihrer marineblauen Jacke gegen den Wind hochgeschlagen, und als sie die Brücke über den Cherwell erreichte, stützte sie die Ellbogen auf die Brüstung und sah den Booten zu, die leicht wie Wasserflöhe über das Wasser huschten.

  Ein Universitätsstudium hatte so weit außerhalb ihrer Möglichkeiten gelegen, daß sie andere nie um dieses Privileg beneidet hatte, aber jetzt plötzlich verspürte sie eine flüchtige Trauer um eine verpaßte Gelegenheit. Kincaid hatte ihr einmal bei einem Bier nach der Arbeit erzählt, daß er die Möglichkeit gehabt hätte, mit einem Polizeistipendium zu studieren, aber er hatte sich nie beworben. »Verspätete Rebellion, vermute ich«, hatte er gesagt und dabei leicht spöttisch eine Augenbraue hochgezogen. »Das wäre den Wünschen und Erwartungen meiner Eltern zu sehr entgegengekommen. Jetzt finde ich es ziemlich albern, daß ich die Chance damals nicht genutzt habe.«

  Oxford, dachte Gemma, als sie in die Seitenstraße einbog, die sie am Nachmittag übersehen hatte, wäre für Kincaid das Richtige gewesen.

  Die Julia Sterrett Klinik sah genau so aus, wie der Name vermuten ließ - ein großes Privathaus in einer ruhigen Seitenstraße der Banbury Road. Auskunft über das wahre Wesen des Hauses gab lediglich ein diskretes Schild, das in den Backstein neben der Haustür eingelassen war. Gemma läutete und wartete, und nach einem Moment hörte sie schwerfällige Schritte und das Geräusch der Riegel, die zurückgezogen wurden.

  »Sie sind sehr pünktlich, Miss«, sagte die Haushälterin, als sie die Tür öffnete.

  Gemma war die rundliche kleine Haushälterin weit sympathischer als der Drachen von Sekretärin, mit dem sie es am Nachmittag zu tun gehabt hatte.

  »Guten Abend, Mrs. Milton. Paßt es jetzt?«

  »Oh, ja, ich führe Sie gleich hinauf.«

  Mrs. Milton stapfte keuchend und mit rotem Kopf die Treppe hinauf, und Gemma folgte ihr mit etwas schlechtem Gewissen. Wenn sie zurückschaute, konnte sie rechts von der Haustür das Empfangsbüro sehen, und sie wußte von ihrem Besuch am Nachmittag, daß die eigentliche Klinik Erdgeschoß und erste Etage des Hauses einnahm, während im obersten Stockwerk Miles Sterrett seine Privaträume eingerichtet hatte.

  Oben angekommen, klopfte Mrs. Milton an eine Tür, winkte Gemma einzutreten und zog die Tür dann energisch hinter ihr zu. Gemma stand allein auf der Schwelle und fühlte sich ein wenig wie Daniel in der Löwengrube. Nach den grimmigen Versuchen der Sekretärin, sie abzuwimmeln, hatte Gemma einen alten Herrn erwartet, bettlägerig vielleicht, oder im Rollstuhl an ein Krankenzimmer gefesselt.

  Sie befand sich in einem Arbeitszimmer mit Bücherwänden, ledernen Klubsesseln, einem leuchtenden Orientteppich unter ihren Füßen und einem offenen Kamin, in dem ein helles Feuer brannte. Miles Sterrett saß an einem eleganten Schreibtisch, den Kopf über einige Papiere gebeugt. Er sah auf und lächelte, stand auf und kam durch das Zimmer auf sie zu, um sie zu begrüßen.

  »Sergeant James.«

  »Guten Abend, Mr. Sterrett.« Gemma mußte aufblicken, als sie ihm die Hand gab. Er war groß und schlank, mit einem schmalen Gesicht und feinem Haar, das im Feuerschein eher gelblich wirkte als grau. Er trug einen blaßgelben Pullover und eine dunkle Hose. Nur die dunklen Schatten unter seinen Augen und eine leichte Verzögerung seiner Bewegungen verrieten seine Krankheit.

