»Klare Sache.«
»Okay. Begründen Sie das.« Kincaid schob seinen Sessel ein Stück zurück und legte seine Füße auf die offenstehende unterste Schublade seines Schreibtischs. Er hatte mit schweren Lidern über einem Stoß Papierkram gesessen, der ihn den ganzen Nachmittag beschäftigt hatte, als Gemma wie ein frischer Windstoß ins Büro gefegt war.
»Sie hat Todesangst, das arme Ding.« Gemma unterbrach ihre Wanderung durch das Zimmer und ließ sich auf der Armlehne des Besuchersessels nieder. »Sie hat ihrem schönen Freund von dem Testament erzählt, und jetzt schwitzt sie Blut.« Sie beugte sich vor, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, und strich sich hastig eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die der Wind aus der Spange in ihrem Nacken gelöst hatte. »Nehmen wir mal an, Roger hat an dem bewußten Nachmittag auf Margaret gewartet, und als sie von Jasmine kam, erzählt sie ihm, daß Jasmine ihren Plan umgestoßen hat. Daraufhin gibt’s Streit zwischen den beiden, und schließlich geht Roger, um in dieser Kneipe seine Lampen und Mikrofone aufzustellen. Später sucht er irgendeinen Vorwand, um gehen zu können und stattet Jasmine einen Besuch ab.«
»Ich dachte, er hätte gesagt, er sei niemals dort gewesen.«
Gemma zuckte nur die Achseln. »Kann doch sein, daß er gelogen hat. Wer würde ihm dann widersprechen? Margaret vielleicht?« Sie hielt einen Moment inne, dann fuhr sie nachdenklicher fort: »Oder vielleicht hat er auch die Wahrheit gesagt. Aber was hätte ihn davon abhalten sollen, zu ihr zu gehen und sich unter irgendeinem Vorwand Zutritt zu ihrer Wohnung zu verschaffen? Ich könnte mir vorstellen, daß er sehr überzeugend sein kann.«
Kincaid lehnte sich in seinem Sessel zurück, faltete die Hände hinter dem Kopf und grinste. »Aha, Sie sind wohl auch nicht ganz immun gegen den schönen Roger, hm?«
Gemma schauderte. »Als wäre man mit einer Schlange eingesperrt. Der Kerl war mir richtig unheimlich. Dem würde ich alles Zutrauen. Könnte es nicht sein...«, sie stand auf und begann wieder, im Büro hin und her zu gehen, »daß er irgendwie von Jasmines Testament erfahren hat, noch ehe er Margaret kannte? Weshalb hätte er Margaret sonst überhaupt angequatscht? Bei dem stehen doch die Frauen sicher Schlange. Und erklären Sie mir jetzt nicht«, fügte sie errötend hinzu, als sie Kincaids Lächeln sah, »daß er die Reinheit ihrer Seele schätzt oder so was. Das glaube ich nämlich nicht.«
»Ich auch nicht, aber die Dinge liegen vielleicht trotzdem nicht ganz so einfach.« Kincaid erinnerte sich der Szene, deren Zeuge er in Margarets Zimmer geworden war. Roger genoß es, sich mit seiner sexuellen Macht über sie zu brüsten, und das war wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs. »Nur mal angenommen, Sie haben recht, Gemma. So weithergeholt es ist - woher könnte Roger von Jasmine und ihrem Testament gewußt haben?«
»Vielleicht hat er ihren Anwalt bestochen?«
Kincaid schüttelte den Kopf bei dem Gedanken an Antony Thomas. »Höchst unwahrscheinlich. Und wie soll die Sache abgelaufen sein, wenn Sie mit Ihrer ersten Vermutung recht haben und Roger an dem bewußten Abend tatsächlich Jasmine aufgesucht hat? Er hat sie nie kennengelernt, er findet irgendeinen überzeugenden Vorwand, um in ihre Wohnung zu gelangen - und dann? Sagt er, >Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich würde Ihnen jetzt gern eine Überdosis Morphium verabreichen?<« Er stach mit ausgestrecktem Finger nach Gemma. »Ich bin bereit zu schwören, daß kein Kampf stattgefunden hat.«
»Vielleicht hat er ihr erzählt, Margaret hätte sie nur ausgenützt, und daraufhin beschloß Jasmine, sich doch das Leben zu nehmen.«
»Aber er brauchte doch nur ein bißchen Geduld zu haben. Weshalb hätte er den letztendlichen Ausgang aufs Spiel setzen sollen?«
»Vielleicht hat er gefürchtet, seine Macht über Margaret zu verlieren und wollte deshalb aufs Ganze gehen«, erwiderte Gemma. Sie ließ sich in den Sessel fallen, lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander.
