9

Sechs Tage später trieb Max eine Ratte in die Ecke. In der amerikanischen Baracke.

»Schaut euch dieses Miststück an«, schnaufte der King. »Das ist die größte Ratte, die ich je gesehen habe!«

»Mein Gott«, sagte Peter Marlowe. »Passen Sie auf, daß das Biest Ihnen nicht den Arm abbeißt!«

Alle standen um die Ratte herum. Max schwang triumphierend einen Bambusbesen. Tex hatte einen Baseballschläger, Peter Marlowe einen anderen Besen. Die übrigen schwangen Stöcke und Messer.

Nur der King war unbewaffnet, aber seine Augen ruhten auf der Ratte, und er war bereit, ihr aus dem Weg zu springen. Er hatte in seiner Ecke gesessen und mit Peter Marlowe geplaudert, als Max das erste Mal geschrien hatte, und er war zusammen mit den übrigen aufgesprungen. Es war kurz nach dem Frühstück gewesen. »Paßt auf!« schrie er, als er den plötzlichen Ausbruchsversuch der Ratte in die Freiheit vorausahnte. Max schlug wild auf sie ein und traf daneben. Ein anderer Besen versetzte ihr einen harten Schlag und warf sie einen Augenblick auf den Rücken. Aber die Ratte schnellte sich wieder herum auf die Füße, lief in die Ecke zurück, drehte sich um, pfiff schrill, spuckte und zog die Lefzen hoch, so daß die nadelspitzen Zähne bloßlagen.

»Menschenskind«, stöhnte der King. »Diesmal hatte ich bestimmt geglaubt, das Vieh wäre uns durch die Lappen gegangen.«

Die Ratte war gut dreißig haarige Zentimeter lang. Der Schwanz maß gut und gerne noch einmal dreißig Zentimeter; er war haarlos und am Ansatz so dick wie der Daumen eines Mannes. Kleine Kugelaugen schossen auf der Suche nach einem Fluchtweg nach links und rechts. Braun und schmutzig und gemein. Der Kopf lief in eine spitze Schnauze aus, das Maul war schmal und groß – sehr groß, und darin standen scharf wie Dolche die Schneidezähne. Die Ratte wog sicher an die zwei Pfund. Sie war bösartig und sehr gefährlich.

Max keuchte heftig vor Anstrengung, und seine Augen waren auf die Ratte geheftet.

»Himmeldonnerwetter«, stieß er hervor, »ich hasse Ratten. Ich hasse es sogar schon, sie nur anzusehen. Schlagen wir sie doch tot. Seid ihr bereit?«

»Warte einen Augenblick, Max«, wehrte der King ab. »So sehr eilt es doch gar nicht. Sie kann uns jetzt ja nicht mehr entkommen. Ich möchte gerne sehen, was sie tut.«

»Sie wird wieder auszureißen versuchen, weiter nichts«, erwiderte Max.

»Dann werden wir sie eben daran hindern. Warum so eilig?« Der King sah wieder auf die Ratte und grinste. »Du bist geliefert, du verfluchtes Miststück. Du bist tot.«

Es war beinahe, als verstände die Ratte ihn, denn sie machte einen Satz auf den King zu und fletschte die Zähne. Nur der wilde Wirbel von Schlägen und die Schreie trieben sie wieder in die Ecke zurück.

»Dieses Aas würde einen glatt in Stücke reißen, wenn es die Zähne in einen vergraben könnte«, schnaufte der King. »Ich habe nicht gewußt, daß diese Viecher so schnell sein können.«

»He«, rief Tex. »Vielleicht sollten wir sie behalten.«

»Was soll der Quatsch?«

»Wir könnten sie doch behalten. Vielleicht als Maskottchen. Oder wir könnten sie aus ihrem Käfig herauslassen und sie jagen, wenn wir gerade nichts anderes zu tun haben.«

»Mensch, Tex«, meinte Dino. »Vielleicht ist das gar nicht so schlecht. Du meinst doch, wir könnten es mit ihr so machen, wie man es früher gemacht hat. Mit Füchsen?«

