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Als Kind hatte Gemma St. John’s Wood faszinierend gefunden. Dort wohnten Popstars und Fernsehgrößen. Der Name selbst erinnerte an Märchen und beschwor Bilder von dunklen, ausladenden Bäumen und versteckten Hexenhäuschen.

  Die Wirklichkeit war, wie sie entdeckte, als sie ein wenig älter war, eine herbe Enttäuschung. Ganz gewöhnliche Häuser des gehobenen Mittelstands in ganz gewöhnlichen Straßen, denen sehr schnell immer mehr Hochhäuser mit Luxuswohnungen auf die Pelle rückten. Sie fand die Adresse, die Kincaid Margaret Bellamy am Telefon herausgekitzelt hatte, und nicht allzuweit entfernt einen Parkplatz.

  Das Haus aus weißem Stein mit einem pseudogriechischen Portikus sah teuer aus und nicht sonderlich gepflegt. Aus der Nähe betrachtet, zeigte die weiße Tünche rissige blätternde Stellen, und in den Sprüngen des gepflasterten Gartenwegs wucherte das Unkraut.

  Gemma läutete und zog im Wind fröstelnd ihre Jacke zusammen, während sie wartete. Das dumpf hallende Echo des Klingeltons verlor sich, und Gemma wollte schon ein zweitesmal läuten, als sie das schnelle Klappern hoher Absätze auf hartem Fußboden hörte. Die Tür flog auf. Eine dünne Frau mit einem Helm aus wasserstoffsuperoxidblondem Haar stand vor Gemma. Sie trug einen weißen Overall mit goldenem Strahlenkranz auf der Brust.

  »Ja bitte?« Die Frau begann mit dem Fuß, der in einer hochhackigen goldenen Sandale steckte, ungeduldig auf die Fliesen zu klopfen.

  Gemma fegte alle Spekulationen darüber, wie man auf solchen Absätzen gehen konnte, ohne sich einen bleibenden Wirbelsäulenschaden zu holen, beiseite, sah der Frau ins Gesicht und zeigte ihr lächelnd ihren Dienstausweis. »Polizei. Ich würde Ihnen gern einige Fragen stellen.« Kincaid hatte gesagt, Roger Leveson-Gower lebe mit seiner Mutter zusammen. Als die Frau den Mund zu einer Erwiderung öffnete, sagte Gemma: »Sind Sie Mrs. Leveson-Gower?«

  »Ja, natürlich. Was um alles in der Welt...«

  »Vielleicht darf ich einen Moment eintreten.« Gemma hatte ihren Fuß in dem marineblauen Slipper schon ins Foyer des Hauses geschoben und schlängelte sich nun gewandt ganz hinein. »Ich werde Sie nicht lange aufhalten.« Sehr bestimmt schloß sie die Tür und dachte dabei, wenn sie je bei der Polizei aufhören sollte, hätte sie als Staubsaugervertreterin die besten Chancen.

  Mrs. Leveson-Gower sperrte den Mund auf, um zu protestieren, ließ es dann jedoch bei einem Achselzucken bewenden. »Nun gut, wenn es sein muß. Aber beeilen Sie sich - ich habe einen Termin.« Sie sah demonstrativ auf ihre Uhr, als sie Gemma durch die offene Tür auf der rechten Seite des Hauses führte.

  Weiß, weiß und nochmals weiß - Spiegelwände, weiße Sofas und Sessel, ein flauschiger weißer Teppich. Das Schloß der Schneekönigin, dachte Gemma. Mrs. Leveson-Gower ließ sich in eines der weißen Sofas sinken, schlug die Beine übereinander und stemmte einen Fuß an die Kante eines niedrigen Tischs aus Glas und Chrom. Sie forderte Gemma nicht auf, Platz zu nehmen.

  Gemma ließ sich auf der Kante des gegenüberliegenden Sofas nieder und nahm Block und Stift aus ihrer Handtasche, ohne sich von der offenkundigen Ungeguld der Frau aus der Ruhe bringen zu lassen.