Einen Moment lang sahen sie einander an, jeder in seine Gedanken versunken, dann richtete sich Kincaid in seinem Sessel auf und stieß die Schreibtischschublade zu. »Keinerlei Beweise, Gemma. Überhaupt nichts. Ich gebe zu, daß Roger sich als Verdächtiger gut eignet, aber wir müssen weiter bohren. Mir ist nämlich der gute Theo auch nicht ganz geheuer.« Er sah auf seine Uhr und streckte sich. Dann zog er seinen Schlips auf und öffnete den obersten Knopf seines Hemds. »Machen wir Schluß. Ich bin erledigt. Haben Sie Lust, vor der Heimfahrt noch ein Glas zu trinken?«
Gemma zögerte, dann zog sie ein Gesicht. »Besser nicht. Ich hab’ mich die letzten Tage genug herumgetrieben. Wir sehen uns morgen.« Sie winkte kurz und ging. Aber dann schaute sie noch einmal zur Tür herein. »Vergessen Sie nicht, nach der Katze zu sehen.«
Der Wetterumschwung hatte die Wochenendhorden von der Heide vertrieben. Der Frühling hatte sein wahres Gesicht gezeigt und sie in ihre Häuser zurückgescheucht; übrig geblieben waren nur ein paar einsam wandelnde Hundebesitzer und wackere Jogger. Der Wind trieb die Abfälle, die von den Festivitäten der warmen Tage zurückgeblieben waren, traurig über das Gras. Kincaid machte nur einen kurzen Abstecher nach Hause, um sich Jeans und Anorak anzuziehen, dann ’ überquerte er am Fuß der Worsley Street die East Heath Road und tauchte in die Heide ein. Er hatte das Bedürfnis, Geist und Körper von Verkrampfungen zu befreien. Zu joggen hätte zuviel Konzentration in Anspruch genommen, darum beschloß er zu gehen. Er ging nach Norden und ließ seine Gedanken schweifen, wohin sie wollten.
Gemmas Theorien gaben ihm stärker zu denken, als er zugeben mochte. Er vertraute ihrem Instinkt, und wenn sie sagte, daß Margaret Bellamy Todesangst hatte, so glaubte er ihr das. Aber der Rest ihrer Argumente ließ sich nicht zu einem logischen Gebäude zusammenfügen - es gab da einfach zu viele Löcher.
Er mußte lächeln, als er an Gemma dachte. Manchmal amüsierte ihn ihr eifriger Enthusiasmus, manchmal irritierte ( er ihn, aber das war einer der Gründe, weshalb sie gut zusammenarbeiteten - sie tendierte dazu, sich Hals über Kopf in einen Gedanken zu stürzen, während er eher ein Tüftler war, ’ und in konzertierter Aktion erreichten sie häufig ein befriedigendes Ergebnis.
Am Teich blieb er einen Moment stehen und bewunderte die Aussicht. Frisch begrünte Zweige spiegelten sich im Wasser, und im Westen ragte der Turm der Christus-Kirche von Hampstead über den noch kahlen Wipfeln der Bäume auf. Gemma war am Wochenende anders gewesen als sonst, nicht so hitzig, ruhiger und gelassener. Helle Baumwolle auf von der Sonne leicht geröteter Haut, ein zarter Duft nach Pfirsichen, als er in Theos verstaubtem Laden neben ihr gestanden hatte - Kincaid zwinkerte und schüttelte sich wie ein Hund, der aus dem Wasser kommt.
