26
Schade«, sagte Mac.
»Ja«, erwiderte Larkin.
Peter Marlowe starrte einfach wie versteinert Awata an.
Das Gesicht des Lagerkommandanten zeigte tiefe Runen der Übermüdung, aber dennoch waren seine Schultern eckig, und sein Schritt war fest. Er war wie immer tadellos gekleidet, und der linke Hemdsärmel steckte ordentlich im Gürtel. An den Füßen trug er Holzsandalen, und auf dem Kopf saß das vom Schweiß vieler Tropenjahre graugrüne Käppi. Er ging die Treppe zur Veranda hinauf und blieb zögernd an der Tür stehen.
»Guten Morgen«, grüßte er heiser, als sie sich erhoben.
Awata schrie mit kehliger Stimme den Posten an. Der Posten verneigte sich und trat neben Awata. Ein weiterer knapper Befehl, und die beiden Männer warfen ihr Gewehr auf den Rücken und marschierten davon.
»Es ist vorbei«, sagte der Lagerkommandant heiser. »Nehmen Sie das Radio und folgen Sie mir.«
Benommen taten sie, was ihnen befohlen worden war, und gingen aus dem Raum hinaus in die Sonne. Und Sonne und Luft taten gut. Sie folgten dem Lagerkommandanten die Straße hinauf, von den erstarrten Augen Changis beobachtet.
Die sechs rangältesten Obersten warteten in der Unterkunft des Lagerkommandanten. Brough war ebenfalls da. Alle grüßten. »Rühren, bitte«, sagte der Lagerkommandant und erwiderte den Gruß. Dann wandte er sich an die drei. »Setzen Sie sich. Wir stehen tief in Ihrer Dankesschuld.«
Larkin sagte schließlich: »Ist es wirklich vorbei?«
»Ja. Ich habe soeben mit dem General gesprochen.« Der Lagerkommandant sah in die sprachlosen Gesichter rings um sich und sammelte seine Gedanken. »Ich glaube wenigstens, daß es vorüber ist«, setzte er hinzu. »Yoshima war beim General. Ich habe gesagt – ich habe gesagt: ›Der Krieg ist vorbei.‹ Der General starrte mich nur an, als Yoshima übersetzte. Ich wartete, aber er sagte nichts, und deshalb sagte ich nochmals: ›Der Krieg ist vorbei. Ich – ich – ich verlange Ihre Kapitulation.‹« Der Lagerkommandant fuhr sich über den kahlen Schädel. »Ich wußte nichts anderes zu sagen. Lange Zeit blickte der General mich nur an. Yoshima sagte nichts, überhaupt nichts.
Dann sagte der General, und Yoshima übersetzte es: ›Ja. Der Krieg ist vorbei. Sie werden auf Ihren Posten im Lager zurückkehren. Ich habe meinen Wachen befohlen, dem Lager den Rücken zuzuwenden und Sie vor jedem zu schützen, der sich gewaltsam Eintritt ins Lager verschaffen will, um Ihnen zu schaden. Es sind jetzt Ihre Wachen – zu Ihrem Schutz –, bis ich weitere Befehle erhalte. Sie sind weiterhin für die Lagerdisziplin verantwortlich.‹
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, deshalb bat ich ihn, die Rationen zu verdoppeln und uns Medikamente zu geben, und er sagte: ›Morgen werden die Rationen verdoppelt. Sie werden einige Medikamente erhalten. Leider haben wir nicht viel. Aber Sie sind für die Disziplin verantwortlich. Meine Wachen werden Sie vor denen schützen, die Sie umbringen wollen.‹ – ›Wer ist das?‹ wollte ich wissen. Der General zuckte die Achseln und antwortete: ›Ihre Feinde. Die Unterredung ist beendet.‹«
»Gottverdammt«, fluchte Brough. »Vielleicht wollen sie, daß wir hinausgehen – um einen Vorwand zu bekommen, uns abzuknallen.«
»Wir dürfen die Leute nicht rauslassen«, sagte Smedly-Taylor entsetzt, »sie würden randalieren. Aber wir müssen etwas unternehmen. Vielleicht sollten wir von ihnen verlangen, uns ihre Waffen zu übergeben …«
Der Lagerkommandant hob die Hand. »Ich glaube, wir können nur abwarten. Ich bin – ich glaube, es wird jemand kommen. Und bis dahin ist es wohl am besten, wenn wir wie bisher weitermachen. Ach ja. Man hat uns erlaubt, einige Leute auf einen Badeausflug ans Meer zu schicken. Fünf Mann aus jeder Baracke. Abwechselnd. Ach du großer Gott«, sagte er, und es war ein Gebet, »hoffentlich verliert niemand den Kopf. Wir haben noch keine Garantie dafür, daß die Japsen hier der Kapitulation Folge leisten werden. Es könnte durchaus sein, daß sie weiterkämpfen. Wir können nur das Beste hoffen – und uns auf das Schlimmste gefaßt machen.«
Er machte eine Pause und sah Larkin an. »Ich denke, das Rundfunkgerät sollte hier bleiben.« Er nickte Smedly-Taylor zu. »Sie werden für dauernde Bewachung sorgen.«
»Jawohl, Sir.«
»Selbstverständlich«, wandte der Lagerkommandant sich an Larkin und Peter Marlowe und Mac, »bedienen Sie es auch weiterhin.«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Sir«, erwiderte Mac, »dann lassen Sie das jemand anders besorgen. Ich werde es reparieren, wenn etwas kaputtgeht, aber, hm, wahrscheinlich wollen Sie es vierundzwanzig Stunden am Tag in Betrieb halten. Das würden wir nicht schaffen, und irgendwie – hm, ich persönlich bin der Ansicht, man sollte alle die Sendungen hören lassen, nachdem das Gerät jetzt entdeckt worden ist.«
»Kümmern Sie sich darum, Oberst!« sagte der Lagerkommandant.
»Jawohl, Sir«, antwortete Smedly-Taylor.
»Und jetzt beraten wir am besten unser weiteres Vorgehen.«
Vor der Unterkunft des Lagerkommandanten begann sich eine Gruppe Neugieriger zu bilden – auch Max war darunter –, alle voller Ungeduld, zu erfahren, was gesagt wurde und was geschehen war und warum die japanischen Posten vom Radio abgezogen worden waren.
Als Max die Spannung nicht länger ertragen konnte, lief er zur amerikanischen Baracke zurück.
»He, Leute!« brachte er hervor.
»Kommen die Japsen?«
Der King war bereit, durchs Fenster zu springen und auf den Zaun zuzulaufen.
»Nein! Meine Fresse«, stieß Max ganz außer Atem hervor und war unfähig weiterzureden.
»Himmeldonnerwetter, was ist los?« fragte der King.
»Die Japsenposten vor Peters Raum und vor dem Radio sind eingezogen worden!« keuchte Max, als er wieder zu Atem gekommen war. »Dann hat der Lagerkommandant Peter, Larkin und den Schotten und das Radio mit zu sich in sein Quartier genommen. Und da ist jetzt ein großes Palaver im Gang. Alle Obersten sind dort – sogar Brough ist dort!«
»Bist du ganz sicher?« fragte der King.
»Ich sag dir, ich hab es mit meinen eigenen Augen gesehen, aber ich glaube es auch nicht.«
In der unbarmherzig wirkenden Stille zog der King eine Zigarette heraus, und dann sprach Tex aus, was er bereits erkannt hatte.
»Dann ist es vorbei. Dann ist es wirklich vorbei. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht – wenn man die Wache vom Radio abgezogen hat!« Tex blickte in die Runde. »Ist es nicht so?«
Max sank schwerfällig auf sein Bett und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. »Ich denke schon. Wenn man die Wache eingezogen hat, dann bedeutet das, daß man hier kapitulieren will – daß man nicht weiterkämpfen wird.« Er sah hilflos auf Tex. »Ist es nicht so?«
Aber Tex war ganz in seine eigene Bestürzung versunken. Nach einer ganzen Weile sagte er gleichmütig: »Es ist vorbei.«
Der King paffte gelassen seine Zigarette. »Ich glaube es erst, wenn ich es sehe.« Dann überwältigte ihn in dem gespenstischen Schweigen plötzlich die Angst.
Dino zerquetschte mechanisch Fliegen. Byron Jones III schob gedankenlos einen Läufer auf ein anderes Feld. Miller nahm ihn und ließ seine Königin ungedeckt stehen. Max starrte auf seine Füße. Tex kratzte sich.
»Ich komme mir nicht anders vor als sonst«, sagte Dino und stand auf. »Muß mal pinkeln«, und damit ging er hinaus.
»Ich weiß nicht, ob ich lachen oder heulen soll«, meinte Max. »Mir ist so, als würde ich jeden Augenblick überschnappen.«
»Es ist einfach sinnlos«, rief Tex laut, aber er redete mit sich selbst und wußte nicht, daß er laut gesprochen hatte. »Es hat einfach keinen Sinn.«
»He, Max«, sagte der King. »Mach doch mal Kaffee.«
Automatisch ging Max hinaus und füllte den Topf mit Wasser. Als er zurückkam, schaltete er die Kochplatte ein und setzte den Topf darauf. Er wandte sich wieder seinem Bett zu, hielt aber mitten in der Bewegung inne. »Was ist los, Max?« fragte der King unbehaglich.
Max starrte ihn nur an, seine Lippen bewegten sich zuckend und lautlos.
»Verdammt, was glotzt du so?«
Plötzlich packte Max den Topf und schleuderte ihn durchs Fenster.
»Verdammt, hast du den Verstand verloren?« explodierte der King. »Du hast mich ganz naß gemacht!«
»Pech gehabt«, schrie Max, und seine Augen traten hervor.
»Ich müßte dich eigentlich zusammenschlagen. Bist du völlig übergeschnappt?«
»Der Krieg ist vorbei. Mach dir deinen gottverdammten Kaffee selber«, kreischte Max, und Schaum trat ihm vor den Mund.
Der King sprang hoch und stellte sich aufgereckt vor Max, und sein Gesicht war von Wut verzerrt. »Verschwinde, bevor ich dir in die Fresse trete!«
»Tu's doch, tu's doch, aber vergiß nicht, daß ich Feldwebel bin! Ich bring dich vors Kriegsgericht!«
Max begann hysterisch zu lachen, dann ging das Gelächter plötzlich in Schluchzen über, das wie klirrendes Glas in die Stille fiel, und Max floh aus der Baracke und ließ entsetztes Schweigen hinter sich zurück.
»Verrückter Hund«, murmelte der King. »Stell bitte etwas Wasser auf, Tex«, und er setzte sich in seine Ecke.
Tex stand an der Tür und starrte hinter Max her. Langsam sah er sich um. »Ich habe zu tun«, erklärte er nach einer quälenden Spanne der Unentschlossenheit.
Dem King drehte sich der Magen um. Er drängte die aufsteigende Übelkeit zurück und setzte eine harte Miene auf.
»Ja«, sagte der King mit schrecklichem Lächeln. »Das sehe ich.« Er spürte geradezu den Abgrund der Stille. Er zog seine Brieftasche heraus und wählte eine Banknote. »Hier ist ein Zehner. Sieh zu, daß du nicht mehr beschäftigt bist, und hol Wasser.«
Aber Tex sagte nichts, schüttelte sich nur nervös und blickte weg.
»Ihr müßt auch jetzt noch essen – bis es wirklich vorbei ist«, erklärte der King verächtlich und sah sich dann in der Baracke um. »Wer möchte Kaffee?«
»Ich möchte gern Kaffee«, ließ Dino sich vernehmen, und es klang keineswegs bußfertig. Er holte den Topf, füllte ihn und setzte ihn zum Kochen auf.
Der King ließ den Zehndollarschein auf den Tisch fallen. Dino starrte darauf.
»Nein, danke«, sagte er heiser und schüttelte den Kopf, »nur den Kaffee.« Auf unsicheren Beinen ging er durch die Baracke. Unsicher wichen die Männer der schwelenden Verachtung des King aus. »Ich hoffe um euretwillen, ihr Hunde, daß der Krieg tatsächlich vorbei ist«, sagte der King.
Peter Marlowe verließ die Unterkunft des Lagerkommandanten und eilte zur amerikanischen Baracke. Mechanisch erwiderte er die Grüße der Männer, die er kannte, und spürte fortwährend die Augen – ungläubige Augen –, die ihn beobachteten. Ja, dachte er, ich kann es selbst nicht glauben. Bald zu Hause zu sein, bald wieder zu fliegen, bald meinen Alten Herrn wiederzusehen, mit ihm zu trinken, mit ihm zu lachen. Und bei der ganzen Familie. Mein Gott, es wird seltsam sein. Ich lebe. Ich lebe. Ich habe es geschafft!
»Hallo, Leute!« Er strahlte, als er in die Baracke trat.
»Hallo, Peter«, rief Tex, sprang auf und schüttelte ihm warm die Hand. »Junge, waren wir froh, als wir das mit der Wache hörten, Menschenskind!«
»Das ist ein Meisterstück von Untertreibung«, erklärte Peter Marlowe lachend. Während sie sich um ihn drängten, sonnte er sich in der Wärme ihrer Begrüßung.
»Was war denn mit den hohen Tieren?« fragte Dino.
Peter Marlowe erzählte es ihnen, und die Angst bedrückte sie noch mehr. Abgesehen von Tex. »Verdammt, völlig unnötig, sich aufs Schlimmste gefaßt zu machen. Es ist vorbei!« erklärte er zuversichtlich.