  »Kommen Sie, setzen Sie sich. Mrs. Milton hat uns Kaffee gemacht.« Er wies sie zu einem von zwei Sesseln am Feuer und nahm in dem anderen Platz. Auf einem niedrigen Tisch zwischen ihnen stand ein Tablett mit Tassen und einer Wärmekanne. Als Miles Sterrett nach ihrer Tasse griff, sah Gemma das leichte Zittern seiner Hand. »Soll ich einschenken?«

  Miles Sterrett lehnte sich zurück und legte die Hände auf seinen Knien übereinander. »Danke.« Er nahm seine Tasse und wartete, bis Gemma sich selbst eingegossen hatte, ehe er sprach. »So, und jetzt verraten Sie mir erst einmal, Sergeant, worum es sich eigentlich handelt. Mrs. Milton hat mir versichert, daß es Miss Alcock gut geht?«

  Die letzten Worte endeten im Ton einer Frage, und Gemma hatte den Eindruck, daß sich hinter Sterretts höflicher Zurückhaltung echte Beunruhigung verbarg.

  »Ja, Miss Alcock geht es gut, Sir. Aber in der letzten Woche sind im Followdale House zwei Personen unter verdächtigen Umständen gestorben, und wir sind selbstver-ständlich um die Sicherheit der anderen Gäste besorgt.«

  »Sie wollen doch nicht sagen, daß Hannah...«

  »Nein, nein, aber je eher wir die Sache klären können, desto beruhigender ist es für alle Beteiligten.« Gemma trank einen Schluck Kaffee. »Wissen Sie, ob Miss Alcock Verbindungen irgendeiner Art zu Sebastian Wade oder Penny MacKenzie hatte?«

  Er schüttelte den Kopf. »Ich kann mich nicht erinnern, daß sie je eine der beiden Personen erwähnt hätte.«

  »Hat sie früher schon einmal in diesem timesharing-Hotel Urlaub gemacht? Hat sie zu Ihnen etwas darüber gesagt, weshalb sie sich für dieses Hotel entschieden hat?«

  Sterrett griff nach seiner Tasse, und Gemma fiel auf, daß er nur daraus trank, und sie dann sogleich wieder abstellte. »Sie hat eigentlich kaum etwas darüber gesagt. Ich fand das ziemlich seltsam, weil Hannah und ich schon seit Jahren befreundet sind.« Er lächelte, und das Lächeln milderte die Strenge seines Gesichts. »Hannah kam vor fast fünfzehn Jahren zu mir - mit den besten Empfehlungen von einer Forschungsabteilung der Universität. Ich bin kein Wissenschaftler, und der Erfolg unserer Arbeit hier«, er machte eine kurze, umfassende Geste, »ist in erster Linie Hannahs Brillanz und hartnäckiger Ausdauer zu verdanken. Sergeant...« Er brach ab und sah Gemma mit gerunzelter Stirn an. »Sie sind eine zu schöne junge Frau, um >Sergeant< genannt zu werden, finde ich. Kann ich Sie nicht >Miss< oder >Mistress< nennen, oder meinetwegen auch >Madam<, obwohl ich das auch ziemlich scheußlich finde?«

  Gemma, die bei anerkennenden Pfiffen auf der Straße nicht einmal mit der Wimper zuckte, spürte, wie sie bei diesem Kompliment rot wurde. Sie mußte zugeben, daß es auch reichlich chauvinistisch war, aber sie brachte es nicht fertig, daran Anstoß zu nehmen. »Na gut, dann nennen Sie mich >Mistress<, wenn Sie möchten.«

  »Einverstanden, Mrs. James. Wenn Sie von mir ein Leumundszeugnis über Hannah haben möchten, kann ich nur sagen, daß ich über sie und ihre Vergangenheit nichts weiß, was auch nur im geringsten fragwürdig wäre. Für mich ist sie eine Freundin, die mir nähersteht als jeder Verwandte, und ich würde für sie jederzeit die Hand ins Feuer legen. Ganz gewiß ist sie nicht fähig, einen Menschen zu töten.« Seine Hände zuckten, während er sprach.