Den Kopf gegen den Wind gesenkt setzte er sich wieder in Bewegung, um den langen Anstieg zur Höhe der Heide zu beginnen. Irgendwie hatte sich im Lauf des Wochenendes die ' Stimmung zwischen ihnen verändert. Heute hatten sie zusammengearbeitet wie immer, und er hatte schon geglaubt, er hätte sich alles nur eingebildet, aber dann hatte er ihr ungewohntes Zaudern wahrgenommen, als er vorgeschlagen hatte, nach der Arbeit noch ein Glas miteinander zu trinken. Sie taten das oft, daß sie sich noch eine Weile ins Pub setzten, um Tagesbilanz zu ziehen und für den folgenden Tag zu planen, und erst jetzt wurde ihm bewußt, wie sehr er sich immer auf diese halbe Stunde freute. Vielleicht nahm er zuviel von ihrer Zeit in Anspruch, und sie nahm ihm das übel. Er würde in Zukunft etwas vorsichtiger sein.
Ginsterzweige voll gelber Blüten verfingen sich im Stoff seiner Kleidung, als er in seiner Gedankenverlorenheit zu nahe an ihnen vorbeiging. Schön und mit Vorsicht zu genießen - wie Gemma. Er lächelte.
Auf der Höhe der Heath Street, gleich gegenüber vom Jack’s Straw Castle, war sein Weg zu Ende. Der Parkplatz des alten Pubs war bereits gerappelt voll, und als die Tür geöffnet wurde, trug ihm der Wind gedämpfte Klänge von Musik zu. Der Lärm dort drinnen lockte ihn nicht, und er wandte sich nach links, um die Heath Street hinunterzugehen. Als er die U-Bahn-Haltestelle erreichte, führte ein Impuls ihn geradeaus weiter, und er ließ die Hampstead High Street, in die er eigentlich hätte einbiegen müssen, links liegen. Nach wenigen Schritten schon öffnete sich rechts von ihm die Church Row, und er bog, vom Turm der St.-John’s-Kirche geführt wie von einer Kompaßnadel, in die kleine alte Straße ein.
Durch das massive schmiedeeiserne Tor trat er in den Kirchhof. Auf einer Bank neben dem Portal schlief ein Betrunkener und störte mit seinem Schnarchen die Stille. Kin-caid wandte sich nach links, ins dämmrige Grün des von Grabmälern besetzten Hügelhangs, der selbst jetzt, da der Frühling kaum begonnen hatte, von Pflanzen überwuchert war. Der Weg schlängelte sich unter den schwarzen Zweigen immergrüner Bäume dahin, führte an feuchten, grauen Steinen vorbei, die von Flechten überzogen waren. An seiner Lieblingsstelle, kurz vor der unteren Begrenzungsmauer machte er halt.
»John Constable, Esq., R. A., 1837« lautete die auf der Seite des Grabsteins eingemeißelte Inschrift. Hier lag Constable mit seiner Frau Mary Elizabeth, und der Stein legte ferner Zeugnis ab vom Tod ihres gemeinsamen Sohnes, John Charles, im Alter von dreiundzwanzig Jahren. Der Name Constables war mit der Geschichte von Hampstead eng verbunden; von achtzehnhundertneunzehn bis zu seinem Tod hatte er hier in verschiedenen Häusern gelebt, und es hieß, er habe darum gebeten, seine »ewige Ruhe« in dem Dorf finden zu dürfen, das er mit seinen Gemälden unsterblich gemacht hatte.
