15

 

Von Suffolk nach Sussex nach Wiltshire nach Oxfordshire, Ringelringel Rosen. Gemma wurde schwindlig, wenn sie an die letzten zwei Tage dachte. Und müde.

  Ihre Kleider sahen jetzt schon aus, als hätte sie in ihnen geschlafen, und dabei war dies erst ihr zweiter Besuch an diesem Morgen. Lavender Lane, Wildmeadow Estates. Puh! Der Name paßte auf diese neue Siedlung am Stadtrand von St. Albans wie die Faust aufs Auge. Kästen von Häusern, die wie geklont aussahen, zogen sich in akkuraten Reihen über das Land, aus dem man alles herausgerissen hatte, was mit wilden Wiesenblumen nur die entfernteste Ähnlichkeit hatte. Sahen allerdings nicht billig aus - Mr. Edward Lyle mußte recht gut verdienen.

  Das Haus der Lyles war von den Häusern seiner Nachbarn nicht zu unterscheiden. Gemma hielt den Wagen an und vermerkte sorgfältig den Meilenstand in ihrem Dienstheft. Kincaid vergaß das dauernd, und sie ärgerte sich immer wieder darüber. Vielleicht konnte man es sich mit dem Gehalt eines Superintendenten leisten, so nachlässig zu sein. Dann fragte sie sich seufzend, warum sie eigentlich so schlecht gelaunt war. Sie arbeitete nicht gern allein, das war einer der Gründe. Sie hatte sich an Kincaids Gesellschaft gewöhnt und fand sie merkwürdigerweise durchaus angenehm - merkwürdigerweise deshalb, weil sie sich erinnerte, wie nervös sie gewesen war, als sie ihm zugeteilt worden war.

  Und außerdem hatte sie bei diesem Fall - wenn man es überhaupt einen Fall nennen konnte - das Gefühl, ständig im dunkeln zu tappen. Wie sollte sie Nachforschungen anstellen, wenn sie gar nicht wußte, wonach sie forschen sollte? Der Ort der Handlung lag in Yorkshire, und sie hatte keinen blassen Schimmer, ob die fragmenthaften Informationen, die sie ausgrub, überhaupt von Nutzen waren.

  Die Lavender Lane wirkte wie ausgestorben, als hätten sämtliche Bewohner plötzlich ihre Sachen gepackt, um zum Mond zu fliegen. Nirgends ein Kinderwagen, in keinem der Vorgärten stehengebliebene Kinderfahrräder oder Tretautos. Gemma klingelte bei den Nachbarn zu beiden Seiten, jedoch ohne Erfolg. Natürlich, die Hypotheken hier konnten nur Doppelverdiener bezahlen - die Mütter waren wahrscheinlich alle irgendwo bei der Arbeit und die Kleinen beim Babysitter oder im Hort. Sie wollte gerade entmutigt zu ihrem Auto zurückkehren, als sie sah, wie sich in einem der Fenster des Hauses gegenüber ein Store bewegte.

  Die Frau, die auf Gemmas Läuten öffnete, trug Jeans und T-Shirt. Auf ihrer Hüfte hockte ein etwa zweijähriger Junge mit schmutzigem Gesicht. »Wenn Sie die Lyles suchen«, sagte sie und musterte Gemma mit neugierigem Blick, »die sind im Urlaub.«

  »Ich weiß. Wir führen im Zusammenhang mit gewissen Ereignissen an ihrem Urlaubsort eine Routineuntersuchung durch. Kennen Sie die Lyles? Vielleicht können Sie mir weiterhelfen.«

  »Janet ist doch nichts passiert?« Das Kind hörte das Erschrecken in der Stimme der Mutter und begann zu quengeln.

  »Nein, nein, Mrs. Lyle geht es gut, aber es hat zwei unerklärliche Todesfälle gegeben.«

  »Unerklärlich? Sie meinen Unfälle?« Die Frau faßte ihr Kind fester, und der Kleine begann nun wirklich zu brüllen.