»Das ist doch Blödsinn«, erklärte der King. »Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn wir das Mistvieh totschlagen. Aber es ist absolut nicht nötig, daß wir es quälen, auch nicht, wenn es eine Ratte ist. Schließlich hat sie keinem von euch etwas getan.«

»Das mag sein. Aber Ratten sind nun mal Ungeziefer. Sie haben kein Recht, zu leben.«

»Natürlich haben sie das«, widersprach der King. »Sie sind Aasvertilger, wie die Mikroben. Wenn die Ratten nicht wären, dann wäre die ganze Welt ein einziger stinkender Misthaufen.«

»Verdammt«, knurrte Tex. »Ratten ruinieren die Ernte. Vielleicht ist dies genau das Saubiest, das den Reissack von unten angefressen hat. Sein Wanst ist groß genug.«

»Ja«, fauchte Max bösartig. »Das Mistvieh hat in einer Nacht beinahe dreißig Pfund davongeschleppt.«

Wieder stieß die Ratte wie ein Dolch nach der Freiheit vor. Sie durchbrach den Kreis der Männer und floh die Baracke entlang. Nur purem Glück war es zu verdanken, daß sie sie wieder einkreisen und in die Ecke treiben konnten. Wieder standen die Männer um sie herum.

»Wir schlagen sie besser tot. Das nächste Mal haben wir vielleicht nicht mehr so viel Glück«, keuchte der King. Dann hatte er plötzlich eine Eingebung: »Einen Augenblick«, sagte er, als sie alle immer weiter auf die Ecke vorzugehen begannen.

»Was denn nun?«

»Ich habe einen Einfall.« Er schnellte zu Tex herum. »Hol eine Decke. Schnell.«

Tex sprang zu seinem Bett und riß die Decke herunter.

»Und jetzt«, sagte der King, »nimmst du zusammen mit Max die Decke und fängst die Ratte.«

»Hä?«

»Ich möchte sie lebendig haben. Mach schon, setz dich in Bewegung«, fuhr der King ihn an.

»Mit meiner Decke? Bist du verrückt? Es ist meine einzige!«

»Ich werde dir eine neue beschaffen. Fang nur erst das Mistvieh.«

Alle glotzten den King dumm an. Dann zuckte Tex die Achseln. Er und Max packten die Decke. Sie benutzten sie als Netz und begannen auf die Ecke vorzurücken. Die übrigen hielten ihre Besen bereit, um zu verhindern, daß die Ratte an den Deckenrändern vorbeifegte und entkam. Dann stürzten Tex und Max sich mit einem schnellen Satz vor, und die Ratte war in den Falten der Decke gefangen. Ihre Zähne und Krallen rissen daran und suchten nach einem Fluchtweg, aber in dem Aufruhr rollte Max die Decke zusammen, und sie wurde zu einem zuckenden Ball. Die Männer waren aufgeregt und schrien laut durcheinander.

»Gebt schon Ruhe«, befahl der King. »Max, du hältst sie fest. Und sorg dafür, daß sie nicht entwischen kann. Tex, stell du inzwischen den Java auf. Wir werden alle Kaffee trinken.«

»Was hat es mit Ihrem Einfall auf sich?« wollte Peter Marlowe wissen.

»Er ist viel zu gut, um ihn einfach zu verraten. Zuerst trinken wir mal Kaffee.«

Während sie tranken, stand der King auf. »Also, Leute. Hört jetzt gut zu. Wir haben eine Ratte, stimmt's?«

»Na und?« Miller war verblüfft wie sie alle.

»Wir haben nichts zu essen, stimmt's?«

»Natürlich, aber –«

»Oh, mein Gott«, stöhnte Peter Marlowe entsetzt. »Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß Sie uns vorschlagen, wir sollten sie essen?«

»Natürlich nicht«, entgegnete der King. Dann strahlte er wie ein Seraphim. »Wir werden es nicht tun. Aber es gibt Leute, die gerne etwas Fleisch kaufen würden …«

»Rattenfleisch?« Das Auge von Byron Jones III trat majestätisch hervor.