Warum Kincaid dieses viktorianische Monument tröstlich fand, hätte er nicht sagen können, aber seit er in Hampstead lebte, war es ihm zur Gewohnheit geworden, zum Nachdenken hierherzukommen, wenn er mit irgend etwas nicht klar kam. Er setzte sich auf einen Felsbrocken und rieb einen dürren Ast zwischen seinen Fingern, unter denen die trockene Borke in Staub zerfiel. Er versuchte, seinen Geist aller Gedanken zu entleeren und sich zu konzentrieren. Sein Gefühl sagte ihm, daß Margaret Jasmine wirklich geliebt hatte und ihr niemals etwas zuleide getan hätte. Bei Roger jedoch lag die Sache anders. Die Sexualität war eine mächtige und häufig fehlgeleitete Kraft, und er war nicht sicher, wie blind sich Margaret gestellt hätte, nur um ihre Beziehung mit Roger zu retten.
Und Theo? Hatte Theo seiner Schwester vielleicht mehr Groll als Liebe entgegengebracht? Er hatte allen Grund, ihr dankbar zu sein, gewiß, aber für den Menschen in seiner Widersprüchlichkeit war die Dankbarkeit häufig eine schwer ertragbare Last.
Er begann Jasmine als Mittelpunkt eines Netzwerks von Beziehungen zu sehen, von denen sie unberührt geblieben war. Was hatte sie für andere empfunden? War sie durchs Leben gegangen, ohne sich berühren zu lassen, ohne zu berühren? Sie hatte sich ihrer Krankheit mit einem solchen Gleichmut gestellt. Er konnte das leidenschaftliche junge Mädchen der Tagebücher nicht mit der Frau in Einklang bringen, die er gekannt hatte - charmant, geistreich, intelligent und verschlossener als er je gedacht hätte.
Seufzend stand Kincaid auf. Das Licht schwand rasch, die Gräber hatten ihm keine Geheimnisse anzuvertrauen, und wenn er nicht achtgab, würde er den Weg den Hügel hinauf im Dunkeln machen müssen. Ihm fiel auf, daß der Wind sich gelegt hatte, jenseits der Begrenzungshecke flimmerten die Lichter der Stadt in der Abenddämmerung.
Der Betrunkene war nicht mehr da, als Kincaid zur Kirche kam. Aus dem Inneren des Baus, durch das schwere Portal gedämpft, war der vertraute Gesang vieler Stimmen zu hören. »Abendandacht«, sagte Kincaid laut zu sich selbst. Wann war er zuletzt bei einem Abendgottesdienst gewesen? Der Gesang führte ihn zurück in die behäbige rote Backsteinkirche seiner Kindheit in Cheshire. Einzig die Abendandacht hatten seine Eltern als Kompromiß zwischen ihrer anglikanischen Erziehung und ihrer liberalen Weltanschauung gelten lassen. Oft hatte die Familie an der Abendandacht teilgenommen, aber niemals war Kincaid, soweit er sich erinnern konnte, sonntags in einer Kirche gewesen.
Leise zog er die zerschrammte, mit blauem Leder gepolsterte Tür auf und schob sich hinein. Er ging zur hintersten Bank und setzte sich. Nur ein paar verstreute Gestalten saßen auf ihren Plätzen vor ihm. Es verwunderte ihn, daß der Gottesdienst, da er so mäßig besucht war, überhaupt abgehalten wurde.
Die Stimmen der Sänger schwollen an und füllten das Kirchenschiff, und das Holz der Kirchenbänke vibrierte unter den brausenden Klängen der Orgel. Kincaid entspannte sich und beobachtete müßig den Chorleiter. Der Mann gebrauchte seine Hände wie Waffen, mit denen er dem Chor seine Zeichen um die Ohren schlug. Er sah überhaupt mehr wie ein Rugbystürmer aus als ein Chorleiter - leicht größer als einen Meter achtzig, bullige Schultern, ein kantiger Schädel.
Als der Mann einen Schritt zur Seite trat, gewahrte Kincaid in der letzten Chorreihe ein bekanntes Gesicht. Ein grauer Haarkranz um einen kahlen Scheitel, ein rosiges Gesicht, ein gepflegter grauer Schnauzbart - Kincaid war so sehr daran gewöhnt, den Major im sportlichen Tweed zu sehen, daß er ihn im weißen Chorhemd nicht gleich erkannt hatte. Wie hatte er vergessen können, daß der Major ihm erzählt hatte, er singe im Chor der St.-John’s-Kirche? Kincaid starrte interessiert nach vorn, fasziniert vom Anblick seines sonst so wortkargen Nachbarn, der hier seine Baßstimme zu freudigem Gesang erhob.