  »Mr. Sterrett, ich glaube nicht, daß die Untersuchungsbeamten diese Möglichkeit ernsthaft in Betracht ziehen, aber wir müssen diese Nachforschungen nun einmal anstellen. Das werden Sie sicher verstehen.« Gemma wechselte das Thema, um ihm Gelegenheit zu geben, sich zu beruhigen. »Trägt die Klinik den Namen eines Ihrer Familienangehörigen, Mr. Sterrett?«

  »Den meiner Frau. Sie ist vor nahezu dreißig Jahren an der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit gestorben. Damals war die Krankheit kaum erforscht, und da ich mein Geld erbte, wollte ich es in eine gute Sache investieren.« Er lächelte sie wieder an. »Machen Sie kein so unglückliches Gesicht, Mrs. James. Ich trauere nicht mehr um meine verstorbene Frau. Das ist alles sehr lange her. Wir hatten keine Kinder - und das war vielleicht gut so, wenn man die Geschichte ihrer Familie bedenkt. Ihre einzige Schwester war emotional ausgesprochen labil, und mein Neffe ist ein armseliger Wicht.«

  Miles starrte einen Moment lang ins Feuer, dann trank er seinen Kaffee aus und sagte mit einiger Überwindung, wie es Gemma schien: »Es überrascht mich, daß Hannah mich nicht angerufen hat. Ich vermute, sie fürchtete, die Geschichte würde mich beunruhigen. Auf die Idee, daß die Polizei mich aufsuchen könnte, wenn auch in noch so attraktiver Form, ist sie wahrscheinlich gar nicht gekommen.« Sowohl das Lächeln als auch die Schmeichelei, wirkten diesmal gezwungen. Gemma hatte den Eindruck, , lange genug hiergewesen zu sein.

  Sie trank ihren Kaffee aus und stand auf. »Ich habe Sie ermüdet. Das tut mir leid. Ihre Sekretärin würde mich mit Haut und Haaren auffressen, wenn sie das wüßte.«

  Sterrett lachte. »Das ist ihre Art der Konkurrenz mit Mrs. Milton. Das geht schon seit Jahren so.« Er stand auf, ließ es sich nicht nehmen, sie hinauszubringen. Auf der Treppe gab er ihr nochmals die Hand. »Sie nehmen es mir nicht übel, wenn ich nicht mit hinunterkomme? Mrs. Milton sperrt Ihnen die Tür auf.«

  »Danke, Sir. Es tut mir leid, wenn ich Sie beunruhigt haben sollte.« Es war ein Standardsatz, aber Gemma war es ernst damit.

  Sie hatte ein Zimmer in einem kleinen Hotel am Stadtrand reserviert, und nachdem sie ausgepackt und sich eingerichtet hatte, verbrachte sie den Rest des Abends damit, bei Kincaid anzurufen, der sich nicht meldete.

 

Hannah schlief auf dem Sofa, den Kopf halb unter dem Kissen vergraben, während die Decke zu Boden zu gleiten drohte.

  In ihrem Traum ging sie durch die Vorortstraßen ihrer Kindheit. Über ihr blühten die Kirschbäume. Vertraute Stimmen, denen sie keine Namen geben konnte, schallten aus den Gärten, und sie ging schneller. Ihr Haus schien stets um die nächste Ecke zu sein - sie war sicher, sie würde es finden, wenn nur das leise, beharrliche Klopfen aufhören würde.

  Das Geräusch nagte an den Rändern ihres Traums und zog sie schließlich in einen Zustand schlaftrunkenen Erwachens hinüber. Stöhnend versuchte sie sich aufzurichten - ihre Muskeln waren steif, und sie hatte heftige Kopfschmerzen. In den Scheiben der Balkontür spiegelte sich ihr Bild. Draußen war es jetzt ganz dunkel, und sie konnte nicht sagen, ob sie Stunden oder Minuten geschlafen hatte. Das Klopfen ging weiter, als sie steifgliedrig zur Tür schlurfte, und sie hörte seine flehende Stimme, noch ehe sie die Tür erreicht hatte. »Hannah, ich bin’s, Patrick. Bitte! Ich muß mit Ihnen sprechen.«

  Einen Moment zögerte sie, und gleich darauf überkam sie heiße Scham. Sie würde nicht an ihm zweifeln, sie würde nicht ihr Leben von Furcht regieren lassen. Das Gefühl der Demütigung hatte sie draußen auf der Treppe veranlaßt, sich vor ihm zurückzuziehen, aber seitdem hatte sie viel nachgedacht. Mit unsicherer Hand zog sie den Riegel an der Tür auf.