  »Wir sind nicht sicher.« Gemma bemühte sich, das Heulen des Kindes zu übertönen. »Deshalb machen wir diese Untersuchungen. Wenn ich Ihnen vielleicht ein paar Fragen...«

  »Dann kommen Sie doch lieber herein.« Die Frau schaukelte den Jungen auf ihrer Hüfte und sagte: »Schon gut, Malcolm, schon gut.« Dann bot sie Gemma die freie Hand. »Ich bin Helen North.« Sie wies mit dem Kopf zum rückwärtigen Teil des Hauses. »Kommen Sie mit in die Küche. Janet und ich sind ganz gut befreundet, wenn er nicht dabei ist«, bemerkte sie über ihre Schulter, »und es täte mir sehr leid, wenn ihr etwas zugestoßen wäre. Sie hat es sowieso schon schwer genug gehabt, das arme Ding.«

  Gemma folgte ihr. Helen, fand sie, war ein recht altmodischer und eleganter Name für diese lässige junge Mutter. Helen North führte Gemma an einen kleinen Tisch in der hellen Küche und setzte ihren kleinen Sohn mitten in einem Durcheinander von Bauklötzen nieder.

  »Möchten Sie vielleicht eine Tasse Tee?«

  »Gern, danke.« Im allgemeinen dankte Gemma Gott für eine starke Blase - bei ihrer Arbeit mußte sie mehr Tee trinken als ein Pastor -, aber diesmal hatte die Aussicht auf eine Tasse Tee ausnahmsweise etwas Verlockendes.

  »Gut«, sagte Helen. »Ich setze nur das Wasser auf.«

  Der schwache Singsang in der Stimme der Frau war bei den letzten Worten ausgeprägter geworden.

  »Sie sind Irin«, sagte Gemma.

  »Aus County Cork.« Helen lächelte. »Ich geb’ mir Mühe, nicht so zu reden, als wäre ich gerade erst herübergekommen, aber es bricht eben immer wieder durch, wenn ich nicht aufpasse. Würden Sie glauben«, sie zauste die roten Locken ihres Sohnes, »daß er das Haar von seinem Vater hat? Und dabei bin ich doch die Irin.«

  »Und mein Sohn«, antwortete Gemma, »hat Haare wie ein Skandinavier, so hell und so glatt.« Sie lachten gemeinsam.

  »Vielleicht ist das der Grund, weshalb Eddie Lyle mich nicht mag«, sagte Helen, als sie Gemma eine Tasse hinstellte und sich ihr gegenüber setzte. »Iren sind in seinen Augen nicht ganz gesellschaftsfähig. Er war Berufssoldat, obwohl man das kaum glauben würde, wenn man ihn so sieht. Er war in Nordirland stationiert, und für ihn sind alle Iren eine miese Bande.

  Oder vielleicht kommt es auch daher, daß mein Mann für den Bauunternehmer hier arbeitet.« Mit einer raschen Geste deutete sie zur Siedlung hinaus. »Ich frag’ mich wirklich, woher der Mann seinen Hochmut nimmt. Seine Eltern waren auch nur kleine Wirtsleute. Ich finde das völlig in Ordnung, aber Janet sagt immer, er mag es nicht, wenn man darüber spricht. Meiner Ansicht nach ist der Mann größenwahnsinnig.«

  Gemma entdeckte mehr als ein Fünkchen Boshaftigkeit in Helen Norths Geplauder. Edward Lyle mußte sie schon sehr verschnupft haben.

  »Wie kommt es, daß Sie und Janet befreundet sind?«

  »Wir sind hier in der Straße die beiden einzigen Frauen, die zu Hause bleiben. Da kriegt man richtig Sehnsucht nach einem Erwachsenengespräch.« Sie neigte den Kopf leicht zur Seite und sah Gemma nachdenklich an.

  »Manchmal beneide ich Frauen wie Sie, die im wirklichen Leben stehen und mit Erwachsenen zu tun haben.«

  »Ich glaube nicht, daß Sie mich so sehr beneiden wie ich Sie«, erwiderte Gemma. Sie berührte leicht das Haar des umherspazierenden kleinen Jungen.

  »Naja, es war ja auch meine Entscheidung, zu Hause zu bleiben und lieber mit etwas weniger auszukommen. Ich sollte mich wirklich nicht beschweren. Bei Janet ist das etwas anderes. Er hat ihr nicht erlaubt zu arbeiten, nicht einmal, als Chloe zur Schule kam. Das sei nicht standesgemäß! Ich bitte Sie! Und dabei ist sie gelernte Krankenschwester. Mein Gott, ist das eine Verschwendung.«