»Es ist bestimmt vorbei«, knurrte Max rauh, als er in die Baracke trat.
»Hallo, Max, ich …« Peter Marlowe fuhr nicht fort. Er war entsetzt über den furchterregenden Blick in Max' Augen.
»Ist Ihnen nicht gut?« fragte er beunruhigt.
»'türlich ist mir gut!« fuhr Max auf. Er schob sich vorbei und ließ sich auf sein Bett fallen. »Verdammt, was starrt ihr mich alle so an? Kann man nicht ab und zu mal die Nerven verlieren, ohne daß ihr Idioten einen gleich alle anstarrt?«
»Beruhig dich schon«, erwiderte Tex.
»Gott sei Dank werd ich diesen verdammten Scheißhaufen bald hinter mir haben.« Max' Gesicht war graubraun, und sein Mund zuckte. »Und das gilt für euch Scheißkerle auch!«
»Halt die Schnauze, Max!«
»Der Teufel soll dich holen!« Max wischte sich den Speichel vom Kinn. Er griff in die Tasche und zog ein Bündel Zehndollarscheine heraus, zerfetzte sie dann wild und verstreute sie wie Konfetti.
»Zum Donnerwetter, was ist in dich gefahren, Max?« fragte Tex.
»Nichts, du blöder Hund! Verdammt, die Geldscheine sind keinen Pfifferling wert.«
»Was?«
»Ich bin eben im Laden gewesen. Ja. Dachte, ich könnte mir ja mal 'ne Kokosnuß leisten, aber der verdammte Chinese wollte meinen Zaster nicht annehmen. Er wollte ihn nicht nehmen. Er behauptete, er hätte seine ganzen Vorräte an den verdammten Lagerkommandanten verkauft. Gegen einen Wisch: ›Die englische Regierung verspricht, soundso viel Straitsdollar zu zahlen!‹ Du kannst dir mit den gottverdammten Japsenpiepen den Arsch abwischen. Mehr sind sie nicht wert!«
»Au«, stöhnte Tex. »Das ist eine Masche. Wenn der Chinese unseren Zaster nicht nehmen will, dann haben wir es wirklich geschafft, was, Peter?«
»Wir haben es tatsächlich geschafft.« Peter Marlowe fühlte sich von ihrer Freundschaft erwärmt. Selbst Max' böse und starre Blicke konnten sein Glück nicht trüben. »Ich kann euch gar nicht sagen, Kinder, wie sehr ihr mir geholfen habt, mit eurem ganzen Unsinn.«
»Verdammt«, rief Dino. »Sie gehören doch zu uns.« Er stieß ihn schmerzhaft in die Rippen. »Sie sind für einen gottverdammten Limey gar nicht schlecht!«
»Sehen Sie zu, daß Sie nach den Staaten rüberkommen, wenn Sie hier raus sind. Wir könnten Sie vielleicht sogar Amerikaner werden lassen!« sagte Byron Jones III.
»Sie müssen Texas sehen, Peter, alter Knabe. Wenn Sie je in die Staaten kommen, müssen Sie unbedingt Texas sehen!«
»Da ist wenig Hoffnung«, sagte Peter Marlowe in die lauten Hochrufe hinein. »Aber sollte ich je rüberkommen, können Sie sich drauf verlassen.« Er sah zur Ecke des King hinüber. »Wo steckt unser furchtloser Führer?«
»Der ist tot!« Max wurde von gemeinem Gelächter geschüttelt.
»Was!« fragte Peter Marlowe erschrocken.
»Er lebt noch«, beruhigte Tex. »Aber er ist trotzdem tot.«
Peter Marlowe sah Tex forschend an. Dann bemerkte er den Ausdruck auf allen Gesichtern. Plötzlich war er sehr traurig. »Meint ihr nicht, daß das ein wenig schroff ist?«
»Gar nicht schroff.« Max spuckte aus. »Er ist tot. Wir haben uns für den Hund abgeschuftet, daß uns das Wasser im Arsch gekocht hat, und jetzt ist er tot.«
Peter Marlowe fuhr auf Max los und haßte ihn: »Aber als es euch schlechtgegangen ist, hat er euch zu essen und Geld und …«
»Wir haben dafür geschuftet!« kreischte Max, und seine Halsmuskeln traten vor. »Ich habe mir von dem Hund genug bieten lassen!« Sein Blick fiel auf die Rangabzeichen auf Peter Marlowes Arm. »Und von Ihnen auch, Sie Limey-Bastard. Wollen Sie mir etwa auch in den Arsch kriechen, wie Sie ihm in den Arsch gekrochen sind?«
»Halt die Schnauze, Max«, rief Tex warnend.
»Verreck doch, du alter Louis aus dem Einsternstaat!« Max spuckte nach Tex, und der Speichel bildete einen Streifen auf dem rohen Holzboden.
Tex schoß das Blut ins Gesicht. Er warf sich blitzschnell auf Max und schlug ihm krachend mit dem Handrücken ins Gesicht, daß sein Kopf gegen die Wand knallte. Max sackte zusammen und fiel vom Bett, aber er schnellte sofort wieder hoch, griff ein Messer vom Regal und sprang auf Peter Marlowe zu. Tex konnte Max noch eben am Arm packen, und die Klinge streifte Peter Marlowe nur am Bauch. Dino packte Max an der Kehle und schleuderte ihn auf das Bett zurück.
»Bist du übergeschnappt?« schnaufte Dino.
Max starrte zu ihm hinauf, sein Gesicht zuckte, und seine Augen waren auf Peter Marlowe gerichtet.
Plötzlich begann er zu kreischen, schnellte vom Bett, kämpfte irr mit wild um sich schlagenden Armen, gefletschten Zähnen und zu Krallen gebogenen Fingern. Peter Marlowe packte einen Arm, und gemeinsam warfen sie sich auf Max und zerrten ihn auf das Bett zurück. Drei Männer waren nötig, um ihn niederzuhalten, während er trat, kreischte, um sich schlug und biß.
»Den Kerl hat's!« brüllte Tex. »Gebt ihm eins auf die Birne!«
»Holt einen Strick!« schrie Peter Marlowe, während er sich an Max festklammerte und ihm außer Reichweite seiner knirschenden Zähne den Unterarm unters Kinn preßte.
Dino änderte seinen Griff, machte einen Arm frei, landete einen harten Schlag auf Max' Kinn und machte ihn damit bewußtlos. »Himmel«, sagte er zu Peter Marlowe, als sie aufstanden. »Fast hätte der Hund sie umgebracht!«
»Los«, drängte Peter Marlowe, »steckt ihm etwas zwischen die Zähne, sonst beißt er sich noch seine verdammte Zunge ab.«
Dino entdeckte ein Stück Holz, und sie banden es Max zwischen die Zähne. Dann fesselten sie ihm die Hände.
Als Max unschädlich gemacht worden war, entspannte sich Peter Marlowe, und vor Erleichterung wurde ihm schwach. »Danke, Tex. Wenn Sie nicht das Messer abgefangen hätten, wäre ich geliefert gewesen.«
»Schon gut. Reflexbewegung. Was fangen wir mit ihm an?«
»Wir holen einen Arzt. Er hat nur einen Anfall gehabt, weiter nichts. Von Messer keine Rede.« Peter Marlowe rieb sich die Streifwunde am Bauch und sah, wie Max sich krampfartig aufbäumte. »Armer Teufel!«
»Gott sei Dank hast du ihn festhalten können, Tex«, sagte Dino. »Mir bricht jetzt noch der Schweiß aus, wenn ich daran denke.«
Peter Marlowe sah zu des King Ecke hinüber. Sie wirkte sehr einsam. Unbewußt bewegte er die Finger und den Arm und freute sich am Vollgefühl von dessen Kraft.
»Wie geht es ihm, Peter?« fragte Tex.
Peter brauchte lange Zeit, bis er die richtigen Worte fand. »Er lebt, Tex, er lebt – und ist nicht tot.« Dann wandte er sich um und ging aus der Baracke in die Sonne hinaus.
Als er den King endlich fand, war die Abenddämmerung schon hereingebrochen. Der King saß in dem nach Norden gelegenen Gemüsegarten auf dem Stumpf einer Kokospalme und war halb von Ranken verborgen. Er starrte düster auf das Lager und gab kein Zeichen, daß er Peter Marlowe kommen hörte.
»Hallo, alter Knabe«, rief Peter Marlowe freudig, aber die Wiedersehensfreude in ihm erstarb, als er des King Augen sah.
»Was wünschen Sie, Sir?« fragte der King in beleidigendem Ton.
»Ich wollte mit Ihnen reden. Wollte Sie besuchen.« Oh, mein Gott, dachte er voll Mitleid, als er seinen Freund durchschaute.
»Na, jetzt haben Sie mich besucht. Und was jetzt?« Der King kehrte ihm den Rücken zu. »Verschwinden Sie!«
»Ich bin Ihr Freund, erinnern Sie sich?«
»Ich habe keine Freunde. Verschwinden Sie!«
Peter Marlowe hockte sich neben dem Kokosstumpf nieder und fischte nach den beiden ›Aktiven‹ in seiner Tasche. »Rauchen Sie. Ich habe sie von Shagata bekommen!«
»Rauchen Sie sie selbst, Sir!«
Einen Augenblick wünschte Peter Marlowe, er hätte den King nicht gefunden. Aber er ging nicht weg. Sorgfältig zündete er die beiden Zigaretten an und hielt eine dem King hin. Der King machte keine Anstalten, sie zu nehmen.
»Bitte, nehmen Sie sie.«
Der King schlug ihm die Zigarette aus der Hand. »Zum Teufel mit Ihnen und Ihrer gottverdammten Zigarette. Wollen Sie hierbleiben? Na gut!« Er stand auf und wollte davongehen.
Peter Marlowe packte ihn am Arm. »Warten Sie. Heute ist der größte Tag in unserem Leben. Verderben Sie ihn nicht, nur weil Ihre Leute ein bißchen gedankenlos waren.«
»Nehmen Sie die Hand weg«, preßte der King zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, »sonst schlag ich sie weg!«
»Kümmern Sie sich nicht um die andern«, sagte Peter Marlowe, und die Worte begannen aus ihm herauszusprudeln. »Der Krieg ist vorbei, das ist das Wichtigste. Er ist vorbei, und wir haben überlebt. Denken Sie noch daran, was Sie mir immer wieder eingehämmert haben? Daß ich zuerst für mich sorgen soll? Na, es geht Ihnen doch gut! Sie haben es überstanden! Was spielt es da für eine Rolle, was die andern sagen?«
»Verdammt, die andern sind mir völlig egal! Die haben nichts damit zu tun. Und Sie sind mir so egal wie nur was!« Der King riß seinen Arm los.
Peter Marlowe starrte den King hilflos an. »Ich bin Ihr Freund, verdammt. Lassen Sie mich Ihnen helfen.«
»Ich brauche Ihre Hilfe nicht!«
»Ich weiß. Aber ich möchte, daß wir Freunde bleiben. Sehen Sie«, fuhr er fort, »Sie werden bald zu Hause sein …«
»Verdammt, das werde ich eben nicht«, unterbrach ihn der King, und das Blut rauschte ihm in den Ohren. »Ich habe kein Zuhause!«
Der Wind raschelte in den Blättern. Grillen zirpten eintönig. Moskitos umschwärmten sie. Die Barackenlichter begannen scharfe Schatten zu werfen, und der Mond schwamm auf einem samtenen Himmel.
»Machen Sie sich keine Sorgen, alter Junge«, sagte Peter Marlowe mitfühlend. »Es kommt schon alles in Ordnung.« Er zuckte nicht vor der Furcht zurück, die er in des King Augen sah.
»Wirklich?« fragte der King gequält.
»Ja.« Peter Marlowe zögerte. »Ihnen tut es leid, daß es vorbei ist, nicht wahr?«
»Lassen Sie mich in Ruhe. Gottverdammt, lassen Sie mich in Ruhe!« schrie der King, wandte sich ab und setzte sich auf den Kokosstumpf.
»Sie werden schon klarkommen«, sagte Peter Marlowe. »Und ich bin Ihr Freund. Vergessen Sie das nie.« Er streckte die linke Hand aus und berührte den King an der Schulter, und er spürte, wie die Schulter bei seiner Berührung wegzuckte.
»Nacht, alter Freund«, sagte er ruhig. »Bis morgen.« Und ganz elend ging er davon. Morgen, versprach er sich, morgen werde ich ihm helfen können.
Der King setzte sich auf dem Kokosstumpf zurecht, freute sich, allein zu sein, und fürchtete sich vor seiner Einsamkeit.
Oberst Smedly-Taylor und Jones und Sellars wischten ihre Teller aus.
»Großartig!« sagte Sellars und leckte sich den Saft von den Fingern.