»Du hast den Verstand verloren. Glaubst du etwa, es würde jemand Rattenfleisch kaufen? Kein Mensch kauft das«, trompetete Miller ungeduldig.

»Natürlich kauft niemand das Fleisch, wenn er weiß, daß es Rattenfleisch ist. Aber wenn es niemand weiß, hä?« Der King ließ die anderen diese Worte erst verdauen, ehe er sanft fortfuhr: »Sagen wir mal, wir erzählen niemandem etwas davon. Das Fleisch wird aussehen wie anderes auch. Wir können ja sagen, es sei Kaninchen …«

»Es gibt in Malaya keine Kaninchen, alter Freund«, gab Peter Marlowe zu bedenken.

»Nun, dann denken wir uns eben ein Tier aus, das es hier gibt und das ungefähr genauso groß ist.«

»Ich nehme an«, sagte Peter Marlowe, nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte, »daß man es unter Eichhörnchen laufen lassen könnte – oder, jetzt hab ich's«, strahlte er plötzlich, »Reh. Das ist es, Reh …«

»Um Gottes willen, ein Reh ist doch viel größer«, widersprach Max, der noch immer die zuckende Decke hielt. »Ich habe oben in den Alleghanies eines geschossen …«

»Ich meine ja nicht diese Sorte Rehe. Ich meine vielmehr die Rusa Tikus. Sie sind winzig klein, etwa zwanzig Zentimeter hoch, und wiegen vielleicht einige Pfund. Sie haben ungefähr die Größe der Ratte. Die Eingeborenen betrachten sie als Delikatesse.« Er lachte. »Rusa Tiku bedeutet übersetzt ›Mauswild‹.«

Der King rieb sich entzückt die Hände. »Sehr gut, mein Lieber!« Er blickte sich in der Baracke um. »Wir werden Rusa-Tiku-Keule verkaufen, das ist nicht einmal gelogen.«

Alle lachten.

»Jetzt haben wir etwas zu lachen gehabt, schlagen wir jetzt endlich die gottverdammte Ratte tot und verkaufen die verfluchten Keulen«, verlangte Max. »Das Biest wird sich jeden Augenblick aus der Decke befreien. Und ich will verdammt sein, wenn ich mich von ihm beißen lasse.«

»Wir haben eine Ratte«, verkündete der King, ohne auf ihn zu achten. »Jetzt brauchen wir nur noch festzustellen, ob es ein Männchen oder ein Weibchen ist. Dann schaffen wir das entgegengesetzte Stück herbei. Wir bringen die beiden zusammen. Und presto sind wir im Geschäft.«

»Im Geschäft?« echote Max.

»Natürlich.« Der King blickte sich glücklich um. »Leute, wir machen jetzt in Viehzucht. Wir bauen uns eine Rattenfarm auf. Mit dem Zaster, den wir damit verdienen, kaufen wir Hühner – und die Bauern können die Tikus essen. Solange niemand sein verdammtes Maul aufreißt, ist es eine glatte Sache.«

Schweigen und Entsetzen griffen um sich. Dann sagte Tex schwach: »Aber wo sollen wir die Ratten denn unterbringen, während sie sich vermehren?«

»Im Splittergraben. Wo denn sonst?«

»Aber nur mal angenommen, es fände ein Luftangriff statt. Es könnte ja sein, daß wir den Graben benutzen möchten.«

»Wir trennen ein Ende einfach durch einen Zaun ab. Nur gerade so viel, daß die Ratten darin Platz haben.« Des King Augen funkelten. »Denkt doch nur. Fünfzig dieser großen Schweinebiester können wir in der Woche verkaufen. Es ist nicht zu fassen, wir haben eine Goldmine. Ihr kennt doch die Redensart ›sich wie die Ratten vermehren‹ …«

»Wie oft vermehren sie sich denn?« wollte Miller wissen, der sich gedankenabwesend die Schwarte kratzte.