  Helen schwieg einen Moment, ihr Gesicht voller Verachtung. »Aber als er seine alte Mutter zu ihnen ins Haus holte«, fuhr sie dann gedankenvoll fort, »da kam ihm ihre Ausbildung grad recht. Oh, ja«, beteuerte sie, als hätte Gemma Zweifel geäußert, »die alte Dame konnte man am Ende überhaupt nicht mehr allein lassen, und wer war da besser geeignet als Janet, sich um sie zu kümmern? Die alte Dame hat nämlich getrunken, wissen Sie. Angeblich soll sie angefangen haben, als ihre einzige Schwester starb. Die war damals noch sehr jung. Jedenfalls hat Janet es mir so erzählt. Und sie schluckte viel zu viele Medikamente. Sie ließ sich von irgendeinem alten Kurpfuscher behandeln, der sie mit Tabletten vollgestopft hat. Janet war wütend, aber sie konnte nichts dagegen tun.«

  »Eine gefährliche Kombination«, sagte Gemma.

  »Das kann man wohl sagen«, antwortete Helen. »Das hat sich ja dann auch gezeigt.«

  »Wieso?«

  , »Ach, Sie wissen nichts von dem Unfall?« Gemmas verständnisloser Gesichtsausdruck beantwortete diese Frage. »Eine tragische Geschichte.« Helen schnalzte bedauernd mit der Zunge und schüttelte den Kopf. »Die alte Dame nahm eines Tages, als Janet zu Fuß zum Einkaufen gegangen war, Janets Wagen. Sie hat einen Riesenunfall gebaut und war sofort tot. Später haben sie festgestellt, daß sie getrunken und Tabletten geschluckt hatte.«

  »Wie schrecklich.« Gemma beugte sich auf ihrem Stuhl vor und sagte teilnahmsvoll: »Für Janet muß das ja scheußlich gewesen sein.«

  »Ja, sie machte sich entsetzliche Vorwürfe. Sie hätte dies tun sollen, sie hätte jenes tun sollen. Als hätte sie die alte Frau rund um die Uhr überwachen können. Und ihn hätten sie sehen sollen, ganz der gramgebeugte Sohn. Aber als sie noch am Leben war, hat er sie kaum eines Wortes gewürdigt. Ich bin Janets wegen zur Beerdigung gegangen. Da stand er ganz würdevoll und sehr korrekt am Grab, und eine Krokodilsträne tropfte ihm aus dem Auge. Zum Kotzen, sage ich Ihnen.« Helen schüttelte mit gekrauster Stirn den Kopf. »Warum schießt sie den Kerl nicht in den Wind, können Sie mir das sagen?«

  Die Frage schien rhetorisch zu sein, dennoch schüttelte Gemma den Kopf. »Nein. Tut mir leid. Ist es schon lange her, daß die alte Mrs. Lyle gestorben ist?«

  »Das war im letzten Winter. Und nicht lange danach kam er mit diesem Urlaubsplan daher. Er sagte, er wolle Janet damit aufheitern, aber sie war überhaupt nicht scharf darauf. Ich glaube eher, er wollte seinen Chef damit beeindrucken. Janet hat mir erzählt, daß er sich das Geld leihen mußte, um ihre Woche zu kaufen. Und dann konnte er nicht mal eine Zeit bekommen, in der Chloe schulfrei gehabt und mitkommen hätte können.«

  Der kleine Junge begann quengelig zu werden und an der Bluse seiner Mutter zu zupfen. Er hatte genug davon, übersehen zu werden. Gemma trank ihren Tee aus und machte Anstalten zu gehen. »Vielen Dank für den Tee und dafür, daß Sie sich die Zeit genommen haben.«

  Helen North wurde plötzlich verlegen, die Nachwirkung allzu offenherziger Geständnisse. »Ich hätte nicht sagen sollen... Es ist Janet gegenüber wirklich nicht fair...«

  Gemma beruhigte sie. »Sie haben nicht ein Wort gesagt, das ich nicht selbst gesagt hätte. Ich habe eine Nachbarin, die sich um die Mutter ihres Mannes kümmert - Sie können sich nicht vorstellen, was sie sich von der alten Dame alles gefallen lassen muß...« Als sie zum Ende ihrer kleinen Anekdote kam, hatte Helen ihr Gleichgewicht wiedergefunden.

 

Kincaid stand auf seinem Balkon, wie ihm das, wenn er nachdenken wollte, zur Gewohnheit geworden war. Er schlug seinen Hemdkragen zum Schutz gegen das kühle Lüftchen hoch, das ihm um die Ohren strich. Das feuchte, unentschlossene Wetter entsprach seiner Stimmung.