  Patrick musterte sie besorgt, ehe er sprach. »Wie fühlen Sie sich?«

  »Den Umständen entsprechend, denke ich.« Zerstreut berührte Hannah ihr bandagiertes Handgelenk. »Dr. Percy hat gesagt, morgen würde ich mich wahrscheinlich wie eine Hundertjährige fühlen. Der Prozeß hat schon angefangen.«

  Er folgte ihr ins Wohnzimmer und legte, als sie sich setzte, fürsorglich die Decke um sie. Nachdem er sich einen Sessel herangezogen und sich so gesetzt hatte, daß er ihr ins Gesicht sehen konnte, sagte er mit entwaffnender Offenheit: »Duncan Kincaid glaubt, ich könnte Sie die Treppe hinuntergestoßen haben, obwohl er, höflich wie er ist, es nicht direkt gesagt hat.« Patrick lächelte. »Hannah«, das Lächeln verschwand ganz, »glauben Sie, daß ich Sie gestoßen habe?«

  Sie schüttelte müde den Kopf. »Nein. Ehrlich nicht.« Zum erstenmal seit er ins Zimmer gekommen war, sah sie ihm in die Augen. Er schien im Lauf eines einzigen Tages zehn Jahre gealtert zu sein. Feine Linien, die sie vorher nicht bemerkt hatte, kräuselten sich rund um seine Augen. Es war fast so, dachte Hannah, als wäre eine Maske von seinem Gesicht gezogen worden, und er säße jetzt mit entblößten Zügen vor ihr.

  Er seufzte. »Dann ist es ja gut. Aber ich mache mir Sorgen um Sie - um dich, Hannah. Wenn man nicht weiß, warum etwas geschieht, ist es sehr schwer, ihm ein Ende zu bereiten.«

  Hannah antwortete nicht. Sie fühlte sich zu erschöpft, um von neuem ihre Unwissenheit zu beteuern. Nach einer kleinen Weile fuhr Patrick zu sprechen fort.

  »Ich war gemein zu dir, heute morgen. Ich weiß selbst nicht, warum. Wahrscheinlich sind in dem Moment zu viele Kinderphantasien über mich hereingebrochen.« Als er ihr verwundertes Gesicht sah, versuchte er zu erklären. »Ach, du weißt schon. Erst habe ich meine Mutter als Camille gesehen«, er hob eine Hand zu seiner Stirn und grinste, »die im Kindbett starb und mich mit ihrem letzten schwachen Atemzug segnete. Später habe ich sie mir warm und weich und liebevoll vorgestellt - eines Tages würde sie mich finden und in den Schoß einer anderen Familie aufnehmen. Die typische Phantasie eines Einzelkindes. Niemals«, er beugte sich vor und lächelte sie wieder an, »habe ich sie mir als erfolgreiche und intelligente Karrierefrau vorgestellt, niemals anregend und attraktiv. Es war ein ganz schöner Schock, das kann ich dir sagen.«

  Hannah, die sich plötzlich bewußt wurde, wie sie aussehen mußte, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Es tut mir leid«, sagte sie und wußte selbst nicht, ob es ihr leidtat, daß sie ihn so überfallen hatte mit ihrer Enthüllung, oder daß sie nicht seinem Mutterbild entsprach.

  »Es tut dir leid? Du lieber Gott, diesem ganzen Kinderkram hätte ich doch längst entwachsen sein müssen. Und ich habe dich nicht einmal nach meinem Vater gefragt.«

  Hannah spürte die Verletzlichkeit unter seinem heitergelassenen Gebaren.