  »Mrs. Leveson-Gower«, begann sie und sprach den Namen Lush-n-goa aus, wie Kincaid es sie gelehrt hatte. Die werden sich über Sie lustig machen, wenn Sie ihn falsch ( aussprechen, hatte er gesagt, und Sie können es sich nicht leisten, daß Roger die Oberhand gewinnt. »Lebt Ihr Sohn Roger hier bei Ihnen im Haus?«

  Mrs. Leveson-Gower begann rhythmisch mit einem Fuß zu wippen, doch ihr Ton blieb angriffslustig. »Roger? Wozu wollen Sie das wissen?«

  »Lediglich eine Routineuntersuchung, Mrs ...«

  »Untersuchung worüber?« Der wippende Fuß hielt plötzlich still.

  Hätte ihr Gesicht nicht diesen Stempel ärgerlicher Gereiztheit getragen, so wäre Mrs. Leveson-Gower eine auffallend schöne Frau gewesen. Eine äußerst gutkonservierte Endvierzigerin, schätzte Gemma, und die Straffheit der Haut über den Knochen sprach von teuren Liftings.

  »Eine Bekannte Ihres Sohnes ist am vergangenen Donnerstagabend unter zweifelhaften Umständen gestorben. Wir müssen die einzelnen Aussagen vergleichen. Ist er...«

  »Und von welchem Revier kommen Sie, Sergeant? Zeigen Sie mir doch noch einmal Ihren Ausweis.« Gemma zog gehorsam den Ausweis aus ihrer Handtasche und reichte ihn der Frau. »Ich komme nicht von Ihrem zuständigen Revier, Mrs. Leveson-Gower. Ich komme von New Scotland Yard.«

  »Welche Abteilung?«

  Eine solch informierte Frage hatte Gemma nicht erwartet. »Morddezernat.«

  Mrs. Leveson-Gower schien plötzlich zu erstarren, und Gemma konnte förmlich hören, wie sich die kleinen Rädchen in ihrem Hirn schnurrend drehten.

  »Ohne unseren Anwalt werden Sie nicht mit meinem Sohn sprechen.« Die Frau stand auf und steuerte auf die Tür zu. »Sie können einen Termin mit ihm vereinbaren...«

  »Du sorgst dich um mich, Mutter? Das ist wirklich nicht nötig.«

  Der Mann erschien so genau im richtigen Moment, daß Gemma sicher war, daß er draußen vor der Tür gelauscht hatte. Er schenkte Gemma ein flüchtiges Lächeln mit blitzenden, ebenmäßigen Zähnen, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Mutter richtete. Schweigend fixierten die beiden einander wie zwei Duellanten, bis schließlich Mrs. Leveson-Gower ohne ein Wort und ohne einen Blick zu Gemma aus dem Zimmer ging.

  Roger Leveson-Gower, und Gemma hatte keinen Zweifel daran, daß er es war, kam gemächlichen Schrittes durch das Zimmer und blieb in lässiger Haltung vor ihr stehen. Mit einem deutlichen Geräusch machte sie ihren Mund wieder zu. Kincaid, dieser hinterhältige Bursche hätte sie wenigstens warnen können. Dieser Mann sah ja absolut atemberaubend aus. Sie konnte die Ähnlichkeit mit der Mutter erkennen, insbesondere in Haut- und Haarfarbe - die Mutter hatte wahrscheinlich das gleiche lohfarbene Haar gehabt, ehe sie zum Wasserstoffsuperoxid gegriffen hatte -, doch bei ihm hatten sich alle Linien und Flächen zu Vollkommenheit vereinigt.

  »Ich bin überzeugt, diese Sache, worum auch immer es sich handelt, lohnt einen Anwalt gar nicht, Constable.« Er setzte sich auf die Armlehne des Sofas Gemma gegenüber, so daß sie weiterhin zu ihm aufsehen mußte.

  »Sergeant«, sagte sie scharf, senkte den Blick und klappte ihren Block auf in dem Bemühen, das Gespräch selbst in die Hand zu nehmen. »Es handelt sich um den vergangenen Donnerstag abend, Mr. Leveson-Gower. Können Sie mir sagen, wo Sie gewesen sind?«

  »In welchem Zusammenhang interessiert Sie das?« erkundigte sich Roger in einem Ton milden Interesses.