Smedly-Taylor suckelte an dem Schlegel, obwohl der bereits völlig blankgenagt war. »Jones, alter Junge, mein Kompliment.« Er rülpste. »Großartig, diesen Tag auf diese Weise zu beenden. Köstlich! Genau wie Kaninchen! Ein wenig sehnig und etwas zäh, aber köstlich!«
»Habe schon viele Jahre nicht mehr so gut gegessen«, lachte Sellars laut. »Das Fleisch ist ein wenig fett, aber, bei Gott, einfach wunderbar.« Er warf einen Blick zu Jones hinüber. »Können Sie noch etwas beschaffen? Ein Schlegel für jeden ist nicht gerade viel!«
»Vielleicht.« Jones pickte behutsam das letzte Reiskorn auf. Sein Teller war trocken und leer, und er fühlte sich richtig voll. »Das war doch ein toller Glücksfall, nicht wahr?«
»Wo haben Sie sie her?«
»Blakely hat mir davon erzählt. Ein Aussie hat sie verkauft.« Jones rülpste. »Ich habe alles gekauft, was er hatte.« Er warf Smedly-Taylor einen Blick zu. »Zum Glück hatten Sie das Geld.«
Smedly-Taylor grunzte. »Ja.« Er öffnete seine Brieftasche und warf dreihundertsechzig Dollar auf den Tisch. »Das reicht für weitere sechs. Es ist nicht nötig, daß wir uns kasteien, was, meine Herren?«
Sellars sah auf die Geldscheine. »Wenn Sie so viel Geld versteckt hatten, warum haben Sie dann nicht schon vor Monaten ein wenig davon ausgegeben?«
»Ja, warum wohl?« Smedly-Taylor stand auf und reckte sich. »Weil ich es für heute gespart habe! Und damit Schluß«, setzte er hinzu. Seine Granitaugen bohrten sich in die von Sellars.
»Na, ist schon gut, Mann. Ich will ja nicht, daß Sie etwas erzählen. Ich begreife nur nicht, wie Sie es geschafft haben, das ist alles.«
Jones lächelte. »Muß eine innere Angelegenheit gewesen sein. Ich habe gehört, der King hat beinahe einen Herzschlag bekommen!«
»Was hat der King mit meinem Geld zu tun?« fragte Smedly-Taylor.
»Nichts.« Jones begann das Geld zu zählen. Es waren tatsächlich dreihundertsechzig Dollar, genug für zwölf Rusa-tiku-Schlegel zu je dreißig Dollar, was sie wirklich kosteten, und nicht sechzig Dollar, wie Smedly-Taylor glaubte. Jones lächelte insgeheim, als er daran dachte, daß Smedly-Taylor es sich gut leisten konnte, das Doppelte zu bezahlen, nachdem er jetzt so viel Geld besaß. Er hätte zu gerne gewußt, wie Smedly-Taylor es geschafft hatte, den Diebstahl durchzuführen, wußte aber auch, daß Smedly-Taylor recht hatte, wenn er seine Geheimnisse streng hütete. So wie er das Geheimnis der drei weiteren Rusa tikus hütete. Derjenigen, die er und Blakely gebraten und an diesem Nachmittag heimlich gegessen hatten. Blakely hatte einen gegessen, er hatte die beiden anderen gegessen. Und die beiden, die zu dem einen kamen, den er eben verschlungen hatte, waren der Grund, weshalb er satt war. »Mein Gott«, sagte er und rieb sich den Bauch, »ich glaube nicht, daß ich jeden Tag so viel essen könnte!«
»Sie werden sich daran gewöhnen«, antwortete Sellars. »Ich habe noch Hunger. Seien Sie nett und versuchen Sie, ob Sie nicht noch ein paar beschaffen können.«
Smedly-Taylor sagte: »Wie wär's mit einem oder zwei Rubber?«
»Großartig«, rief Sellars. »Wen nehmen wir als vierten?«
»Samson?«
Jones lachte. »Ich möchte wetten, daß er ziemlich wütend wäre, wenn er von dem Fleisch wüßte!«
»Was meinen Sie, wie lange unsere Leute brauchen, bis sie nach Singapur kommen?« fragte Sellars und versuchte, seine Besorgnis zu verbergen.
Smedly-Taylor sah Jones an. »Ein paar Tage. Höchstens eine Woche. Falls die Japsen tatsächlich kapitulieren.«
»Nachdem sie uns das Radio gelassen haben, sieht es so aus.«
»Ich hoffe. Mein Gott, ich hoffe es.« Sie sahen sich an, vergaßen das gute Essen und versanken in ihre Sorgen um die Zukunft.
»Kein Anlaß zur Sorge. Es wird – es wird alles gutgehen«, versicherte Smedly-Taylor äußerlich zuversichtlich. Aber innerlich war er von Panik erfaßt, dachte an Maisie, an seine Söhne und an seine Tochter und fragte sich, ob sie noch lebten.
Kurz vor dem Morgengrauen dröhnte eine viermotorige Maschine über das Lager hin. Ob es eine alliierte oder eine japanische Maschine war, wußte niemand, aber beim ersten Motorengeräusch warteten die Männer von Panik ergriffen auf den gefürchteten Bombenregen. Als die Bomben nicht fielen und das Flugzeug dröhnend weiterflog, entstand neue Panik. Vielleicht haben sie uns vergessen – sie werden nie kommen.
Ewart tastete sich in die Baracke und rüttelte Peter Marlowe wach. »Peter, es geht ein Gerücht, die Maschine hätte den Flugplatz umkreist – und ein Mann sei mit dem Fallschirm daraus abgesprungen!«
»Haben Sie es gesehen?«
»Nein.«
»Haben Sie mit jemandem geredet, der es gesehen hat?«
»Nein. Es ist nur ein Gerücht.« Ewart versuchte, seine Furcht nicht zu zeigen. »Ich habe schreckliche Angst, daß die Japsen überschnappen, sobald die Flotte im Hafen auftaucht.«
»Das werden sie schon nicht!«
»Ich bin zum Büro des Lagerkommandanten gegangen. Da ist eine ganze Gruppe von Leuten, die ständig die neuesten Nachrichten herausgeben. In den letzten Nachrichten wurde durchgegeben, daß« – einen Augenblick konnte Ewart nicht weiterreden, dann fuhr er fort –, »daß die Zahl der Toten in Hiroshima und Nagasaki über dreihunderttausend betragen hat. Die Menschen sollen dort noch immer wie die Fliegen sterben – die Teufelsbombe soll irgendwie die Luft verändern und immer weiter töten. Mein Gott, wenn das mit London geschehen würde und ich wäre Kommandant von einem Lager wie diesem hier – ich würde – ich würde alle umbringen. Ich würde es tun. Bei Gott, ich würde es tun.«
Peter Marlowe beruhigte ihn, verließ dann die Baracke und ging in dem immer heller werdenden Licht zum Tor. Innerlich fürchtete er sich noch immer. Er wußte, daß Ewart recht hatte. Eine solche Teufelsbombe war zuviel. Aber urplötzlich erkannte er eine große Wahrheit, und er segnete die Köpfe, die die Bomben erfunden hatten. Nur die Bomben hatten Changi davor bewahrt, in Vergessenheit zu geraten. O ja, sagte er zu sich, was auch wegen der Bomben geschehen mag, ich werde die beiden ersten segnen und die Männer, die sie hergestellt haben. Sie allein haben mir das Leben zurückgegeben, als wirklich schon keine Hoffnung mehr auf Leben bestand. Und wenn auch die beiden ersten Bomben eine Unzahl von Menschen verschlungen haben, so haben sie doch gerade durch ihre Ungeheuerlichkeit das Leben zahlloser anderer gerettet. Unser Leben. Und ihres. Bei Gott dem Allmächtigen, das ist die Wahrheit.
Unversehens war er beim Haupttor. Die Wachen standen wie gewöhnlich da. Den Rücken hatten sie dem Lager zugekehrt, aber sie hielten immer noch Gewehre in den Händen.
Peter Marlowe beobachtete sie neugierig. Er war sicher, daß diese Männer blind in den Tod gehen würden für die Verteidigung von Leuten, die noch vor einem Tag ihre verachteten Feinde waren.
Mein Gott, dachte Peter Marlowe, wie unbegreiflich manche Menschen doch sind.
Dann sah er plötzlich aus der sich lichtenden Morgendämmerung eine Erscheinung auftauchen. Einen fremden Mann, einen wirklichen Mann, einen Mann mit Höhe und Dicke, einen Mann, der wie ein Mann aussah. Einen weißen Mann. Er trug eine fremde grüne Uniform, und seine Fallschirmspringerstiefel waren poliert, und das Abzeichen an seiner Feldmütze blitzte wie Feuer, und er hatte einen Revolver am breiten Koppel, und auf dem Rücken trug er einen ordentlich gepackten Tornister.
Der Mann ging mitten auf der Straße, und seine Absätze klickten, bis er das Wachhaus erreicht hatte.
Der Mann – jetzt konnte Peter Marlowe erkennen, daß er die Rangabzeichen eines Hauptmanns trug –, der Hauptmann blieb stehen, starrte auf die Wachen und brüllte dann: »Grüßt, ihr verdammten Hunde.«
Als die Posten ihn dumm anstarrten, ging der Hauptmann zum nächsten Posten, riß ihm das Gewehr mit dem aufgepflanzten Bajonett aus den Händen, stieß es wild in den Boden und brüllte erneut: »Grüßt mich, ihr verdammten Hunde!«
Die Posten starrten ihn verwirrt an. Dann riß der Hauptmann seinen Revolver heraus, jagte vor den Füßen der Posten eine Kugel in den Boden und brüllte: »Grüßt, ihr verdammten Hunde.«
Awata, der japanische Unteroffizier, Awata, der Furchtsame, Schwitzende und Nervöse, trat vor und verneigte sich. Dann verneigten sich alle.
»So ist's schon besser, ihr verdammten Hunde«, erklärte der Hauptmann. Dann riß er allen Männern das Gewehr aus den Händen und warf sie auf den Boden. »Geht in das verdammte Wachhaus zurück.«
Awata verstand seine Handbewegung. Er befahl den Wachen anzutreten. Auf sein Kommando verneigten sie sich erneut.
Der Hauptmann stand da und sah sie an. Dann erwiderte er den Gruß.
»Grüßt, ihr verdammten Hunde«, brüllte der Hauptmann erneut.
Wieder verneigten sich die Wachen.
»Gut«, erklärte der Hauptmann. »Und wenn ich das nächste Mal befehle, ihr sollt grüßen, dann grüßt!«
Awata und all seine Männer verneigten sich, und der Hauptmann drehte sich um und ging auf die Barrikade zu.
Peter Marlowe fühlte die Augen des Hauptmanns auf sich und auf die Männer neben sich gerichtet. Und er zuckte voll Angst zusammen und wich zurück. Er sah in den Augen des Hauptmanns zuerst Abscheu, dann Mitleid.
Der Hauptmann schrie die Wachen an. »Macht das verdammte Tor auf, ihr verdammten Hunde.« Awata verstand die Handbewegung, rannte mit drei Leuten hinaus und zog die Barrikade weg.
Dann ging der Hauptmann hindurch, und als sie sich anschickten, sie wieder zu schließen, schrie er: »Laßt das verdammte Ding in Ruhe.« Und sie ließen es in Ruhe und verneigten sich grüßend.
Peter Marlowe versuchte sich zu konzentrieren. Das stimmte doch nicht. Ganz und gar nicht. Das konnte doch nicht geschehen. Dann stand der Hauptmann plötzlich vor ihm.
»Hallo«, grüßte der Hauptmann. »Ich bin Hauptmann Forsyth. Wer hat hier das Kommando?« Die Worte kamen leise und klangen sehr freundlich. Aber Peter Marlowe sah nur den Hauptmann vor sich, wie er ihn von Kopf bis Fuß betrachtete.
Was ist los? Was ist an mir nicht in Ordnung? Peter Marlowe fragte es sich verzweifelt. Was ist los mir mir? Erschreckt wich er noch einen Schritt zurück.
»Sie brauchen sich nicht vor mir zu fürchten.« Des Hauptmanns Stimme klang tief und mitfühlend. »Der Krieg ist vorbei. Man hat mich geschickt, damit ich dafür sorge, daß Ihnen allen geholfen wird.«
Der Hauptmann trat einen Schritt vor. Peter Marlowe wich zurück, und der Hauptmann blieb stehen. Langsam zog der Hauptmann eine Packung Players heraus. Gute englische Players.
»Möchten Sie eine Zigarette?«
Der Hauptmann trat vor, und Peter Marlowe lief entsetzt davon.
»So warten Sie doch einen Augenblick!« rief der Hauptmann hinter ihm her. Dann näherte er sich einem anderen Mann, aber der Mann drehte sich um und floh ebenfalls. Und alle Männer flohen vor dem Hauptmann.
Die zweite große Furcht schlug über Changi zusammen.
Furcht vor sich selbst. Bin ich auch normal? Bin ich es noch nach so langer Zeit? Ich meine, bin ich richtig im Kopf? Es sind dreieinhalb Jahre her. Und, mein Gott, weißt du auch noch, was van de Velde über Impotenz gesagt hat? Wird es klappen? Werde ich noch lieben können? Werde ich normal sein? Ich habe das Entsetzen in den Augen des Hauptmanns gesehen, als er mich angeschaut hat. Warum? Was war nicht in Ordnung? Meinst du, ich kann es wagen, ihn zu fragen, ich kann es wagen … bin ich normal?
Als der King das erste Mal von dem Offizier hörte, lag er düster brütend auf seinem Bett. Gewiß, er hatte noch immer den günstigsten Platz unter dem Fenster, aber jetzt hatte er den gleichen Raum wie alle andern – zwei Meter mal ein Meter achtzig.