  »Meinen Eltern habe ich nie gesagt, wer er war, aber du verdienst es, wenigstens etwas zu wissen«, sagte sie widerstrebend. »Er hieß Matthew Carnegie. Eine gute Familie.« Sie verzog ein wenig den Mund. »Wie mein Vater es formuliert hätte. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist, ich wollte es nicht wissen. Ich wollte ihn nie Wiedersehen.« Sie riß die Mauer ein, die sie im Lauf der Jahre hochgezogen hatte, und dachte zurück, versuchte sich zu erinnern, was die sechzehnjährige Hannah damals zu Matthew hingezogen hatte. »Er war blond - das hast du von ihm - und gutaussehend, natürlich noch unfertig, linkisch. Er hat mich zum Lachen gebracht.« Diese Erinnerung überraschte sie. »Und er war sehr sanft.«

  Patrick ließ sich einen Moment Zeit, um das zu verarbeiten, und nickte. »Es muß dich eine Menge Mut gekostet haben, deinen Eltern nichts von ihm zu sagen.«

  »Mut? Nein, das war reine Sturheit. Und außerdem wußte ich, daß ich die Demütigung nicht ertragen würde, wenn er es erfahren sollte, wenn seine Familie es erfahren sollte.«

  Patrick beugte sich wieder vor und sah sie mit brennendem Blick an. »Hannah, glaubst du, wir könnten noch einmal anfangen? Vielleicht nicht so, wie jeder von uns es sich vorgestellt hat - wir waren beide ziemlich unrealistisch -, aber einfach als - Freunde?«

  Hannah schloß die Augen, um sich nichts von dem Ansturm plötzlicher Sehnsucht anmerken zu lassen. »Ich habe nie geglaubt, ich könnte deine Mutter verdrängen. Oder überhaupt eine richtige Mutter sein. Ich wollte nur ein Gefühl der Zugehörigkeit - der Verbundenheit.«

  Patrick berührte ihre Schulter, ein wenig ungeschickt, als sei er nicht sicher, wie er reagieren sollte. »Ich glaube, es ist am besten, wenn ich dir jetzt erst einmal eine Weile Ruhe lasse, Hannah.« Er stand auf. »Du bist vorsichtig, ja? Ich möchte dich nicht verlieren«, ein Hauch von Ironie schwang in seiner Stimme, »wo ich dich doch gerade erst gefunden habe.«

 

Kincaid sah, wie vor ihm Patrick Rennie, daß Cassie Whitlakes Tür nur angelehnt war. Er klopfte leicht. Als er von drinnen nichts hörte, stieß er die Tür langsam auf.

  Das Wohnzimmer des Bungalows wurde nur von einem Licht im Flur dahinter dämmrig erleuchtet; er brauchte deshalb einen Moment, um sich zu orientieren. Cassies Stimme drang von dem Sessel, der am Feuer stand, zu ihm. Mürrisch und kurz. »Hauen Sie ab.«

  Kincaid griff zum Schalter der Tischlampe und zwinkerte im plötzlichen Aufflammen gelben Lichts. Cassie hockte zusammengekauert im Sessel, blaß und mit wirrem Haar, in einen gesteppten Morgenrock gewickelt.

  »Sie sollten sich angewöhnen, hinter sich abzuschließen«, sagte Kincaid.

  »Das hat jetzt wohl nicht mehr viel Sinn.«

  Kincaid ließ sich auf der Armlehne des anderen Sessels nieder. »Sieht aus, als hätten Sie’s gründlich verpfuscht, hm?« meinte er in leichtem Ton.

  Zorn sprühte in ihren Augen. »Ich? Du lieber Gott.« Sie wandte ihr Gesicht ab, und er sah den roten Striemen auf ihrer Wange. »Das Schwein hat mich geschlagen.«

  »Wer? Graham Frazer?«

  »Natürlich. Patrick spielte die beleidigte Leberwurst und stolzierte gekränkt hinaus, aber nicht ohne Graham die Situation im genauestem auseinandergesetzt zu haben. Und wer hat Sie in die schmutzigen Details eingeweiht?«

  »Patrick.«

  »O Gott.« Sie begann zu weinen. »Es ist alles aus.«

  »Keine Aussicht mehr auf Downing Street Nummer zehn?«

  »Sie...« begann Cassie, aber dann brach sie ab, zu verzweifelt sogar, um ihn zu beschimpfen.