Der Gottesdienst ging zu Ende. Ein letztes »Amen« hing zitternd in der Luft, dann marschierte der Chor hinaus. Die anderen Gemeindemitglieder kamen auf ihrem Weg zum Portal an Kincaid vorüber, lächelten, warfen ihm neugierige Blicke zu. Regelmäßige Kirchgänger, dachte er, die sich fragen, wer, zum Teufel, ich bin. Als das Portal hinter dem letzten zufiel, stand Kincaid auf und ging zum Altar.
»Entschuldigen Sie.«
Der Chorleiter war gerade im Begriff, eine Tür zu öffnen, von der Kincaid vermutete, daß sie in die Sakristei führte. Erstaunt drehte er sich herum, auffallend anmutig in seinen Bewegungen für einen so massigen Menschen. »Ja?«
»Kann ich Sie einen Moment sprechen? Mein Name ist Duncan Kincaid.« Kincaid überlegte rasch. Er wollte vorläufig auf keinen Fall in amtlicher Eigenschaft auftreten, um sich nach einem Nachbarn zu erkundigen, er wollte lediglich für sich selbst Klarheit erlangen. Vielleicht waren seine Jeans, der Anorak und das vom Wind zerzauste Haar gar nicht von Nachteil.
Mit ausgestreckter Hand trat der Chorleiter auf Kincaid zu. »Ich bin Paul Grisham. Was kann ich für Sie tun?«
Kincaid hörte den vertrauten, weichen Singsang in seiner Stimme. »Sie kommen aus Wales«, stellte er fest,
Paul Grisham lachte. Seine Zähne waren groß und schief gewachsen, seine Nase war, wie Kincaid sah, gebrochen, vermutlich mehr als einmal.
»Richtig. Aus Llangynog.« Grisham neigte den Kopf zur Seite und musterte Kincaid. »Und Sie?«
»Ich bin ein Nachbar von Ihnen. Ich bin gleich auf der anderen Seite der Grenze in Nantwich aufgewachsen.«
»Ich dachte mir doch gleich, daß Sie sich nicht wie ein echter Londoner anhören.«
»Spielen Sie Rugby?« Kincaid berührte mit einem Finger seine eigene Nase.
»Ich habe gespielt, ja, als meine Knochen noch schneller wieder zusammengewachsen sind. Wrexham Union.«
Kincaid lehnte sich an die Altarschranke. Er spürte, daß Grisham darauf wartete, er möge zu seinem eigentlichen Anliegen kommen, und sagte: »Ich bin nur zufällig vorbeigekommen. Ich hatte keine Ahnung, daß Sie hier einen Abendgottesdienst abhalten.« Er wies mit dem Kopf zum Chorgestühl hinter Grisham. »War das vielleicht Major Keith, den ich da gesehen habe?«
Grisham lächelte. »Sie kennen den Major? Er ist eine unserer Stützen, auch wenn man das kaum vermuten würde, so wie er sich gibt. Er versäumt keine Probe und ist immer pünkdich wie eine wandelnde Uhr.«
»Sie proben zweimal die Woche?«
»Sonntag und Donnerstag abend.«
»Er wohnt unten bei mir im Haus. Ich hatte keine Ahnung, daß er singt, aber ich habe mir schon manchmal Gedanken darüber gemacht, wohin er so regelmäßig verschwindet. Ich dachte immmer, er geht irgendwo zum Stammtisch.« Kincaid richtete sich auf, als Grisham sein Chorhemd hob und einen Schlüsselbund aus seiner Hosentasche zog. »Ich war nur verblüfft, ihn zu sehen.«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, lasse ich Sie vorn hinaus, ehe ich absperre.«
»Natürlich.« Kincaid folgte ihm durch den Mittelgang. »Ich wollte Sie wirklich nicht so lange aufhalten.«
Als sie das Vestibül erreichten, blieb Grisham stehen und wandte sich Kincaid zu. Er schien zu zögern. Im dämmrigen Licht mußte Kincaid zu ihm hinaufsehen, um seinen Gesichtsausdruck erkennen zu können. Der Mann überragte ihn um Haupteslänge.