  »Im Zusammenhang mit dem Tod Jasmine Dents und der Frage, wie weit Ihre Freundin Margaret Bellamy damit zu tun hat. Miss Bellamy hat uns gesagt, daß sie mit Jasmine Dent vereinbart hatte, ihr bei einem Selbstmord zu helfen, daß Miss Dent es sich jedoch anders überlegt hätte und sie sie am Donnerstag nach dem späten Nachmittag nicht mehr gesehen habe. Können Sie das bestätigen?«

  »Letzten Donnerstag?« Roger runzelte in angestrengter Konzentration die Stirn. »Nein. Ich hatte an dem Abend zu tun, und danach war ich mit Freunden unterwegs. Aber Meg hätte das sowieso nie getan. Sie hat gar nicht den Mut dazu.«

  »Ach, sie hat es mit Ihnen besprochen?«

  Roger lächelte und ließ Gemma am Grund seiner Erheiterung teilhaben. »O ja, und sie war so schrecklich nobel dabei, quälte sich ständig mit Fragen über ihre moralische Pflicht, Leiden zu lindern.«

  »Und das hat Sie nicht beunruhigt? Sie haben nicht versucht ihr das Ganze auszureden? Beihilfe zum Selbstmord ist ein Verbrechen.«

  »Es war doch alles nur heiße Luft, wie ich schon sagte, Sergeant. Meg könnte nicht einmal einen verletzten Vogel töten. Zwischen Plan und Ausführung klafft eine Riesenlücke.« Er stand auf, streckte sich geschmeidig wie eine Katze und ließ sich dann wieder auf der Armlehne des Sofas nieder.

  »Und was treiben Sie so abends, Mr. Leveson-Gower?«

  Roger lachte kurz auf. »Guter Gott, Sie sagen das, als wäre ich ein Zuhälter. Warum so entrüstet, Sergeant?«

  Gemma spürte, wie sie rot wurde. Auch in ihren eigenen Ohren hatte ihr Ton selbstgerecht geklungen, aber der Mann forderte sie förmlich dazu heraus, alle Stacheln aufzustellen. Sie holte einmal tief Luft, um sich auf ihre Vernehmungstechnik zu konzentrieren, dann sah sie ihn freundlich lächelnd an und legte die Betonung auf das erste Wort. »Sind Sie ein Zuhälter, Mr. Leveson-Gower?«

  »Damit kann ich leider nicht dienen, Sergeant.« Sein Ton klang immer noch erheitert. »Ich mache die Installationen in Nachtlokalen und Discos. Beleuchtung, Tontechnik und so, Sie wissen schon. Die Arbeitszeit gefällt mir.«

  »Und das haben Sie auch Donnerstagabend getan?«

  »Ja. In einem Laden namens The Blue Angel.« Roger zog routiniert eine Augenbraue hoch. »Sie werden sicher die Adresse haben wollen? Und die Namen meiner Kumpel?«

  »Richtig.«

  Er nannte ihr eine Adresse in Hammersmith und fügte hinzu: »Jimmy Dawson finden Sie an der Tankstelle gleich beim Kreisverkehr Shepherd’s Bush. Wir waren an der Bar bis die Show zu Ende war.«

  »Und um welche Zeit war das ?« fragte Gemma mit gezücktem Stift.

  Roger zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich hatte ein bißchen was getrunken und ich trage keine Uhr.« Er hatte die Ärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt und hielt Gemma jetzt ein nahtlos gebräuntes Handgelenk unter die Nase.

  »Und weiter?«

  »Danach bin ich nach Hause gefahren und zu Bett gegangen, wie sich das für einen braven Jungen gehört.«

  Gemma zeigte ihre Skepsis. »Ach, wirklich ? Und kann Ihre Mutter das bestätigen?«

  »Es ist nicht meine Gewohnheit, mich bei meiner Mutter an- und abzumelden. Außerdem war sie an dem Abend aus, wenn ich mich recht erinnere.«

  Gemma spürte die Gereiztheit, die sich hinter der lässigen, leicht herablassenden Erwiderung verbarg. Die Tatsache, daß er im Haus seiner Mutter lebte, schien ein wunder Punkt zu sein. Sie nutzte ihren Vorteil aus. »Und bei Margaret haben Sie sich auch nicht gemeldet? Nicht einmal telefonisch?«