Als er vom Garten zurückgekehrt war, hatte er sein Bett und seine Sessel verrückt vorgefunden, und andere Betten standen jetzt in dem Raum verteilt, der von Rechts wegen ihm gehörte. Er hatte nichts gesagt, und sie hatten nichts gesagt, aber er hatte sie angesehen, und sie waren alle seinem Blick ausgewichen.
Und es hatte auch niemand sein Abendessen geholt oder es aufgehoben. Es war einfach von andern gegessen worden.
»Mann«, hatte Tex abwesend gesagt, »ich glaube, wir haben dich ganz vergessen. Sei das nächste Mal lieber hier. Jeder ist für seinen Fraß selbst verantwortlich.«
Deshalb hatte er eines seiner Hühner gekocht. Er hatte es ausgenommen und gebraten und gegessen. Er hatte mindestens die Hälfte gegessen und die andere Hälfte für das Frühstück aufgehoben. Jetzt hatte er nur noch zwei Hühner. Die andern waren im Laufe der letzten Tage verzehrt worden – und er hatte sie mit den Männern geteilt, die die Arbeit gemacht hatten.
Gestern hatte er versucht, die Vorräte der Lagerkantine aufzukaufen, aber der Geldstapel, den der Diamant ihm gebracht hatte, war wertlos. In der Brieftasche hatte er noch elf amerikanische Dollar, und das war gute Währung. Aber er wußte – und es überlief ihn kalt –, daß er nicht ewig von elf Dollar und zwei Hühnern leben konnte.
Er hatte in der letzten Nacht wenig geschlafen. Aber im Morgengrauen hatte er sich selbst ins Gebet genommen und sich gesagt, daß sein Verhalten schwächlich und idiotisch und keineswegs eines Königs würdig wäre; es spielte dabei keine Rolle, daß die Männer durch ihn hindurchgesehen hatten, als er ziemlich früh durchs Lager gegangen war – Brant und Prouty und Samson und all die andern waren vorbeigegangen und hatten seinen Gruß nicht erwidert. Bei allen war es das gleiche gewesen. Bei Tinker Bell, Timsen, den Militärpolizisten, seinen Informanten und Angestellten, Männern, denen er geholfen hatte oder die er gekannt hatte oder für die er etwas verkauft hatte oder denen er Essen oder Zigaretten oder Geld gegeben hatte. Sie alle hatten ihn angesehen, als existiere er nicht. Wo ihn sonst Augen beobachtet hatten und Haß ihn umgeben hatte, wenn er durch das Lager gegangen war, war jetzt nichts. Keine Augen, kein Haß, kein Wiedererkennen.
Es war ein eisiges Gefühl gewesen, wie ein Gespenst durch das Lager zu gehen. Wie ein Geist nach Hause zu kommen. Wie ein Geist im Bett zu liegen.
Ein Nichts.
Jetzt hörte er zu, wie Tex der Baracke hastig die unglaubliche Geschichte von der Ankunft des Hauptmanns berichtete, und er fühlte deutlich, wie die neue Furcht an ihnen nagte.
»Was ist los?« fragte er. »Gottverdammt, was hat euch alle so die Sprache verschlagen? Da ist so ein Laffe von draußen gekommen, das ist alles.«
Niemand sagte etwas.
Der King stand auf, das Schweigen zerrte an ihm, und er haßte es. Er zog sein bestes Hemd und seine saubere Hose an und wischte den Staub von den glänzend polierten Schuhen. Er setzte seine Mütze in keckem Winkel auf und blieb einen Augenblick in der Tür stehen.
»Ich glaube, heute werde ich mir etwas ganz Besonderes kochen«, sagte er und sah niemanden an.
Als er sich umblickte, sah er deutlich den Hunger auf ihren Gesichtern und die kaum verhohlene Hoffnung in ihren Augen. Das ließ wieder Wärme in ihm aufsteigen, und er fühlte sich wieder normal und sah sie wählerisch an.
»Wirst du heute beschäftigt sein, Dino?« fragte er schließlich.
»Eh, nein. Nein«, antwortete Dino.
»Mein Bett muß gemacht werden, und auch etwas schmutzige Wäsche ist da.«
»Heißt das … soll ich mich darum kümmern?« fragte Dino unbehaglich.
»Willst du?«
Dino fluchte insgeheim, aber die Erinnerung an den Duft des Huhns am vergangenen Abend zerbrach seinen Willen. »Klar«, sagte er.
»Danke, Kamerad«, sagte der King höhnisch lächelnd und war über Dinos offensichtliche Gewissenskonflikte belustigt. Er drehte sich um und stieg die Treppe hinab.
»Welches Huhn willst du?« rief Dino hinter ihm her.
Der King blieb nicht stehen. »Das überlege ich mir noch«, antwortete er. »Mach nur das Bett und besorg die Wäsche.«
Dino lehnte sich gegen den Türrahmen und sah hinter dem King her, der in der prallen Sonne an der Gefängnismauer entlangging und um die Gefängnisecke bog. »Hund!«
»Geh und hol die Wäsche«, sagte Tex.
»Halt die Schnauze. Ich habe Hunger!«
»Er hat dich reingelegt und hat es fertiggebracht, daß du seine Arbeit ohne eines seiner gottverdammten Hühner erledigst.«
»Er wird heute eins essen«, erklärte Dino störrisch. »Und ich werde ihm beim Essen helfen. Er hat noch nie eins gegessen, ohne dem Helfer etwas zu geben.«
»Und wie war das gestern abend?«
»Verdammt, er mußte ja geizig sein, wo wir ihm doch seinen Platz weggenommen hatten.« Dino dachte an den englischen Hauptmann, an Zuhause und an seine Freundin und fragte sich, ob sie noch auf ihn wartete oder ob sie verheiratet war. Natürlich, sagte er trübsinnig zu sich, wird sie verheiratet sein, und niemand wird auf mich warten. Verdammt, wie soll ich bloß Arbeit kriegen?
»Das war früher«, sagte Byron Jones III eben. »Ich möchte wetten, der Hund kocht und frißt es vor unseren Augen.« Aber dabei dachte er an sein Elternhaus. Der Teufel soll mich holen, wenn ich auch nur noch einen Tag länger dort bleibe. Ich muß mir eine eigene Wohnung beschaffen. Ja. Aber verdammt, wo soll das Moos dafür herkommen?
»Und was ist, wenn er es tatsächlich tut?« fragte Tex. »Wir haben vielleicht noch zwei oder drei Tage vor uns.« Dann nach Hause, nach Texas, dachte er. Ob ich wieder meine Arbeit bekomme? Verdammt, wo soll ich wohnen? Wo soll ich Zaster hernehmen? Und wird es auch klappen, wenn ich ins Heu gehe?
»Was ist mit dem Limey-Offizier, Tex? Meinst du, wir sollen mit ihm reden?«
»Ja, ich glaube schon. Verdammt, aber erst heute abend spät oder morgen. Wir müssen uns erst an den Gedanken gewöhnen.« Tex unterdrückte ein Schaudern. »Als er mich angesehen hat, da war es mir gerade so, als – sehe er einen Aussätzigen an. Heiliger Bimbam, was hab ich bloß an mir? Ich sehe doch ganz normal aus, oder nicht?«
Alle sahen Tex forschend an und versuchten zu entdecken, was der Offizier gesehen hatte. Aber sie sahen nur Tex, den Tex, den sie seit dreieinhalb Jahren kannten.
»Ich finde, du siehst ganz normal aus«, erklärte Dino schließlich. »Wenn hier jemand eine Mißgeburt ist, dann ist er es. Mann, so bescheuert möchte ich sein, allein mit dem Fallschirm über Singapur abzuspringen. Mit all den lausigen Japsen ringsum. Nichts zu machen, Sir! Er ist der Blindgänger.«
Der King ging an der Gefängnismauer entlang. Du bist doch ein blöder Hund, sagte er zu sich. Verdammt, was regst du dich bloß so auf? Auf der Welt ist alles in Ordnung. Natürlich. Und du bist nach wie vor der King. Du bist nach wie vor der einzige, der weiß, wie man zurechtkommt.
Er rückte die Mütze in einen noch etwas keckeren Winkel und kicherte, als ihm Dino einfiel. Haha, der krumme Hund würde fluchen und sich fragen, ob er das Huhn tatsächlich bekommen würde, und dabei würde er genau wissen, daß er hereingelegt und durch einen Trick zum Arbeiten gebracht worden war. Zum Teufel mit ihm, soll er ruhig Angst ausstehen, dachte der King fröhlich.
Zwischen zwei Baracken überquerte er den Weg. Rund um die Baracken standen Gruppen von Männern. Sie sahen alle schweigend und reglos nach Norden zum Tor hin. Er bog um eine andere Baracke und sah plötzlich den Offizier mit ihm zugekehrtem Rücken in einem Meer von Leere stehen und verwirrt um sich blicken. Er sah den Offizier auf einige Männer zugehen und lachte hämisch, als er sie zurückweichen sah.
Verrückt, dachte er zynisch. Glatt verrückt. Was ist hier zum Fürchten? Der Kerl ist doch nur Hauptmann. Hm, bestimmt braucht er ein wenig Hilfe. Verdammt, aber was ihm solche Furcht einjagt, das kapiere ich nicht!
Er beschleunigte den Schritt, aber seine Schritte machten kein Geräusch, »'n Morgen, Sir«, sagte er forsch und grüßte.
Hauptmann Forsyth fuhr erschrocken herum. »Oh! Hallo.« Er erwiderte den Gruß mit einem Seufzer der Erleichterung. »Gott sei Dank, wenigstens ein Normaler hier.« Dann wurde ihm klar, was er gesagt hatte. »Oh, Entschuldigung. Ich wollte nicht …«
»Schon gut«, unterbrach der King freundlich. »Dieser Scheißhaufen reicht aus, einen um den Verstand zu bringen. Mensch, was sind wir froh, Sie zu sehen. Willkommen in Changi!«
Forsyth lächelte. Er war viel kleiner als der King, aber wie ein Panzer gebaut. »Danke. Ich bin Hauptmann Forsyth. Ich bin geschickt worden, um mich um das Lager zu kümmern, bis die Flotte ankommt.«
»Wann ist das?«
»In sechs Tagen.«
»Schaffen sie es nicht früher?«
»Das braucht seine Zeit.« Forsyth nickte zu den Baracken hin. »Was ist hier los? Sie tun, als wäre ich ein Aussätziger.«
Der King zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich haben sie einen Schock. Sie trauen ihren Augen noch nicht. Sie wissen ja, wie manche Leute sind. Und es ist eine lange Zeit gewesen.«
»Ja, das stimmt«, sagte Forsyth langsam.
»Verrückt, daß sie sich vor Ihnen fürchten.« Der King zuckte wieder die Achseln. »Aber so ist nun mal das Leben.«
»Sie sind Amerikaner?«
»Klar. Wir sind fünfundzwanzig. Offiziere und Soldaten. Hauptmann Brough ist unser rangältester Offizier. Er wurde auf einem Einsatz über dem Himalaya abgeknallt. Vielleicht möchten Sie ihn kennenlernen?«
»Selbstverständlich.« Forsyth war todmüde. Vor vier Tagen hatte man ihm in Burma diesen Auftrag erteilt. Das Warten und der Flug und der Absprung und der Marsch zum Wachhaus und die Sorge, wen er vorfinden würde und was die Japaner tun würden und wie, zum Teufel, er seinen Auftrag ausführen sollte, all diese Dinge hatten ihm den Schlaf geraubt und Schrecken in seine Träume getragen. Na, alter Knabe, du hast um den Auftrag gebeten, und du hast ihn bekommen, und da bist du nun. Du hast wenigstens die erste Probe oben am Haupttor bestanden. Verdammter Idiot, beschimpfte er sich selbst, du warst so versteinert, daß du nur brüllen konntest: ›Grüßt, ihr verdammten Hunde.‹
Von da, wo er stand, konnte Forsyth Männerknäuel sehen, die ihn aus den Baracken und aus den Fenstern und Türen und aus den Schatten heraus anstarrten. Und alle schwiegen.
Er konnte die Straßengabelung und dahinter das Latrinengebiet sehen. Er sah die Baracken, die wie Geschwüre wirkten, und in seine Nasenflügel stieg der Gestank von Schweiß und Schimmel und Urin. Überall waren lebendige Leichname – Leichname in Lumpen, Leichname in Lendentüchern, Leichname in Sarongs, knochig und fleischlos.
»Fühlen Sie sich nicht wohl?« fragte der King besorgt. »Sie sehen etwas blaß aus.«
»Ich fühle mich wohl. Wer sind die armen Kerle?«
»Nur ein paar von den Leuten hier«, erklärte der King. »Offiziere.«
»Was?«
»Klar. Was ist an ihnen nicht in Ordnung?«
»Sie wollen mir weismachen, daß das dort drüben Offiziere sind?«
»Genau. All diese Baracken hier sind Offiziersbaracken. In den Bungalowreihen da drüben wohnen die hohen Tiere, Majore und Obersten. Er sind etwa tausend Aussies und Lim – Engländer«, verbesserte er sich schnell, »in den Baracken südlich vom Gefängnis. Im Gefängnis selbst sind etwa sieben- oder achttausend Engländer und Aussies untergebracht. Alles Soldaten.«
»Sind alle so?«
»Wie bitte?«
»Sehen alle so aus? Sind alle so gekleidet?«
»Natürlich.« Der King lachte. »Vermutlich sehen sie wie eine Bande von Landstreichern aus. Bis jetzt hat mir das noch nie etwas ausgemacht.« Dann bemerkte er, daß Forsyth ihn kritisch betrachtete.