»Sie sagten eben, daß er bei Ihnen im Haus wohnt - der Major, meine ich.«
Kincaid nickte. »Ja, er ist seit drei Jahren, als ich meine Wohnung kaufte, mein Nachbar.«
»Und Sie kennen ihn gut?«
Mit einem Achselzucken antwortete Kincaid: »Das kann ich eigentlich nicht behaupten. Ich bezweifle, daß überhaupt jemand ihn gut kennt.« Jasmine fiel ihm ein mit ihren Bemerkungen über nachmittägliche Teestunden mit dem Major, und er mußte an die Rosenbüsche denken, die er und der Major zu ihrem Gedenken gepflanzt hatten. »Ich weiß nicht. Es gab vielleicht doch jemanden, der ihn gekannt hat. Unsere Nachbarin, aber sie ist letzte Woche gestorben.«
Grisham zog das schwere Portal mit einer Leichtigkeit auf, als wäre es aus Pappe. »Aha, das ist dann die Erklärung. Am letzten Donnerstag ist er nämlich früher gegangen. Er sagte, er fühle sich nicht wohl. Das war das erstemal, daß ich so etwas bei ihm erlebte, und ich habe mir ein wenig Sorgen um ihn gemacht. Er lebt ja schließlich ganz allein. Aber er ist kein Mensch, den man darauf ansprechen könnte.«
»Nein«, stimmte Kincaid zu und trat in die Dunkelheit hinaus. »Nein, das ist er nicht. Nochmals besten Dank, daß Sie sich für mich Zeit genommen haben. Ich komme wieder«, sagte er und es war ihm ernst damit. Bevor die Tür zufiel, sah er das Blitzen von Paul Grishams weißen Zähnen.
Er sagte nichts davon, daß Jasmines Tod nicht am Unwohlsein des Majors schuld sein konnte. Er hatte ja von ihrem Tod erst am Freitag erfahren, als Kincaid es ihm gesagt hatte.
Er machte halt für eine Fleischpastete und ein Bier im King George in der High Street. Als er wieder auf die Straße kam, legte sich die stille Luft feucht auf seine Haut. Morgen gibt es Regen oder ich freß einen Besen. Er klappte seinen Kragen hoch, schob die Hände in die Taschen und ging langsam zwischen den erleuchteten Schaufenstern geschlossener Geschäfte hindurch nach Hause.
Ganz von selbst führte sein Weg ihn zu Jasmines Tür, und er sperrte sie mit dem Schlüssel auf, den er an seinen Bund gehängt hatte. Als er die Lampe anknipste, blinzelte ihm Sid vom Bett entgegen, richtete sich auf und streckte sich ausgiebig.
»Hallo, Sid. Na, freust du dich, daß ich da bin? Oder hast du nur Hunger?«
Die Katze folgte ihm in die Küche und hockte sich ihm erwartungsvoll zu Füßen, während er in der Schublade nach dem Dosenöffner kramte. »Mir streichst du nicht um die Beine, wie, Junge?« bemerkte Kincaid, als ihm einfiel, wie der Kater, bevor er sein Futter bekam, Jasmine immer um die schlanken Beine gestrichen war. Später, als sie so zerbrechlich geworden war, hatte er immer Angst gehabt, der Kater würde sie zu Fall bringen, aber er hatte nie etwas gesagt.
»Wir freunden uns besser nicht zu sehr an, okay ?« Er stellte den Napf auf den Boden und strich Sid mit einer Hand über den seidenweichen Rücken, als dieser sich näherte, um zu fressen. Eingedenk Gemmas Ermahnung holte er das Katzenklo, das unter dem Waschbecken im Badezimmer stand, leerte es in den Mülleimer und füllte es neu aus einem Sack, den er im Küchenschrank fand. Er nahm den Müllbeutel aus dem Eimer und band ihn zu, um ihn hinauszutragen.