  »Nein. Unsere Beziehung ist nicht solcher Art, Sergeant.« Herablassung triumphierte über Gereiztheit. Sein Ton besagte, Gemma sei ziemlich naiv, wenn sie erwarte, daß er irgend jemand Rechenschaft ablege. Mit der gleichen katzen-haften Geschmeidigkeit wie zuvor stand er auf. »Ist das alles, Sergeant?«

  Gemma blieb auf dem Sofa sitzen, entschlossen, sich nicht von ihm das Ende des Gesprächs aufzwingen zu lassen. »Sie waren nicht zufällig an dem Abend, nachdem Sie das Lokal verlassen hatten, in der Carlingford Road, Mr. Leveson-Gower? Sie haben nicht zufällig Jasmine Dent einen Besuch abgestattet?«

  Roger lächelte, und Gemma hatte das unangenehme Gefühl, daß sie selbst die Dumme war. »Ich war nie in der Carlingford Road, Sergeant. Ich habe Jasmine Dent niemals gesehen.«

 

Jimmy Dawson hatte einen Pferdeschwanz und sah aus wie Ende Zwanzig, aber das waren die einzigen offenkundigen Ähnlichkeiten zwischen ihm und seinem Freund Roger Leveson-Gower. Dawsons breiter Dialekt ließ keinen Zweifel daran, daß sie nicht dieselben Schulen besucht hatten.

  »Hey, was soll das?« fragte er mißtrauisch, nachdem Gemma ihn in der Werkstatt unter einem Auto hervorgeholt und ihm ihren Dienstausweis gezeigt hatte.

  »Es geht um Roger Leveson-Gower.«

  »Ach, den.« Dawson machte eine wegwerfende Handbewegung, und Gemma sah, wie er sich entspannte. Er wies mit einer ruckhaften Kopfbewegung zum verglasten Büro, und sie folgte ihm, dankbar, als die Tür sich schloß und das Verkehrsgedonner von Shepherd’s Bush nur noch gedämpft zu hören war. Dawson wies sie zu einem rissigen Ledersessel, wischte sich die Hände an einem schmierigen Lappen ab und zündete sich eine Zigarette an. »Was hat er denn angestellt?«

  Gemma ignorierte die Frage. »War er am vergangenen Donnerstag abend mit Ihnen zusammen, Mr. Dawson?«

  Dawson lehnte sich an den Schreibtisch und blies Rauch durch seine Nasenlöcher in die Luft, während er überlegte. »Ja. Und ich kann Ihnen auch sagen, wann er sich verdrückt hat. Er ist nämlich abgehauen, als er dran gewesen wäre, ’ne Runde zu schmeißen.«

  »Um welche Zeit war das?«

  »Hm, die Band hat um neun mal Pause gemacht - nicht viel später, würd’ ich sagen.«

  »Und hat er gesagt, wohin er wollte?« fragte Gemma ohne große Hoffnung.

  »Nein. Wir haben ihn wegen seiner Kleinen hochgenommen, aber er ist sauer geworden.«

  »Ach, Sie kennen Margaret also?« fragte Gemma erstaunt.

  Dawson zuckte die Achseln. »Sie ist ganz in Ordnung. Er bringt sie manchmal mit.«

  »Woher kennen Sie ihn, Jimmy - darf ich Sie Jimmy nennen?« fragte Gemma, die die Freundschaft zwischen diesen Männern immer unwahrscheinlicher fand.

  »Ich spiel’ in ’ner Band, wissen Sie.« Dawson grinste mit nikotingelben Zähnen und klimperte auf einer imaginären Gitarre. »Und er installiert in den Klubs die Geräte für uns, Beleuchtung und Ton.«

  »Sie sind also nicht eigentlich Freunde?«

  »Nee. Er ist eben da, und wenn’s ans Zahlen geht, drückt er sich meistens, der Gute. Aber er erzählt dauernd, was er alles tut, wenn er erst mal die Kohle hat.«

  »Kohle?« wiederholte Gemma.

  »Genau.« Jimmy Dawson drückte seine Zigarette in dem Blechaschenbecher auf dem Schreibtisch aus, und der metallische Geruch stieg Gemma beißend in die Nase. »Wenn er sein Geld kriegt.«