»Ich habe keine Ahnung. Weiß das jemand?« Der King wartete, aber alle schüttelten den Kopf. »Zum Teufel, wo können wir etwas über ihre Lebensgewohnheiten erfahren?«

»Ich weiß«, meldete sich Peter Marlowe. »In Vexleys Unterrichtsstunde.«

»Hä?«

»In Vexleys Unterrichtsstunde. Er lehrt Botanik, Zoologie und solches Zeug. Wir könnten ihn ja mal fragen.«

Sie blickten einander nachdenklich an. Dann begannen sie plötzlich laute Hochrufe auszustoßen. Max ließ beinahe die zappelnde Decke fallen, und wildes Geschrei schlug ihm um die Ohren. »Paß auf das Gold auf, du Tölpel.«, »Laß um Himmels willen das Biest nicht los«, oder: »Gib doch acht, Max!«

»Schon gut, ich hab das Vieh ja fest«, rief Max über die schrillen Mißfallensrufe hinweg und nickte dann Peter Marlowe zu. »Für einen Offizier sind Sie ein recht passabler Bursche. Wir werden also zur Schule gehen.«

»O nein, das werdet ihr nicht«, erklärte der King entschieden. »Ihr habt viel zu erledigen.«

»Was denn?«

»Ihr müßt zum Beispiel eine zweite Ratte beschaffen. Und diese zweite Ratte muß vom entgegengesetzten Geschlecht sein. Peter und ich werden die Informationen beschaffen. Und jetzt ran!«

Tex und Byron Jones III bereiteten den Splittergraben vor. Er lag direkt unter der Baracke, war zwei Meter tief, einen Meter zwanzig breit und zwanzig Meter lang.

»Phantastisch«, stieß Tex hervor. »Hier haben wir Platz für Tausende von diesen Biestern!«

Sie brauchten einige Minuten, bis sie einen Plan für die Abzäunung ausgeklügelt hatten. Tex ging weg, um Hühnerdraht zu klauen, während Byron Jones III sich auf den Weg machte, Holz zu organisieren. Jones grinste, als er an einige schöne Stücke dachte; sie gehörten einer Bande von Limeys, die sie nicht allzu sorgfältig unter Bewachung hielt, und bis Tex zurückkehrte, hatte er das Gerüst schon fertig. Die Nägel stammten vom Barackendach, der Hammer war vor Monaten zusammen mit Schraubenschlüsseln, Schraubenziehern und einer Menge anderer nützlicher Dinge bei einem ebenfalls sorglosen Mechaniker oben in der Garage ›geborgt‹ worden. Sobald das Gatter fertig war und ordentlich dastand, holte Tex den King.

»Gut«, lobte der King nach eingehender Prüfung, »sehr gut.«

»Verdammt, ich möchte bloß wissen, wie ihr das so schnell hinkriegt«, staunte Peter Marlowe.

»Wenn etwas getan werden muß, dann tut man es eben. Das ist amerikanischer Stil.« Der King nickte Tex zu, Max herbeizuholen.

Max kroch unter die Baracke und trat zu ihnen. Behutsam ließ er die Ratte in ihr Abteil fallen. Die Ratte wirbelte wild herum und suchte nach einem Fluchtweg. Als sie keinen entdeckte, wich sie in eine Ecke zurück und zischte sie heftig an.

»Sie sieht wirklich gesund aus«, grinste der King.

»Wir müssen ihr noch einen Namen geben«, meinte Tex.

»Das ist leicht. Sie ist einfach Adam.«

»Ja, aber angenommen, sie ist ein Weibchen.«

»Dann heißt sie eben Eva.« Der King kroch unter der Baracke hervor. »Kommen Sie Peter, machen wir uns an die Arbeit.«

Staffelführer Vexleys Unterrichtsstunde hatte bereits begonnen, als sie ihn nach langer Zeit endlich entdeckten.