  Es fiel ihm sehr schwer, sich an die Vorstellung zu gewöhnen, daß Hannah Patricks Mutter war. Niemals hätte er sie für alt genug gehalten, einen erwachsenen Sohn zu haben. Und er hatte die beiden zusammen gesehen, hatte gesehen, wie da ein Funke übergesprungen war, hatte sogar eine schwache Regung von Neid verspürt. Hatte auch Hannah das gesehen? Kein Wunder, daß sie so durcheinander gewesen war.

  Lieber Gott, wozu hatte er Hannah getrieben? Er hatte sie mit einer Art Schocktherapie dazu bewegen wollen, ihm wichtige Informationen zu geben, von denen er vermutete, daß sie sie zurückhielt; keinesfalls hatte er sie Hals über Kopf in eine Konfrontation mit Patrick treiben wollen. Aber dazu war es offenbar gekommen; sie waren beide nicht da, das hatte er festgestellt. Hannah hatte ihn mit solcher Dringlichkeit aus ihrem Apartment hinauskomplimentiert, daß ihm gar nichts anderes übriggeblieben war, als zu gehen. Als er ein paar Minuten später zurückgegangen war, um noch einmal zu versuchen, sie zum Reden zu bringen, hatte er vom Fenster auf dem Treppenabsatz die Bremslichter ihres Wagens aufleuchten sehen, als der auf die Straße hinausgefahren war.

  Marta Rennie, nüchtern und mürrisch, wußte nicht, wo ihr Mann war, und es schien ihr auch gleichgültig zu sein. »Er schaut sich irgendwelche Sehenswürdigkeiten an«, sagte sie spöttisch. »Mein Gott, geht mir das auf die Nerven.« Und damit hatte sie die Tür geschlossen, noch ehe Kincaid weitere Fragen stellen konnte.

  Es schien ihm, daß alles, was er seit Beginn dieser Affäre getan hatte, schiefgegangen war. Er mochte sich drehen und wenden wie er wollte, stets gingen seine Schläge ins Leere; es war Schattenboxen mit einem unsichtbaren Feind. Er hätte sich anhören sollen, was Penny MacKenzie zu sagen gehabt hatte. Er hätte seine Gedanken über Patrick Rennie für sich behalten sollen.

  Er hätte Hannah niemals aus den Augen lassen dürfen.

  Das Summen des Telefons riß ihn aus seinen Selbstvorwürfen. Er rannte hinein, riß den Hörer von der Gabel, hörte Gemmas Stimme. »Was denken Sie sich eigentlich dabei, mich in der ganzen Weltgeschichte herumzuhetzen?«

  Kincaid lachte, aufgemuntert durch den herben Ton ihrer Stimme. »Das weiß ich ehrlich gesagt selber nicht. Was gibt’s denn?«

  »Das kann ich Ihnen sagen - mir klebt schon der Autositz am Hintern.«

  »Ach so, Mitleid wollen Sie? Also von mir bekommen Sie das nicht. Sie tun wenigstens etwas.«

  »Da haben Sie recht. Ich war heute morgen in aller Frühe bei Mrs. Marjorie Frazer in ihrem Büro in Finchley. Sie war nicht erfreut, mich zu sehen, das kann ich Ihnen versichern. Saß anfangs sehr auf ihrem anwaltschaftlich hohen Roß, Aber dann hat sie sich’s anscheinend überlegt und ist zu dem Schluß gekommen, daß es nicht schaden könnte, ihren Ex-Mann richtig anzuschwärzen. Sie sagt, anfangs habe sie das Sorgerecht für die Tochter Angela gehabt, aber dann sei sie es müde geworden, immer die Böse zu sein, und habe sich überlegt, daß Angela, wenn sie mit Graham zusammenlebe, vielleicht merken würde, daß er auch nicht der Supervater ist.«

  »Ich würde sagen, das Ziel hat sie erreicht. Es wundert mich allerdings, daß Angela je eine hohe Meinung von ihrem Vater gehabt haben soll.«

  »Aber jetzt scheint Mrs. Frazer es sich wieder anders überlegt zu haben. Angela ist im letzten Trimester von der Schule geflogen, einem Nobelinternat. Wegen Drogen, würde ich sagen, Mrs. Frazer hat allerdings nichts darüber verlauten lassen. Wie dem auch sei, jetzt habe sie die Nase voll, sagte sie. Sie ist jetzt entschlossen, das alleinige Sorgerecht zu erkämpfen und ihm selbst das Besuchsrecht zu verweigern.« Gemma machte eine Pause. »Ich hatte nicht den Eindruck, daß es Mrs. Frazer unbedingt um das Wohl ihrer Tochter zu tun ist. Es geht mehr um die Wut auf ihn.« Gemma schien sowohl verwundert als auch empört über einen solchen Mangel mütterlicher Zuwendung.