»Was ist?« fragte er, und sein Lächeln verblaßte.
Hinter ihm und ringsum sahen Männer zu, unter denen auch Peter Marlowe war. Aber sie blieben alle außer Reichweite. Sie fragten sich alle verwundert, ob ihre Augen wirklich einen Mann sahen, der wie ein Mann aussah, einen Revolver an der Hüfte trug und mit dem King redete.
»Warum sehen Sie so anders aus als die andern?« fragte Forsyth.
»Wie bitte?«
»Warum sind Sie ordentlich gekleidet – und alle andern stecken in Lumpen?«
Des King Lächeln kehrte zurück. »Ich habe mich um meine Kleidung gekümmert. Wahrscheinlich haben sie es nicht getan.«
»Sie sehen ziemlich kräftig aus.«
»Nicht so kräftig, wie ich es gern sein möchte, aber ich glaube, ich bin ganz gut in Form. Soll ich Ihnen das Lager zeigen? Ich denke, Sie können vielleicht Hilfe brauchen. Ich könnte ein paar Leute zusammentrommeln. Im Lager gibt es keine nennenswerten Lebensmittelvorräte. Aber oben an der Garage steht ein Lastwagen. Wir könnten nach Singapur hineinfahren und organisieren …«
»Wie kommt es, daß Sie hier offenbar einmalig sind?« unterbrach Forsyth, und seine Worte klangen wie Schüsse.
»Wie?«
Forsyth zeigte auf das Lager. »Ich sehe vielleicht zwei- oder dreihundert Männer, aber Sie sind der einzige, der ordentlich gekleidet ist. Ich sehe keinen, der nicht dünn wie ein Bambusrohr ist, aber Sie«, dabei drehte er sich um und sah den King an, und seine Augen blickten hart, »Sie sind ›gut in Form‹.«
»Ich bin genau wie alle andern auch. Nur bin ich auf Draht gewesen. Und habe Glück gehabt.«
»So etwas wie Glück gibt es nicht in einem Höllenloch wie diesem hier!«
»Natürlich gibt es das«, erwiderte der King. »Und es ist nichts dabei, wenn man sich um seine Kleider kümmert, es ist nichts dabei, wenn man sich so gut wie nur möglich in Form hält. Man muß sich immer um sich kümmern. Das schadet doch nichts.«
»Das schadet wirklich nichts«, antwortete Forsyth, »solange es nicht auf Kosten anderer geht!« Dann bellte er: »Wo ist die Unterkunft des Lagerkommandanten?«
»Dort drüben.« Der King zeigte ihm die Richtung. »Die erste Bungalowreihe. Ich weiß nicht, was in Sie gefahren ist. Ich hatte gedacht, ich könnte Ihnen helfen. Ich hatte gedacht, Sie könnten jemanden brauchen, der Sie über alles unterrichtet.«
»Ihre Hilfe brauche ich nicht, Korporal. Wie heißen Sie?«
Dem King tat es leid, daß er sich die Zeit genommen und zu helfen versucht hatte. Hund, dachte er wütend, das kommt davon, wenn man helfen will. »King, Sir.«
»Sie können wegtreten, Korporal. Ich werde Sie nicht vergessen. Und ich werde bestimmt dafür sorgen, daß ich bei allernächster Gelegenheit mit Hauptmann Brough sprechen kann.«
»Verdammt, was soll das bedeuten?«
»Es bedeutet, daß ich Sie höchst verdächtig finde«, knurrte Forsyth. »Ich möchte wissen, warum Sie in Form sind und andere nicht. Um an einem Ort wie diesem hier in Form bleiben zu können, muß man Geld haben, und es gibt hier bestimmt sehr wenige Möglichkeiten, zu Geld zu kommen. Sehr wenige Möglichkeiten. Verräterdienste sind eine davon! Handel mit Medikamenten oder Lebensmitteln eine andere …«
»Verdammt, ich lasse mir solchen Stuß nicht …«
»Sie sind entlassen, Korporal! Aber vergessen Sie nicht, daß ich Sie mir näher unter die Lupe nehmen werde!«
Der King mußte sich gewaltig zusammennehmen, um dem Hauptmann nicht die geballte Faust ins Gesicht zu schlagen.
»Sie sind entlassen«, wiederholte Forsyth und setzte dann wütend hinzu: »Verschwinden Sie mir aus den Augen!«
Der King grüßte und ging davon, und das Blut bildete einen roten Nebel vor seinen Augen.
»Hallo«, grüßte Peter Marlowe und trat dem King in den Weg. »Mein Gott, Ihren Mumm möchte ich haben.«
Des King Augen blickten wieder klar, und er knurrte: »Hallo, Sir.« Er grüßte und wollte vorbeigehen.
»Mein Gott, Rajah, was ist los?«
»Nichts. Bin nur nicht – zum Reden aufgelegt.«
»Warum? Wenn ich etwas getan habe, was Sie verletzt oder wütend gemacht hat, dann sagen Sie es mir. Bitte.«
»Hat nichts mit Ihnen zu tun.« Der King zwang sich zu einem Lächeln, aber innerlich schrie er: Großer Gott, was hab ich Unrechtes getan? Ich habe den Hunden zu fressen gegeben und ihnen geholfen, und jetzt sehen sie mich an, als ob ich Luft wäre.
Er blickte sich nach Forsyth um und sah ihn eben zwischen zwei Baracken verschwinden. Und er, dachte er gequält, er glaubt, ich sei ein gottverdammter Verräter.
»Was hat er gesagt?« fragte Peter Marlowe.
»Nichts. Er – ich muß etwas – für ihn tun.«
»Ich bin Ihr Freund. Lassen Sie mich Ihnen helfen. Ist es nicht genug, daß ich hier bin?«
Aber der King wollte sich nur verbergen. Forsyth und alle anderen hatten ihm das Gesicht genommen. Er wußte, daß er verloren war. Und ohne Gesicht war er voller Furcht.
»Ein andermal«, murmelte er, grüßte und eilte davon. Lieber Gott, weinte er innerlich, gib mir bitte das Gesicht zurück.
Am nächsten Tag flog brummend eine Maschine über das Lager. Aus ihrem Bauch fielen Versorgungsbomben. Einige der Bomben fielen in das Lager. Die außerhalb des Lagers herunterkamen, wurden nicht geholt. Niemand verließ die Geborgenheit Changis. Es konnte immer noch eine Falle sein. Fliegen schwärmten, einige Männer starben.
Noch ein Tag. Dann begannen Flugzeuge um die Landebahn zu kreisen. Ein ausgewachsener Oberst schritt in das Lager. Ärzte und Sanitäter waren bei ihm. Sie brachten Medikamente mit. Andere Flugzeuge kreisten und landeten.
Plötzlich jagten Jeeps und riesige Männer mit Zigarren und vier Ärzte durch das Lager. Alle waren Amerikaner. Sie liefen durch das Lager, stachen die Amerikaner mit Nadeln und gaben ihnen gallonenweise frischen Orangensaft und Essen und Zigaretten und umarmten sie – ihre Jungens, ihre Helden. Sie halfen ihnen in die Jeeps und fuhren sie zum Tor von Changi, wo ein Lastwagen wartete.
Peter Marlowe sah verwundert zu. Sie sind keine Helden, dachte er verwirrt. Ebensowenig wie wir es sind. Wir haben verloren. Wir haben den Krieg verloren. Unseren Krieg. Oder etwa nicht? Wir sind keine Helden. Wir sind es nicht!
Durch den Nebel vor seinem Geist sah er den King. Seinen Freund. Er hatte tagelang darauf gewartet, mit ihm reden zu können, aber jedesmal, wenn er ihn gefunden hatte, hatte der King ihn abgewiesen. »Später«, hatte der King immer gesagt, »ich bin jetzt beschäftigt.« Als die neuen Amerikaner angekommen waren, hatte er immer noch keine Zeit gehabt. Deshalb stand Peter Marlowe zusammen mit vielen Männern am Tor, beobachtete die Abfahrt der Amerikaner und wartete darauf, seinem Freund ein letztes Lebewohl sagen zu können, wartete geduldig darauf, ihm für den Arm und für die vielen Stunden gemeinsamen Lebens zu danken.
Unter den Zuschauern war Grey.
Forsyth stand müde neben dem Lastwagen. Er übergab die Liste. »Sie behalten das Original, Sir«, sagte er zu dem rangältesten amerikanischen Offizier. »Ihre Leute sind nach Dienstgrad, Einheit und Nummer ihrer Erkennungsmarke aufgeführt.«
»Danke«, antwortete der Major, ein untersetzter Fallschirmjäger mit vorspringenden Backenknochen. Er unterschrieb die Papiere und reichte die fünf Durchschläge zurück. »Wann kommen Ihre Leute hier an?«
»In ein paar Tagen.«
Der Major sah sich um und schauderte. »Mir scheint, Sie könnten Hilfe brauchen.«
»Haben Sie vielleicht entbehrliche Medikamente?«
»Klar. Wir haben einen ganzen Vogel, der nur mit dem Zeug vollgestopft ist. Ich will Ihnen was sagen, sobald ich unsere Jungens auf den Weg gebracht habe, schicke ich Ihnen alles mit unseren Jeeps. Ich lasse Ihnen einen Arzt und zwei Sanitäter hier, bis Ihre Leute hier ankommen.«
»Danke.« Forsyth versuchte, sich die Müdigkeit aus den Augen zu reiben. »Wir könnten sie brauchen. Ich unterschreibe für die Medikamente. Das Oberkommando der Südostasienarmee wird meine Unterschrift anerkennen.«
»Wozu ein gottverdammtes Papier. Sie brauchen die Medikamente, und Sie bekommen sie. Dafür sind sie schließlich da.«
Er drehte sich um. »Los, Unteroffizier, lassen Sie die Leute auf den Lastwagen steigen.« Er ging zum Jeep hinüber und beobachtete, wie die Tragbahre ordentlich festgeschnallt wurde. »Was meinen Sie, Doktor?«
»Bis in die Staaten hält er es durch.« Der Arzt blickte von der bewußtlosen Gestalt auf, die ordentlich in die Zwangsjacke geschnallt vor ihm auf der Tragbahre lag. »Aber das ist auch alles. Sein Geist ist für immer hinüber.«
»Hunde«, sagte der Major müde und hakte Max auf der Liste ab. »Irgendwie scheint mir das ungerecht.« Er senkte die Stimme. »Was ist mit den andern?«
»Es sieht nicht besonders gut aus. Allgemeine Mangelerscheinungen. Angst vor der Zukunft. Nur einer ist in halbwegs anständiger physischer Verfassung.«
»Gottverdammt, ich begreife nicht, wie auch nur einer es geschafft hat. Sind Sie im Gefängnis gewesen?«
»Natürlich. Hab mich nur mal schnell darin umgesehen. Das hat mir gereicht.«
Peter Marlowe sah finster zu. Er wußte, daß er nicht allein der Abfahrt seines Freundes wegen unglücklich war. Es war mehr als das. Er war traurig, weil die Amerikaner weggingen. Irgendwie hatte er das Gefühl, daß er dorthin, zu ihnen gehörte, und das war doch falsch, denn sie waren Ausländer. Dabei wußte er genau, daß er sich nie als Ausländer fühlte, wenn er bei ihnen war. War es Neid? fragte er sich. Oder Eifersucht? Nein, ich glaube nicht. Ich weiß nicht, warum, aber ich habe das Gefühl, daß sie nach Hause gehen und ich im Stich gelassen werde.
Er trat ein wenig näher an den Lastwagen heran, als Befehle gerufen wurden und die Männer auf den Wagen zu klettern begannen. Brough, Tex, Dino, Byron Jones III und alle andern, die in ihren nagelneuen Uniformen prächtig und unwirklich aussahen. Sie redeten und schrien und lachten. Nicht aber der King. Er stand etwas abseits. Allein.
Peter Marlowe war froh, daß sein Freund wieder unter eigenen Leuten war, und er betete, der King möchte wieder mit sich selbst ins reine kommen, wenn er erst unterwegs war.
»Rauf mit euch, Leute.«
»Macht schon, klettert auf die gottverdammte Karre.«
»Nächste Station die Staaten!«
Grey hatte keine Ahnung, daß er neben Peter Marlowe stand. »Ich habe gehört«, sagte er und sah zum Lastwagen hinüber, »daß sie ein Flugzeug haben, das sie den ganzen Weg nach Amerika zurückfliegt. Eine Sondermaschine. Ist so was möglich? Nur eine Handvoll Leute und ein paar kleine Offiziere?«
Peter Marlowe hatte seinerseits Grey nicht bemerkt. Er betrachtete ihn forschend und verachtete ihn. »Was sind Sie für ein gottverdammter Snob, Grey, wenn man es richtig betrachtet.«
Greys Kopf flog herum. »Ach, Sie sind es.«
»Ja.« Peter Marlowe nickte zu dem Lastwagen hin. »Die Leute glauben, daß der eine soviel wert ist wie der andere. Deshalb bekommen sie eine Maschine ganz für sich allein. Es ist großartig, wenn man es sich überlegt.«
»Erzählen Sie mir bloß nicht, daß die oberen Klassen endlich erkannt haben …«
»Ach, halten Sie doch die Schnauze!« Peter Marlowe ging weg, die Galle kam ihm hoch.