»Ja?« fragte Vexley erstaunt, als er den King und einen jungen Offizier neben der Baracke in der Sonne stehen und ihn beobachten sah.

»Wir dachten«, begann Peter Marlowe befangen, »wir dachten, wir könnten, hm, am Unterricht teilnehmen. Natürlich nur, wenn wir nicht stören«, setzte er schnell hinzu.

»Am Unterricht teilnehmen?« Vexley war bestürzt. Er war ein farbloser, einäugiger Mann mit einem Gesicht wie von glattgespanntem Pergament, das von den Flammen seines allerletzten Bombers Flecken und Narben hatte. Seine Klasse bestand nur aus vier Schülern, und diese waren Idioten, die kein Interesse am Unterrichtsstoff hatten. Er wußte, daß er den Unterricht nur zur Beschwichtigung seiner eigenen Unentschlossenheit weiterführte; es war leichter, so zu tun, als wäre der Unterricht ein Erfolg, als ihn einzustellen. Am Anfang war er hell begeistert gewesen, aber inzwischen wußte er, daß die Arbeit ihm nur als Vorwand diente. Und wenn er die Klasse aufgäbe, würde es für ihn in diesem Leben kein Ziel mehr geben.

Vor langer Zeit hatte das Lager eine Universität ins Leben gerufen. Die Universität von Changi. Klassen wurden eingerichtet. Die hohen Tiere hatten es so angeordnet. »Das tut der Truppe gut«, hatten sie erklärt. »Die Leute bekommen etwas zu tun. Laßt sie sich selbst bessern. Zwingt sie, beschäftigt zu sein, dann werden sie auch nicht in Schwierigkeiten geraten.«

Es gab Kurse in Sprachen und Kunst und Ingenieurwesen – unter den damals hunderttausend Männern gab es mindestens jeweils einen, der irgendein Fach beherrschte.

Das Wissen über diese Welt. Eine großartige und günstige Gelegenheit. Seinen Horizont erweitern. Einen Beruf erlernen. Sich auf das Utopia vorbereiten, das kommen würde, wenn der verfluchte Krieg erst einmal zu Ende und alles wieder normal war. Und es war eine Universität wie im alten Athen. Es gab keine Klassenräume. Nur einen Lehrer, der sich einen Platz im Schatten suchte und seine Studenten um sich scharte.

Aber die Gefangenen von Changi waren nur einfache Männer, deshalb blieben sie einfach faul auf ihrem Hintern hocken und erklärten: »Morgen werde ich in eine Klasse eintreten.« Oder sie traten in eine Klasse ein, und wenn sie dann entdeckten, daß Wissen mühsam zu erwerben ist, ließen sie eine Unterrichtsstunde aus, und noch eine Unterrichtsstunde, und dann versicherten sie: »Morgen werde ich wieder hingehen. Morgen werde ich mit dem anfangen, was ich hinterher sein möchte. Ich darf keine Zeit verlieren. Morgen werde ich wirklich beginnen.«

Aber in Changi gab es ebenso wie anderswo nur das Heute.

»Wollen Sie wirklich in meine Klasse eintreten?« wiederholte Vexley ungläubig.

»Sind Sie auch sicher, daß wir Ihnen keine Ungelegenheiten bereiten, Sir?« fragte der King herzlich.

Vexley erhob sich, seine Anteilnahme wuchs, und er machte für sie einen Platz im Schatten frei.

Er war entzückt, frisches Blut bei sich zu sehen. Und dazu noch den King! Mein Gott, was für ein Fang! Der King in seiner Klasse! Vielleicht hat er ein paar Zigaretten … »Ich freue mich, mein Junge, ich freue mich sehr.« Er drückte warm des King ausgestreckte Hand. »Staffelführer Vexley!«

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Sir.«

»Leutnant Marlowe, fliegendes Personal«, stellte Peter Marlowe sich vor, als auch er die Hand reichte, und setzte sich dann in den Schatten.