  »Die arme Angela«, sagte Kincaid. »So ist das also. Kein Wunder, daß sie nach ein bißchen Freundlichkeit lechzt.«

  »Er scheint nicht gerade ein angenehmer Typ zu sein. Ich habe mich bei ein paar Leuten im Versicherungsgeschäft umgehört. Er ist nicht sehr beliebt. Er hat anscheinend die Neigung, andere niederzumachen. Und es wird getuschelt, daß seine Geschäfte nicht ganz sauber sind - etwas Konkretes habe ich allerdings nicht erfahren.« Sie machte eine kleine Pause, um ihre Worte wirken zu lassen, und Kincaid wartete geduldig. Er hatte gelernt, daß es das beste war, Gemma ihre Geschichten auf ihre Weise erzählen zu lassen. »Es heißt außerdem, daß er kokst. Halten Sie’s für möglich, daß Angela sich an Papas Vorräten vergriffen hat?«

  »Kann schon sein«, antwortete Kincaid.

  »Glauben Sie«, sprach Gemma etwas zögerlich weiter, »daß auch sexueller Mißbrauch vorliegen könnte?«

  »Ich weiß nicht. Möglich ist es.« War es ganz gewiß in Anbetracht dessen, was er von der Beziehung zwischen Angela und ihrem Vater gesehen hatte. Und was, wenn Angela sich Sebastian anvertraut hatte? Das wäre eine plausible Erklärung für Sebastians heftige Abneigung gegen den Mann. Vielleicht hatte Sebastian Graham auch damit gedroht, ihn bloßzustellen, entweder vor Cassie oder seiner geschiedenen Frau.

  Gemma räusperte sich, und ihm wurde bewußt, daß er sie hängengelassen hatte. »Entschuldigen Sie, Gemma. Haben Sie noch etwas?«

  Gemma berichtete von ihrem Gespräch mit Helen North und fügte dann hinzu: »Wenn Mr. Lyle nicht eine verdammt gute Stellung hat, würde ich sagen, daß er ein wenig über seine Verhältnisse lebt - die Hypothek auf das Haus, eine Ehefrau, die nicht arbeitet, eine Tochter, die ein teures Internat besucht. Scheint übrigens ein ziemliches Ekel zu sein«, schloß sie.

  »Noch so ein vollkommener Ehemann und Vater?«

  »Und liebevoller Sohn.«

  Kincaid hörte Papier rascheln, als Gemma in ihrem Heft blätterte.

  »Wo sind Sie jetzt eigentlich?«

  »In einer Zelle in St. Albans. Miles Sterrett von der Klinik, in der Hannah Alcock arbeitet, konnte ich noch nicht erreichen. Man hat mir gesagt, er sei krank...«

  »Bleiben Sie dran, Gemma. Ich glaube, bei mir hat es gerade geklopft.«

  Der Hauch eines Klopfens, so schwach, daß er meinte, es sich eingebildet zu haben. Als er die Tür öffnete, war niemand draußen. Er kehrte zum Telefon zurück.

  »Gemma? Ich habe anscheinend schon Halluzinationen. Hören Sie, erledigen Sie heute, was Sie können, und kommen Sie dann so bald wie möglich hierher. Mir ist die ganze Sache nicht geheuer, auch wenn das vielleicht melodramatisch klingt.«

  Nachdem sie das Gespräch beendet hatten, blieb Kincaid noch einen Moment stehen und überlegte. Er fand, es sei an der Zeit, sich noch einmal mit Angela Frazer zu unterhalten.

  Kincaid war auf halbem Wege die erste Treppe hinunter, als er einen Fuß sah, einen Frauenfuß in einem pfirsichfarbenen Socken, auf der Treppe unter ihm. Nicht weit davon lag ein flacher Lederschuh. Mit einem Ruck blieb er stehen, dann raste er los.

  Hannah Alcock lag auf den Stufen unter ihm.