Neben dem Lastwagen stand ein Unteroffizier, ein gewaltiger Mann mit vielen Streifen auf dem Ärmel und einer erkalteten Zigarre im Mund. »Los. Rauf auf den Lastwagen«, wiederholte er geduldig.
Der King stand als letzter unten auf der Erde.
»Himmeldonnerwetter, klettern Sie rauf!« knurrte der Unteroffizier. Der King rührte sich nicht. Dann warf der Unteroffizier ungeduldig die Zigarre weg, stieß den Zeigefinger vor und brüllte: »Sie, Korporal! Machen Sie, daß Sie Ihren gottverdammten Arsch auf den Lastwagen raufkriegen!«
Der King fuhr aus seiner Versunkenheit auf. »Jawohl, Unteroffizier. Entschuldigung, Unteroffizier!«
Fügsam kletterte er hinten auf den Lastwagen und stand dort, während alle anderen saßen und rings um ihn erregte Männer miteinander redeten, aber nicht mit ihm. Niemand schien ihn zu bemerken. Er hielt sich an der Seitenklappe des Lastwagens fest, als dieser aufheulte und den Staub Changis in die Luft schleuderte. Peter Marlowe stürzte wild vor und hob die Hand, um seinem Freund zu winken. Aber der King blickte nicht zurück. Er blickte nie zurück.
Plötzlich kam sich Peter Marlowe hier am Tor von Changi sehr einsam vor.
»Das Zuschauen hat sich gelohnt«, frohlockte Grey.
Peter Marlowe drehte sich zu ihm um. »Verschwinden Sie, bevor ich mich an Ihnen vergreife.«
»Es war herrlich, ihn so weggehen zu sehen. ›Sie, Korporal! Machen Sie, daß Sie Ihren gottverdammten Arsch auf den Lastwagen raufkriegen.‹« In Greys Augen stand ein gefährliches Glitzern. »Ganz wie der Abschaum, der er selber gewesen ist.«
Aber Peter Marlowe hatte nur den King in Erinnerung, wie er wirklich gewesen war. Nicht der King, der jämmerlich sagte: »Jawohl, Unteroffizier.« Das war nicht der King. Das war ein ganz anderer Mann gewesen, herausgerissen aus dem Leib Changis, der Mann, der Changi so lange ernährt hatte.
»Ganz wie der Dieb, der er gewesen ist«, sagte Grey langsam und betont.
Peter Marlowe ballte die gesunde Linke. »Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt. Jetzt sage ich es zum letztenmal.«
Dann schlug er Grey die Faust ins Gesicht, daß dieser rückwärts taumelte, aber er blieb auf den Beinen und warf sich auf Peter Marlowe. Die beiden Männer schlugen aufeinander ein, und plötzlich stand Forsyth neben ihnen.
»Aufhören«, befahl er. »Zum Teufel, warum schlagen Sie sich?«
»Wegen nichts«, antwortete Peter Marlowe.
»Nehmen Sie die Hand von mir weg«, knurrte Grey und riß den Arm aus Forsyths Griff. »Gehen Sie mir aus dem Weg.«
»Noch einmal Ärger mit einem von Ihnen beiden, und ich bestrafe Sie mit Stubenarrest.«
Bestürzt stellte Forsyth fest, daß der eine Hauptmann und der andere Leutnant war. »Sie sollten sich schämen, sich wie gemeine Soldaten zu raufen! Gehen Sie weiter, alle beide, weg von hier. Der Krieg ist vorbei, zum Donnerwetter!«
»Tatsächlich?« Grey sah noch einmal Peter Marlowe an und ging dann weg.
»Was ist mit Ihnen beiden los?« fragte Forsyth.
Peter Marlowe starrte in die Ferne. Der Lastwagen war längst nicht mehr zu sehen. »Sie würden es doch nicht verstehen«, antwortete er und wandte sich ab.
Forsyth sah hinter ihm her, bis er verschwunden war. Das können Sie millionenmal sagen, dachte er erschöpft. Ich verstehe überhaupt nichts von irgendeinem von euch.
Er wandte sich wieder dem Tor von Changi zu. Dort standen wie immer Gruppen von Männern und starrten schweigend hinaus. Das Tor war wie immer bewacht. Aber die Posten waren Offiziere und keine Japaner oder Koreaner mehr. An dem Tag, an dem er angekommen war, hatte er ihnen befohlen, wegzugehen, und hatte eine Offizierswache eingerichtet, die das Lager schützen und die Leute darin festhalten sollte. Aber die Posten waren unnötig, denn niemand hatte versucht auszubrechen. Ich begreife es nicht, sagte Forsyth müde zu sich. Es ist kein Sinn darin. Nirgendwo ist hier ein Sinn.
Erst jetzt fiel ihm wieder ein, daß er den verdächtigen Amerikaner – den Korporal – nicht gemeldet hatte. Er hatte sich um so viel kümmern müssen, daß er den Mann völlig aus dem Sinn verloren hatte. Verdammter Idiot, jetzt ist es zu spät! Dann erinnerte er sich, daß der amerikanische Major zurückkommen würde. Gut, dachte er, ich werde es ihm erzählen. Er kann sich mit ihm befassen.
Zwei Tage später kamen weitere Amerikaner an. Und ein wirklicher amerikanischer General. Er wurde wie eine Bienenkönigin von Fotografen, Reportern und Ordonnanzen umschwärmt. Der General wurde in den Bungalow des Lagerkommandanten geführt. Peter Marlowe, Mac und Larkin wurden dorthin befohlen. Der General hob den Kopfhörer des Radios ans Ohr und tat, als horchte er.
»Bleiben Sie so stehen, General!«
»Nur noch eine, General!«
Peter Marlowe wurde nach vorn geschoben, und man wies ihn an, sich über das Radio zu beugen und so zu tun, als erklärte er es dem General.
»Nicht so … Sie müssen uns das Gesicht zuwenden. Jawohl, lassen Sie uns jetzt noch die Knochen sehen, Sam, im Licht. So ist's schon besser.«
In dieser Nacht wurde Changi von der dritten, letzten und schlimmsten Furcht heimgesucht, der Furcht vor dem Morgen.
Ganz Changi wußte jetzt, daß der Krieg vorbei war. Der Zukunft mußte man ins Auge sehen. Der Zukunft außerhalb von Changi. Die Zukunft war jetzt. Jetzt.
Und die Männer von Changi zogen sich in sich selbst zurück. Es gab keinen andern Ort, an den sie hätten flüchten können. Sie konnten sich nirgends verbergen. Nirgendwo anders als in sich selbst. Und in ihnen war Entsetzen.
Die alliierte Flotte kam in Singapur an. Immer mehr Außenseiter drängten sich in Changi ein.
Jetzt begannen auch die Fragen.
Name, Dienstgrad, Nummer der Erkennungsmarke, Einheit?
Wo haben Sie gekämpft?
Wer ist gestorben?
Wer wurde getötet?
Wie war es mit Grausamkeiten? Wie viele Male sind Sie geschlagen worden? Wen haben Sie gesehen, der mit dem Bajonett erstochen wurde?
Niemand? Unmöglich! Denken Sie nach, Mann! Benutzen Sie Ihren Kopf! Erinnern Sie sich. Wie viele sind gestorben? Auf dem Schiff? Drei, vier, fünf? Warum? Wer ist dabeigewesen?
Wer ist von Ihrer Einheit übriggeblieben? Zehn? Von einem Regiment? Gut, schon besser. Na, wie sind die übrigen gestorben? Jawohl, alle Einzelheiten!
Aha, Sie haben also gesehen, wie sie mit dem Bajonett erstochen worden sind?
Drei am Pagodapaß? Aha, bei der Eisenbahn. Ja. Das wissen wir schon. Was können Sie hinzufügen? Welche Verpflegung haben Sie bekommen? Narkosemittel? Verzeihung, selbstverständlich, hatte ich ganz vergessen. Cholera?
Jawohl, ich weiß alles über Lager 3. Was ist mit 14? Dem an der Grenze zwischen Burma und Siam? Da sind Tausende gestorben, nicht wahr?
Zusammen mit den Fragen brachten die Außenseiter auch Meinungen mit. Die Männer Changis hörten, wie einer sie dem andern heimlich zuflüsterte.
Haben Sie den Mann gesehen? Mein Gott, einfach unmöglich! Er läuft nackt herum! In aller Öffentlichkeit!
Und sehen Sie mal da hinüber! Da macht es einer in aller Öffentlichkeit! Und, großer Gott, er benutzt kein Papier! Er nimmt Wasser und die Hände! Mein Gott – alle tun es!
Sehen Sie sich dieses schmutzige Bett an! Mein Gott, hier wimmelt es ja von Wanzen! Auf welche Stufe die armen Schweine gesunken sind – schlimmer als Tiere!
Müßten eigentlich in einer Irrenanstalt sein! Gewiß, die Japsen haben sie soweit gebracht, aber es wäre trotzdem sicherer, wenn man sie einsperrte. Sie scheinen nicht zu wissen, was richtig und was falsch ist!
Sehen Sie doch mal, wie die da drüben das schmutzige Zeug aufschlabbern! Mein Gott, da gibt man ihnen Brot und Kartoffeln, und sie wollen Reis!
Muß wieder zum Schiff zurück. Kann's nicht abwarten, die Jungens hierherzubringen. Die Chance ist einmalig, so was kriegt man nie wieder zu sehen.
Mein Gott, die Schwestern da drüben wagen doch allerhand, hier so herumzulaufen.
Quatsch, die sind völlig sicher. Hab eine ganze Masse von den Mädchen heraufkommen sehen, um sich hier umzusehen. Donnerwetter, da drüben ist eine tolle Biene!
Widerlich, wie diese Gefangenen sie anglotzen.
Außer den Fragen und Meinungen brachten die Außenseiter auch Antworten mit.
Ach, Leutnant beim fliegenden Personal Marlowe? Jawohl, wir haben ein Kabel von der Admiralität erhalten. Kapitän Marlowe von der Königlichen Kriegsmarine ist, eh, ich fürchte, Ihr Vater ist tot. Gefallen im Kampf auf der Murmanskstrecke. Am 10. September 43. Tut mir leid. Der nächste!
Hauptmann Spence? Jawohl. Wir haben viel Post für Sie. Sie können sie im Wachhaus in Empfang nehmen. Ach ja. Ihre – Ihre Frau und Ihr Kind sind in London bei einem Luftangriff umgekommen. Im Januar dieses Jahres. Tut mir leid. Eine V 2. Scheußlich. Der nächste!
Oberstleutnant Jones? Jawohl, Sir. Sie werden bei der ersten Gruppe sein, die morgen abgeht. Alle rangältesten Offiziere sind dabei. Bon voyage. Der nächste!
Major McCoy? Ach ja, Sie haben sich nach Ihrer Frau und Ihrem Sohn erkundigt. Lassen Sie mal sehen, sie waren doch an Bord der Empress of Shropshire, nicht wahr? Das Schiff, das am 9. Februar 42 von Singapur ausgelaufen ist? Tut mir leid, wir haben keine Nachrichten, wir wissen lediglich, daß es irgendwo vor Borneo versenkt wurde. Es gibt Gerüchte, daß es einige Überlebende gegeben hat, aber ob es wirklich welche gegeben hat oder wo die jetzt sein mögen – das weiß niemand. Sie werden sich gedulden müssen! Wir haben erfahren, daß es überall Kriegsgefangenenlager gibt – auf Célebes – auf Borneo – Sie werden sich gedulden müssen! Der nächste!
Ah, Oberst Smedly-Taylor? Tut mir leid, schlechte Nachrichten. Ihre Frau ist bei einem Luftangriff umgekommen. Vor zwei Jahren. Ihr jüngster Sohn, Staffelführer Major P.R. Smedly-Taylor, VC, wurde 44 über Deutschland abgeschossen. Ihr Sohn John ist in Berlin bei den Besatzungsstreitkräften. Hier ist seine Adresse. Rang? Oberstleutnant. Der nächste!
Oberst Larkin? Oh, die Australier werden irgendwo anders abgefertigt. Der nächste!
Hauptmann Grey? Ach, hm, etwas schwierige Sache. Wissen Sie, Sie wurden 42 als im Kampf gefallen gemeldet. Ich fürchte, Ihre Frau hat sich wieder verheiratet. Sie ist – eh … na, hier ist ihre augenblickliche Adresse. Keine Ahnung, Sir. Sie werden sich an den Kronanwalt wenden müssen. Rechtsfragen liegen leider nicht in meiner Zuständigkeit. Der nächste!
Hauptmann Ewart? O ja, vom malaiischen Regiment? Jawohl, freut mich, Ihnen berichten zu können, daß Ihre Frau und Ihre drei Kinder gesund und munter sind. Sie sind im Cha-Song-Lager in Singapur. Jawohl, wir haben heute nachmittag eine Transportmöglichkeit für Sie. Wie bitte? Ja, keine Ahnung. Auf der Nachricht steht drei – nicht zwei Kinder. Vielleicht ist es ein Irrtum.