  »Aber es war doch eigentlich klar, daß das passieren mußte«, sagte Kincaid etwas teilnahmsvoller. »Sie haben ein riskantes Spiel gespielt.«

  Cassie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. »Ich hatte keine Ahnung, daß Graham so schwer abzuschütteln sein würde.« Sie schniefte. »Es fing als nettes kleines Abenteuer an. Bevor ich Patrick kennengelernt hatte. Aber je mehr ich versuchte, auf Distanz zu gehen, desto aufdringlicher wurde Graham. Und mit der Zeit hatte ich Angst davor, Schluß zu machen - Angst vor seiner Reaktion, genauer gesagt.«

  »Hat er Ihnen denn gedroht?«

  Cassie zuckte die Achseln. »Nicht direkt. Aber er gab immer diese kleinen Kommentare - was denn wohl passieren würde, wenn die Geschäftsleitung erfahren sollte, daß ich mit den Eigentümern schlief? So in der Art. Ich konnte das auf die Dauer nicht aushalten. Eine Zeitlang konnte ich zwischen den beiden lavieren. Aber dann tauschte Graham seine Woche - er wollte nicht bis zu den Schulferien warten. Angela ist ja im Moment sowieso nicht in der Schule, und er wollte mich unbedingt sehen.«

  »Er hatte wohl Glück«, meinte Kincaid, »daß er eine Woche in den Schulferien bekommen hatte?«

  »Glück?« Cassie schien verwundert. »Er hätte so ziemlich jeden Zeitraum haben können, den er wollte - außerdem hätte er jederzeit tauschen können. Es gibt immer Leute, die bereit sind umzusteigen. Warum«, sie sah ihn mit inständig flehendem Blick an, »mußte er sich ausgerechnet diese Woche aussuchen?« Es schien sich um eine rein rhetorische Frage zu handeln.

  Sie gefiel ihm besser so, ohne diesen amerikanischen Schliff vollendeter Gepflegtheit, ledig ihrer leicht spöttisch-überheblichen Art. Er vermutete, daß sie auch im Bett diese harte Seite ablegte und gerade der Kontrast sie für Patrick Rennie und Graham Frazer so anziehend gemacht hatte.

  »Was ist denn nun passiert heute?« fragte er, seine Spekulationen beiseite schiebend.

  Cassie schluckte und schob sich eine Strähne ihres zerzausten Haars hinters Ohr. »Graham war wütend. Ich habe ihn noch nie so erlebt. Er fühlte sich von mir zum Narren gehalten. Er sagte, ich hätte ihn nur benutzt.« Sie sah Kincaid an. »Ich war heute nicht gerade die willfährige Geliebte. Aber das konnte Patrick natürlich nicht wissen.«

  »Nein. Und dann - nachdem Patrick gegangen war?«

  Cassie berührte mit einem Finger ihre Wange. »Ich kann von Glück sagen, daß ich so glimpflich davongekommen bin. Ich glaube, jetzt ist es endlich aus.«

  »Um welche Zeit heute nachmittag hat sich das alles abgespielt?«

  »Woher zum Teufel soll ich das wissen?« brauste Cassie auf. »Rund um mich herum bricht alles zusammen, und Sie erwarten, daß ich auf die Zeit achte?«

  »Es könnte unter Umständen sehr wichtig sein zu wissen, was jeder von Ihnen drei tat, als jemand auf den Gedanken kam, Hannah Alcock die Treppe hinunterzustoßen. Hat denn niemand danach gefragt?«

  »Doch, der Constable war hier - der aussieht wie ein preisgekröntes Rindvieh.« Feindseligkeit schärfte ihre Stimme, und Kincaid erinnerte sich, wie schwer Constable Trumble es am Morgen nach Sebastians Tod mit ihr gehabt hatte. »Ich habe gesagt, ich könnte mich nicht erinnern.«

  Kincaid ließ nicht locker. »Denken Sie nach. Was haben Sie getan, bevor Graham kam?«

  Cassie kaute nachdenklich auf ihrem Daumennagel. »Ich habe gearbeitet. Im Haus war es so still wie in einem Grab, und mir fing an, unheimlich zu werden. Dann kreuzte Angela auf und schnüffelte ein bißchen herum...«

  »Was wollte sie?« fragte Kincaid neugierig. Er konnte sich nicht vorstellen, daß Angela Cassie freiwillig aufsuchen würde.