Sich sehr tugendhaft fühlend, füllte er Sids Wassernapf frisch und sah dann dem Kater beim Fressen zu. »Tja, was soll aus dir eigentlich werden, mein Schöner?« Während Sid den leeren Napf noch einmal gründlich ausleckte, fügte Kincaid hinzu: »Der schlimmste Kummer scheint bei dir vorbei zu sein.« Ob Mensch oder Tier, meistens verlangte der Körper schon sehr bald wieder sein Recht. Man trank Tee oder Whiskey. Man aß, was einem vorgesetzt wurde, und das Leben ging weiter. »Also, dann bis morgen, alter Freund.«
Er ließ das Licht für die Katze brennen und ging nach oben zu Jasmines Tagebüchern.
»5. Juni 1963
Ich kann an nichts anderes denken, als an ihn und wie es ist, wenn er mich anfaßt. Meine Haut brennt. Ich kann nicht essen. Ich kann nicht schlafen. Mir ist die ganze Zeit ein bißchen schwindlig, aber ich will nicht, daß es aufhört, und dauernd flattert mir der Magen. Ich kann tun, was ich will, es hört nicht auf. Ich weiß, was die Leute über ihn reden, aber es ist nicht wahr. Mit mir ist er anders, ganz sanft. Sie verstehen ihn nur nicht. Er gehört nicht hierher, genausowenig wie ich. Wir sind beide Außenseiter, in uns ist etwas Dunkleres, weniger Englisches. Tante May hat mir erzählt, daß ein Teil der Vorfahren meiner Mutter aus Frankreich stammten und ich deshalb so aussehe, wie ich aussehe, aber man merkt genau an der Art, wie sie es sagt, daß sie meine Mutter verachtet hat. >Rose HoIlis<, hat sie gesagt, >hatte nicht mal den gesunden Menschenverstand, den Gott einem Kind mitgibt. Ich weiß nicht, was sich dein Vater dabei gedacht hat, als er sie heiratete und nach Indien mitnahm.< Arme Mami. Er hat sie getötet, so sicher, als hätte er ihr ein Messer ins Herz gestoßen, und ich habe Angst. Ich will nicht, daß mir das gleiche passiert, aber ich habe jetzt schon keine Kontrolle mehr und sehe keine Möglichkeit, das Rad zurückzudrehen.
Sobald ich von dem Geld, das ich bei dem alten Mr. Rawlinson verdiene, genug zusammengespart habe, gehen wir von hier fort. Nach London, wo niemand uns kennt, wo wir die ganze Zeit Zusammensein können. Wir suchen uns irgendwo eine kleine Wohnung. Ich weiß, ich habe versprochen, nicht ohne Theo zu gehen, aber er kommt ja nächstes Jahr aus der Schule, und vielleicht kann ich bis dahin auch für ihn sorgen.
Wenn ich schlafen kann, träume ich von ihm. Wenn ich die Augen zumache, sehe ich sein Gesicht vor mir. Sein dunkles Haar fühlt sich an wie Seide, wenn ich es streichle. Gestern abend haben wir uns, nachdem es dunkel geworden war, hinter dem Gemeindehaus getroffen. Es war Bingo-Abend. Ich konnte sie drinnen rufen hören, die Zahlen und die Buchstaben. >Jasmine?< sagte er immer mit diesem fragenden Unterton, so als könnte er nicht recht glauben, daß es mich gibt, und dann lächelte er. Aber es bleibt jetzt jeden Abend länger hell, und es gibt keinen Ort, wo wir uns treffen können. Tante May würde mich umbringen, wenn sie dahinterkäme. Und seine alte Mutter ist noch schlimmer. Sie sind beide so vertrocknet wie Dörrpflaumen und grün vor Neid.
Aber ich habe schon eine Idee, und wenn ich sie ausführen kann, wird uns nie wieder etwas trennen.«