Immer mehr Männer gingen jetzt zum Schwimmen. Aber das Draußen war immer noch furchterregend, und die Männer, die hinausgingen, waren froh, wenn sie wieder drinnen sein konnten. Sean ging schwimmen. Er ging mit den Männern zum Strand hinab, und in der Hand trug er ein Bündel. Als die Gruppe den Strand erreichte, wandte Sean sich ab, und die Männer, die meisten lachten und verhöhnten den Perversen, der seine Kleider nicht ausziehen wollte wie jeder andere.
»Hinterlader!«
»Schwuler!«
»Verkommener Spinatstecher!«
»Homo!«
Sean ging den Strand hinauf, weg von den Hohnrufen, bis er eine abgelegene Stelle fand. Er schlüpfte aus seinen kurzen Hosen und aus dem Hemd, zog den Abendsarong, den mit Watten ausgepolsterten Büstenhalter, den Hüftgürtel und die Strümpfe an, kämmte sich das Haar und legte Make-up auf. Sorgfältig, sehr sorgfältig. Und dann stand die Frau auf, selbstsicher und sehr glücklich. Sie zog ihre hochhackigen Schuhe an und ging in das Meer hinaus. Das Meer hieß sie willkommen und ließ sie leicht schlafen, und ganz allmählich verschlang es dann die Kleider und den Körper und die ganze Spanne ihres Lebens.
Ein Major stand in der Tür zu Peter Marlowes Baracke. Seine Uniform war von Metallstreifen überzogen, und er wirkte sehr jung. Er sah sich forschend in der Baracke um und starrte auf die anstößigen Gestalten, die auf ihren Betten herumlagen oder sich umkleideten oder rauchten oder sich für eine Dusche fertigmachten. Seine Augen blieben auf Peter Marlowe haften.
»Verdammte Scheiße, was starren Sie mich an?« schrie Peter Marlowe schrill.
»Wie reden Sie mit mir! Ich bin Major und …«
»Das kümmert mich einen Scheißdreck, und wenn Sie Christus sind! Verschwinden Sie! Raus!«
»Stillgestanden! Ich werde Sie vors Kriegsgericht bringen!« brüllte der Major mit hervortretenden Augen und von Schweiß triefend. »Sie sollten sich schämen, in einem Weiberrock dazustehen …«
»Es ist ein Sarong …«
»Es ist ein Rock! In einem Rock herumzustehen, halb nackt! Ihr Kriegsgefangenen glaubt wohl, ihr könnt euch alles erlauben. Gott sei Dank könnt ihr das nicht. Und jetzt wird man euch Respekt beibringen vor …«
Peter Marlowe riß sein Bajonett aus der Scheide, raste zur Tür und hielt dem Major die Klinge vor das Gesicht. »Verschwinden Sie auf der Stelle, sonst schneide ich Ihnen bei Gott die verdammte Kehle durch …«
Der Major verduftete.
»Ruhig Blut, Peter«, murmelte Phil. »Sie bringen uns noch alle in Schwierigkeiten.«
»Warum starren sie uns an? Warum? Gottverdammt, warum?« schrie Peter Marlowe. Er bekam keine Antwort.
Ein Arzt betrat die Baracke, ein Arzt mit Rotkreuzbinde, und lächelte Peter Marlowe an. »Beachten Sie ihn überhaupt nicht«, sagte er und zeigte auf den Major, der draußen herumging.
»Zum Teufel, warum starrt ihr alle uns so an?«
»Rauchen Sie eine Zigarette und beruhigen Sie sich.«
Der Arzt schien wirklich nett und wirklich ruhig, aber er war ein Außenseiter – und deshalb durfte man ihm nicht trauen.
»Rauchen Sie eine Zigarette und beruhigen Sie sich! Das ist alles, was ihr Hunde sagen könnt«, erregte sich Peter Marlowe. »Ich habe gefragt, warum ihr alle uns so anstarrt?«
Der Arzt zündete sich selbst eine Zigarette an, setzte sich auf eines der Betten und wünschte dann, er hätte es nicht getan, denn er wußte, daß alle Betten von Ungeziefer verseucht waren. Aber er wollte helfen. »Ich will versuchen, es Ihnen zu erklären«, begann er ruhig. »Sie, Sie alle, haben das Unerträgliche ertragen und das Unerduldbare erduldet. Sie sind wandelnde Skelette. Ihre Gesichter sind nichts als Augen, und in den Augen steht ein Blick …« Er hielt einen Augenblick inne und versuchte, die richtigen Worte zu finden, denn er wußte, daß sie Hilfe brauchten und Fürsorge und Freundlichkeit. »Ich weiß nicht recht, wie ich es beschreiben soll. Es ist Argwohn – nein, das ist nicht das richtige Wort, und es ist auch nicht Furcht. Aber Sie alle haben den gleichen Blick in den Augen. Und Sie sind alle lebendig, obwohl Sie den Naturgesetzen nach eigentlich tot sein müßten. Wir wissen nicht, warum Sie nicht tot sind oder warum Sie überlebt haben – ich meine jeden hier, warum? Wir von draußen starren Sie an, weil Sie uns faszinieren …«
»Etwa so wie dumme Auguste in einer gottverdammten Schmierenvorstellung?«
»Jawohl«, bestätigte der Arzt ruhig. »So könnte man es ausdrücken, aber …«
»Ich schwöre bei Gott, daß ich den nächsten Halunken umbringe, der mich anglotzt, als ob ich ein Affe wäre.«
»Hier«, sagte der Arzt und versuchte, ihn zu beschwichtigen. »Hier sind einige Pillen. Sie werden Sie beruhigen …«
Peter Marlowe schlug dem Arzt die Pillen aus der Hand und schrie: »Ich will keine verdammten Pillen. Ich will nur, daß man mich in Ruhe läßt!« Und dann floh er aus der Baracke.
Die amerikanische Baracke war verlassen.
Peter Marlowe warf sich auf das Bett des King und weinte.
»Wiedersehn, Peter«, grüßte Larkin.
»Wiedersehn, Oberst.«
»Wiedersehn, Mac.«
»Viel Glück, mein Junge.«
»Wir bleiben in Verbindung.«
Larkin gab ihnen die Hand, und dann ging er zum Tor von Changi hinauf, wo Lastwagen bereitstanden, um die letzten Aussies zu den Schiffen zu bringen. Nach Hause.
»Wann können Sie weg, Peter?« fragte Mac, nachdem Larkin verschwunden war.
»Morgen. Wie steht es mit Ihnen?«
»Ich gehe jetzt weg, aber ich bleibe in Singapur. Es hat keinen Sinn, an Bord eines Schiffes zu gehen, bevor ich nicht weiß, in welche Richtung ich fahren soll.«
»Immer noch keine Nachrichten?«
»Nein. Sie könnten überall in Indien sein. Aber wenn sie und Angus tot wären, dann glaube ich, wüßte ich es. Im Innern.«
Mac hob den Rucksack und vergewisserte sich unwillkürlich, daß die versteckte Ölsardinenbüchse noch sicher an ihrem Platz lag. »Ich habe ein Gerücht gehört, daß sich einige Frauen in einem Lager in Singapur befinden, die auf der Shropshire gewesen sind. Vielleicht weiß eine von ihnen etwas oder kann mir einen Hinweis geben. Falls ich sie überhaupt finde.« Er sah alt und zerfurcht, aber sehr stark aus. Er streckte die Hand aus. »Salamat.«
»Salamat.«
»Puki 'mahlu!«
»Senderis«, antwortete Peter Marlowe und spürte seine Tränen, schämte sich ihrer aber nicht, so wenig wie Mac sich der seinen schämte.
»Sie können mir immer an die Adresse der Bank von Singapur schreiben, mein Junge.«
»Das werde ich tun. Viel Glück, Mac.«
»Salamat!«
Peter Marlowe stand auf der Straße, die das Lager teilte, und sah hinter Mac her, der den Hügel hinaufging. Auf der Hügelkuppe blieb Mac stehen, drehte sich um und winkte noch einmal. Peter Marlowe winkte zurück. Und dann war Mac in der Menge verschwunden.
Und jetzt war Peter Marlowe ganz allein.
Das letzte Morgengrauen in Changi. Ein letzter starb. Einige Offiziere aus Baracke 16 waren bereits weg. Die Kränksten.
Peter Marlowe lag im Halbschlaf unter dem Moskitonetz auf seinem Bett. Rings um ihn wachten Männer auf, standen auf, gingen weg, um sich zu erleichtern. Carstairs stand auf dem Kopf und übte Yoga. Phil Mint bohrte schon mit einer Hand in der Nase und zerquetschte mit der anderen Fliegen. Das Bridgespiel hatte schon begonnen, Miner übte schon Tonleitern auf seiner hölzernen Klaviatur, und Thomas fluchte schon über die Verspätung des Frühstücks.
»Was meinen Sie, Peter?« fragte Mike.
Peter Marlowe schlug die Augen auf und sah ihn forschend an. »Na, Sie sehen anders aus, soviel kann ich sagen.«
Mike fuhr sich mit dem Handrücken über die glattrasierte Oberlippe. »Ich komme mir nackt vor.« Er betrachtete sich wieder im Spiegel. Dann zuckte er die Achseln. »Na, er ist weg, und damit basta.«
»He, das Essen ist fertig«, rief Spence laut.
»Was gibt's?«
»Porridge, Toast, Marmelade, Rühreier, Schinken, Tee.«
Einige beklagten sich über die kleinen Portionen, andere beklagten sich über deren Größe.
Peter Marlowe nahm nur Rühreier und Tee. Er rührte die Eier unter etwas Reis, den er vom Vortag aufgehoben hatte, und aß ihn mit großem Genuß.
Er sah auf, als Drinkwater geschäftig hereintänzelte.
»Ach, Drinkwater.« Er winkte ihn zu sich. »Haben Sie einen Augenblick Zeit?«
»Aber selbstverständlich.« Drinkwater war über Peter Marlowes unverhoffte Friedfertigkeit überrascht, hielt aber die blaßblauen Augen gesenkt, denn er fürchtete, sein verzehrender Haß auf Peter Marlowe könnte herausleuchten. Durchhalten, Theo, redete er sich zu. Du hast monatelang durchgehalten. Laß dich jetzt nicht gehen. Nur noch wenige Stunden, dann kannst du ihn und all die anderen schrecklichen Männer vergessen, Lyles und Blodger hatten nicht das Recht, dich in Versuchung zu führen. Nicht das geringste Recht. Na, sie haben bekommen, was sie verdient haben.
»Erinnern Sie sich an den Kaninchenschlegel, den Sie gestohlen haben?«
Drinkwaters Augen schossen Blitze. »Was – was reden Sie denn daher?«
Auf der anderen Seite des Ganges hörte Phil mit dem Kratzen auf und sah hoch.
»Machen Sie keine Mätzchen, Drinkwater«, sagte Peter Marlowe. »Mir liegt jetzt nichts mehr daran. Zum Teufel, warum auch? Der Krieg ist vorbei, und wir haben ihn überstanden. Aber Sie erinnern sich doch an den Kaninchenschlegel?«
Drinkwater war zu klug, um sich so einfach fangen zu lassen. »Nein«, erwiderte er mürrisch, »nein, ich erinnere mich nicht.« Aber es fiel ihm schwer, nicht zu sagen: Köstlich, köstlich!
»Es war kein Kaninchen, wollte ich Ihnen sagen.«
»Ach, tut mir leid, Marlowe. Ich bin es nicht gewesen und weiß bis zum heutigen Tag nicht, wer es genommen hat, was es auch gewesen sein mag.«
»Ich will Ihnen sagen, was es gewesen ist«, sagte Peter Marlowe und genoß diesen Augenblick in vollen Zügen. »Es ist Rattenfleisch gewesen. Rattenfleisch.«
Drinkwater lachte. »Sie sind sehr witzig«, sagte er sarkastisch.
»Es ist wirklich Rattenfleisch gewesen. Ganz bestimmt. Ich hatte eine Ratte gefangen. Sie war groß und haarig und überall von Räude bedeckt. Und ich glaube, sie hatte die Pest.«
Drinkwaters Doppelkinn wackelte. Seine Wangen zitterten.
Phil blinzelte Peter Marlowe zu und nickte höhnisch: »Das stimmt, Reverend. Sie war ganz von Räude bedeckt. Ich habe Peter Marlowe den Schlegel abhäuten sehen …«
Dann erbrach Drinkwater sich und besudelte seine ganze schicke Uniform, und er lief hinaus und erbrach sich noch einmal. Peter Marlowe begann zu lachen, und bald brüllte die ganze Baracke vor Gelächter.
»Mein Gott«, ächzte Phil schwach. »Mein Kompliment, Peter. Was für ein brillanter Gedanke. Vorzugeben, es wäre eine Ratte gewesen. Oh, mein Gott! Damit hat der Scheißkerl alles heimgezahlt bekommen!«
»Aber es ist wirklich eine Ratte gewesen«, versicherte Peter Marlowe. »Ich habe den Schlegel so hingelegt, daß er ihn stehlen konnte.«
»Aber ja, natürlich«, meinte Phil sarkastisch und griff mechanisch zur Fliegenklatsche. »Versuchen Sie doch nicht, eine solch herrliche Geschichte noch zu überbieten. Herrlich!«
Peter Marlowe wußte, sie würden ihm nicht glauben. Deshalb sagte er nichts mehr. Niemand würde ihm glauben, außer wenn er ihnen die Farm zeigte … Mein Gott! Die Farm! Und der Magen drehte sich ihm um.