  »Soweit ich mich entsinne, hat sie keinen Ton gesagt«, fauchte Cassie. »Sie ist nur herumgelaufen und hat alle meine Sachen angetatscht. Dieses Mädchen hat was Grusliges, und heute war sie mal wieder in voller Vampirmontur. Als ich sie gefragt habe, was sie wolle, sagte sie >nichts< und ging. Na, danach hatte ich restlos genug. Ich bin hierher gegangen, um mir eine Tasse Kaffee zu machen.« Sie schwieg, um zu überlegen. »Es muß nach drei gewesen sein - ich hatte bis spätestens um drei einen Anruf erwartet. Als er nicht kam, habe ich den Anrufbeantworter eingeschaltet.«

  »Und Graham?« Kincaid wartete mit geschärfter Aufmerksamkeit. Gemma hatte ihn etwa um Viertel nach drei angerufen. Nach Beendigung des Gesprächs war er hinuntergegangen, hatte Hannah gefunden und hatte erst danach gedacht, auf seine Uhr zu schauen, als Patrick durch die Haustür hereingestürmt war. Es war zwanzig vor vier gewesen.

  »Ich weiß nicht. Ich hatte mir einen Kaffee gemacht und war auf dem Klo gewesen.«

  »Und wie lange war Graham schon da, als Patrick kam?«

  »Lange genug«, antwortete Cassie mit einer gewissen Bitterkeit, »um einen Ringkampf anzufangen und mir die Hälfte meiner Kleider vom Leib zu reißen.«

  »Und Sie wissen nicht zufällig«, fragte Kincaid hoffnungsvoll, »um welche Zeit Patrick wieder weggegangen ist?«

  Cassie richtete sich auf und warf ihm einen wütenden Blick zu. »Seien Sie doch nicht so verdammt blöd.«

 

Als Kincaid aus Cassies Bungalow kam, sah er Eddie Lyle über den Parkplatz zur Haustür eilen. »Na, dem pressiert’s aber«, brummelte er vor sich hin und grinste. »Lyle!«

  Eddie Lyle drehte sich um und wartete, bis Kincaid ihn eingeholt hatte. Seine Brillengläser blinkten im Licht des Portals.

  »Hat Sie heute nachmittag jemand vernommen?« fragte Kincaid im Konversationston, als sie auf gleicher Höhe waren.

  »Ja, ja, natürlich«, antwortete Lyle auf seine pingelige, leicht nörgelnde Art. »Ich war gerade von meiner Wanderung zurückgekommen, als ich von dem Sturz der armen Miss Alcock auf der Treppe hörte.« Er schüttelte den Kopf, und Kincaid war nicht sicher, ob er über Hannahs Unfall entrüstet war oder über die nachmittägliche Belästigung.

  »Sie waren wandern?«

  »Ja, ich war oben auf dem Sutton Bank. Ein herrlicher Tag.« Lyle begleitete seine Worte mit einer vagen Geste. »Janet hatte sich nach dem Mittagessen hingelegt, und ich wollte ihr ein bißchen Ruhe gönnen. Sie hatte sich in letzter Zeit nicht wohl gefühlt, wissen Sie«, fügte er in vertraulichem Ton hinzu. »Seit Mutters Tod hat sie immer wieder diese Anfälle von Müdigkeit. Und jetzt, da hier all diese gräßlichen Dinge passieren, ist sie völlig erschöpft.«

  »Ja, das kann ich verstehen.« Kincaid nickte teilnahmsvoll, überzeugt, daß ein Zusammenleben mit Edward jeden erschöpfen würde.

  »Aber ich habe Janet gesagt, daß wir bis zum Ende unserer Woche am Samstag bleiben.« Lyle stach mit dem Zeigefinger in die Luft, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Chief Inspector Nash hätte zwar sicher nichts dagegen, wenn wir vorher abreisen würden, aber wenn ich für etwas bezahlt habe, möchte ich auch den vollen Gegenwert haben. So«, sagte er mit einem Blick auf seine Uhr, »und jetzt muß ich gehen. Meine Frau hat sicher schon das Essen fertig, und ich mag es nicht, wenn es kalt ist.« Er winkte Kincaid herablassend zu und eilte geschäftig die Treppe hinauf.