Er zog die neue Uniform an. Auf den Epauletten waren seine Rangabzeichen – Leutnant beim fliegenden Personal. Auf der linken Brusthälfte waren die Schwingen aufgenäht. Er sah sich nach seinem Besitz um – Bett, Moskitonetz, Matratze, Decke, Sarong, Lumpenhemd, zerlumpte kurze Hosen, zwei Paar Holzpantinen, Messer, Löffel und drei Aluminiumteller. Er fegte alles von seinem Bett herunter, trug es ins Freie hinaus und legte Feuer daran.
»He, Sie … Oh, Entschuldigung, Sir«, sagte der Unteroffizier. »Feuer ist gefährlich.« Der Unteroffizier war ein Außenseiter, aber Peter Marlowe fürchtete sich nicht mehr vor Außenseitern. Jetzt nicht mehr.
»Verschwinden Sie«, fuhr Peter Marlowe ihn an.
»Aber, Sir …«
»Ich habe gesagt, Sie sollen verschwinden, gottverdammt!«
»Jawohl, Sir.« Der Unteroffizier grüßte, und Peter Marlowe fühlte sich richtig wohl, daß er sich vor Außenseitern nicht mehr fürchtete. Er erwiderte den Gruß und wünschte dann, er hätte es nicht getan, denn er hatte seine Mütze nicht auf. Deshalb versuchte er seinen Fehler mit: »Oh, verdammt, wo ist meine Mütze?« zu verbergen und ging in die Baracke zurück, denn er fühlte seine Furcht vor Außenseitern zurückkehren. Aber er unterdrückte sie und schwor sich: Bei Gott, meinem Herrn, ich werde mich nie wieder fürchten. Nie.
Er fand seine Mütze und die versteckte Sardinenbüchse. Er steckte die Büchse in die Tasche, stieg die Barackentreppe hinab und ging die Straße am Stacheldrahtzaun entlang hinauf. Das Lager war jetzt beinahe verlassen. Die letzten englischen Truppen gingen heute weg, mit demselben Konvoi wie er. Sie gingen fort. Lange nachdem die Aussies weggegangen waren und eine Ewigkeit nach den Yankees. Aber damit hatte man ja rechnen müssen. Wir sind langsam, aber sehr genau.
Er blieb vor der amerikanischen Baracke stehen. Die Segeltuchklappe des Vordachs wellte sich kläglich im Wind der Vergangenheit. Dann betrat Peter Marlowe zum letztenmal die Baracke. Die Baracke war nicht leer. Grey stand geschniegelt und in Uniform darin.
»Sind Sie gekommen, um sich ein letztes Mal den Ort Ihrer Triumphe anzusehen?« fragte er giftig.
»So könnte man es auch nennen.« Peter Marlowe drehte sich eine Zigarette und fegte die Tabakreste zusammen. »Und jetzt ist der Krieg vorbei. Jetzt sind wir gleichgestellt, Sie und ich.«
»Sie haben recht.« Greys Gesicht war langgestreckt, und die Augen wirkten schlangenähnlich. »Ich hasse Sie wie die Pest.«
»Erinnern Sie sich an Dino?«
»Was ist mit ihm?«
»Er war Ihr Spitzel, nicht wahr?«
»Es schadet vermutlich nichts, wenn ich es jetzt zugebe.«
»Der King wußte über Dino genau Bescheid.«
»Ich glaube Ihnen kein Wort.«
»Dino hat Ihnen auf Befehl Informationen gegeben. Auf des King Befehl.« Peter Marlowe lachte.
»Sie sind ein verdammter Lügner!«
»Warum sollte ich lügen?« Peter Marlowes Lachen brach plötzlich ab. »Die Zeit der Lügen ist vorüber. Gewesen. Aber Dino hat wirklich auf Befehl gehandelt. Erinnern Sie sich noch, wie Sie immer zu spät kamen? Immer!«
Oh, mein Gott, dachte Grey. Ja, ja, jetzt begreife ich alles.
Peter Marlowe zog an seiner Zigarette. »Der King hatte sich überlegt, daß Sie wohl versuchen würden, sich einen Spitzel zu verschaffen, falls Sie keine echten Informationen erhielten. Deshalb lieferte er Ihnen einen Spitzel.«
Grey fühlte sich plötzlich sehr müde. Sehr müde. Viele Dinge waren schwer zu begreifen. Viele Dinge, seltsame Dinge. Dann sah er Peter Marlowe und das aufreizende Lächeln, und sein ganzes aufgestautes Elend brach aus ihm heraus. Er jagte durch die Baracke, stieß das Bett des King um, verstreute seine Habseligkeiten und fauchte dann Peter Marlowe an. »Sehr klug. Aber ich habe gesehen, wie der King zurechtgestutzt wurde, und bei Ihnen werde ich es auch noch erleben. Und bei Ihrer ganzen stinkenden Klasse!«
»So?«
»Darauf können Sie Ihren verdammten Schädel wetten! Irgendwie werde ich Sie schon noch fertigmachen, und wenn ich den Rest meines Lebens dazu brauche. Am Ende werde ich Sie doch schlagen. Einmal geht Ihr Glück zu Ende.«
»Glück hat nichts damit zu tun.«
Grey zeigte mit dem Finger auf Peter Marlowes Gesicht. »Sie sind unter einem Glücksstern geboren. Mit Glück haben Sie Changi hinter sich gebracht. Sie haben sogar von Ihrer Seele das kostbare bißchen gerettet, das Sie überhaupt besessen haben!«
»Von was reden Sie eigentlich?« Peter Marlowe schob den Finger beiseite.
»Verkommenheit. Moralische Verkommenheit. Sie wurden eben noch rechtzeitig gerettet. Noch einige Monate unter dem üblen Einfluß des King, und Sie wären für immer verändert gewesen. Sie hatten schon begonnen, ein großer Lügner und Betrüger zu werden – wie er.«
»Er war nicht böse, und er hat auch niemanden betrogen. Er hat sich nur den Umständen angepaßt.«
»Die Welt wäre ein trauriger Ort, wenn jeder sich hinter dieser Ausrede verschanzen wollte. Es gibt nämlich … Es gibt so etwas wie Moral.«
Peter Marlowe warf seine Zigarette auf den Boden und zertrat sie zu Staub. »Erzählen Sie mir bloß nicht, Sie wären lieber mit Ihrer gottverdammten Tugend tot als mit dem Bewußtsein lebendig, daß Sie ein paar Zugeständnisse machen mußten.«
»Ein paar?« Grey lachte heiser. »Sie haben alles verkauft. Ehre – Anstand – Stolz – alles für ein Almosen von dem dreckigsten Schwein in diesem Stinkloch!«
»Und wenn Sie es sich richtig überlegen, dann war das Gefühl für Ehre beim King stark ausgeprägt. Aber in einem haben Sie recht. Er hat mich verändert. Er hat mir gezeigt, daß ein Mensch unabhängig von seiner Herkunft oder Vergangenheit ein Mensch ist. Entgegen allem, was man mich gelehrt hat. Deshalb war es unrecht von mir, Sie wegen etwas zu verhöhnen, womit Sie überhaupt nichts zu tun hatten, und das tut mir leid. Aber ich entschuldige mich nicht dafür, daß ich Sie als den Mann verachte, der Sie sind.«
»Zumindest habe ich meine Seele nicht verkauft!« Greys Uniform war vom Schweiß gestreift, und er starrte Peter Marlowe böse an. Aber innerlich war er vom Haß auf sich selbst erstickt. Wie war das mit Smedly-Taylor, fragte er sich. Es ist richtig, auch ich habe mich verkauft. Ich habe es getan. Aber ich weiß wenigstens, daß das, was ich getan habe, falsch war. Ich weiß es. Und ich weiß auch, warum ich es getan habe. Ich hatte mich meiner Herkunft geschämt und wollte zur Klasse der Edelleute gehören. Zu Ihrer verdammten Klasse, Marlowe. Beim Militär. Aber jetzt könnte mir nichts so schnuppe sein. »Ihr verdammten Hunde habt die ganze Welt beim Wickel«, sagte er laut, »aber nicht mehr lange, bei Gott, nicht mehr lange. Wir, die Menschen, wie ich einer bin, wir werden noch quitt. Wir haben in diesem Krieg nicht gekämpft, damit man uns jetzt anspuckt. Wir werden noch quitt.«
»Viel Glück dabei!«
Grey versuchte, ruhig zu atmen. Er öffnete mit Anstrengung die geballten Fäuste und wischte sich den Schweiß aus den Augen. »Aber Sie, gegen Sie zu kämpfen, lohnt sich nicht. Sie sind tot!«
»Fest steht, daß wir beide recht lebendig sind.«
Grey drehte sich um und ging zur Tür. Auf der obersten Stufe drehte er sich nochmals um. »Eigentlich müßte ich Ihnen und dem King dankbar sein«, sagte er heftig. »Der Haß auf Sie beide hat mich am Leben erhalten.« Dann ging er davon und blickte sich kein einziges Mal mehr um.
Peter Marlowe sah auf das Lager hinaus und dann in die Baracke zurück und auf den verstreuten Besitz des King. Er hob die Platte auf, auf der die Eier serviert worden waren, und bemerkte, daß sie bereits mit Staub bedeckt war.
Geistesabwesend richtete er den Tisch auf und stellte in Gedanken verloren die Platte darauf. In Gedanken an Grey und an den King und an Samson und an Sean und an Max und an Tex und daran, wo Macs Frau jetzt wohl war und ob N'ai nur ein Traum gewesen war, und an den General und an die Außenseiter und an zu Hause und an Changi.
Wie mag es sein, dachte er hilflos. Ob es wohl falsch ist, sich anzupassen? Falsch, zu überleben? Was hätte ich getan, wenn ich an Greys Stelle gewesen wäre? Was hätte Grey getan, wenn er an meiner Stelle gewesen wäre? Was ist gut, und was ist böse?
Und Peter Marlowe erkannte schmerzhaft, daß der einzige, der es ihm vielleicht hätte sagen können, im eiskalten Meer auf der Fahrt nach Murmansk gefallen war.
Seine Augen blickten auf die Dinge aus der Vergangenheit. Auf den Tisch, auf dem sein Arm geruht hatte, auf das Bett, auf dem er sich wieder erholt hatte. Auf die Bank, die der King und er geteilt hatten, auf die Sessel, in denen sie gelacht hatten – alles schon alt und halb vermodert.
In der Ecke lag ein Bündel japanischer Dollar. Er hob sie auf und starrte sie an. Dann ließ er sie fallen, einen Schein nach dem anderen. Als die Geldscheine auf dem Boden lagen, ließen sich Fliegen darauf nieder, schwärmten auf und ließen sich wieder in Scharen darauf nieder.
Peter Marlowe stand in der Tür. »Lebt wohl«, sagte er mit Entschlossenheit in der Stimme zu allem, was seinem Freund gehört hatte. »Lebt wohl, und danke.«
Er verließ die Baracke und ging die Gefängnismauer entlang, bis er die Lastwagenkolonne erreichte, die geduldig am Tor von Changi wartete.
Forsyth stand neben dem letzten Lastwagen, und er war über alle Maßen froh, daß sein Auftrag ausgeführt war. Er war erschöpft, und seine Augen trugen die Spur von Changi. Er gab den Befehl zur Abfahrt der Kolonne.
Der erste Lastwagen rollte an und dann der zweite und der dritte, und alle Lastwagen verließen Changi, und nur einmal sah Peter Marlowe zurück.
Als er weit weg war.
Als Changi unter der Glocke eines tropischen Himmels wie eine bläulichweiße Perle in smaragdgrüner Austernschale wirkte – als Changi auf einer leichten Anhöhe stand, und ringsum war ein Gürtel von Grün, und in der Ferne wich das Grün dem blaugrünen Meer, und dann wich das Meer der Unendlichkeit des Horizonts. Und dann sah auch er nicht mehr zurück.
In dieser Nacht war Changi von Menschen verlassen. Aber die Insekten blieben zurück.
Und die Ratten.
Sie waren noch immer da. Unter der Baracke. Viele waren gestorben, denn sie waren von denen, die sie gefangen hatten, vergessen worden. Aber die Stärksten waren immer noch am Leben.
Adam zerrte am Draht, um an das Futter außerhalb seines Käfigs heranzukommen, kämpfte gegen den Draht, wie er schon immer dagegen gekämpft hatte, solange er im Käfig saß. Und seine Geduld wurde belohnt. Eine Seite des Käfigs riß auf, und er fiel auf das Futter und verschlang es. Und dann ruhte er sich aus und zerrte mit neuer Kraft an einem anderen Käfig, und im Laufe der Zeit verschlang er das Fleisch darin.
Eva gesellte sich zu ihm, und er tat sich an ihr gütlich und sie sich an ihm, und dann gingen sie einträchtig auf Futterjagd. Später brach eine ganze Grabenseite ein, und viele Käfige sprangen auf, und die Lebenden ernährten sich von den Toten, und die Lebensschwachen wurden zum Futter für die Lebensstarken, bis die Überlebenden gleich stark waren. Und dann kämpften sie untereinander und gingen auf Futterjagd.
Und Adam herrschte, denn er war der König. Bis zu dem Tag, an dem sein Wille, König zu sein, ihn verließ. Dann starb er. Futter für einen Stärkeren. Und immer der Stärkste war König, nicht allein durch Stärke, sondern König kraft der Vereinigung von Schläue und Stärke und Glück. Unter den Ratten.