Vexley wartete nervös, bis sie saßen, preßte geistesabwesend den Daumen in den Handrücken und zählte die Sekunden, bis der Eindruck in der Haut sich langsam wieder füllte. Für die Pellagra wurde man hie und da entschädigt, dachte er. Und da er gerade an Haut und Knochen dachte, fielen ihm die Wale ein, und sein Glotzauge leuchtete auf. »Also, heute wollte ich etwas über Wale erzählen. Wissen Sie etwas über Wale? – Ah«, machte er verzückt, als der King eine Packung Kooa herauszog und ihm anbot. Der King reichte die Packung bei den anderen herum.

Die vier Studenten nahmen sich jeder eine Zigarette und rückten beiseite, um dem King und Peter Marlowe mehr Platz zu machen. Sie fragten sich, was der King, zum Teufel, hier suchen mochte, aber es war ihnen eigentlich gleichgültig – er hatte ihnen ja eine aktive Zigarette gegeben.

Vexley setzte seine Vorlesung über Wale fort. Er liebte Wale. Er liebte sie bis zur Raserei.

»Wale sind ohne Zweifel die höchste Form, die die Natur angestrebt hat«, verkündete er und war hoch erfreut über den Klang seiner Stimme. Er bemerkte des King Stirnrunzeln. »Hatten Sie eine Frage?« erkundigte er sich eifrig.

»Doch, ja. Wale sind ja ganz interessant, aber wie steht es mit Ratten?«

»Wie bitte?« fragte Vexley höflich und verständnislos.

»Sehr interessant, was Sie da über Wale gesagt haben, Sir«, versicherte der King. »Ich habe mir nur gerade über Ratten Gedanken gemacht. Das ist alles.«

»Was ist denn mit Ratten?«

»Ich habe mir gerade Gedanken gemacht, ob Sie wohl etwas darüber wüßten«, antwortete der King. Er hatte eine Menge zu tun und wollte seine Zeit nicht verplempern.

»Er meint«, erklärte Peter Marlowe rasch, »daß Ihren Erläuterungen zufolge Wale in ihren Reflexen beinahe menschlich sind, und möchte nun wissen, ob das auch auf Ratten zutrifft?«

Vexley schüttelte den Kopf und rief angewidert: »Nagetiere sind völlig anders geartet. Aber die Wale …«

»Inwiefern sind sie anders?« bohrte der King.

»Die Nagetiere behandle ich im Frühjahrskursus«, erklärte Vexley gereizt. »Ekelhafte Viecher. Sie haben aber auch rein gar nichts an sich, was liebenswert wäre. Absolut nichts. Nehmen Sie dagegen einmal den Nordischen Finnwal«, stürzte Vexley sich hastig wieder in sein Thema, »da haben Sie den Riesen unter den Walen. Er wird über fünfunddreißig Meter lang und kann bis zu einhundertfünfzig Tonnen wiegen. Er ist das größte lebendige Geschöpf, das je auf der Erde gelebt hat. Außerdem ist er auch das stärkste Tier, das existiert. Und seine Paarung …«, setzte Vexley schnell hinzu, denn er wußte sehr wohl, daß Erörterungen über das Geschlechtsleben die Klasse immer wachhielten, »… seine Paarung ist einfach wunderbar. Das männliche Tier beginnt mit der Befriedigung seiner Lust, indem es gewaltige Wasserfontänen ausstößt. Der männliche Wal peitscht mit der Schwanzflosse das Wasser in der Nähe des weiblichen Wals, der mit gedämpfter Lust geduldig an der Meeresoberfläche wartet. Dann taucht er tief hinab und schießt wieder hinauf, weit aus dem Wasser heraus, riesig, gewaltig, ungeheuer, und schlägt krachend und mit donnernden Schwanzflossen zurück, hält sich an der Oberfläche und peitscht das Wasser zu Schaum.« Er senkte die Stimme und sprach eindringlich weiter: »Dann gleitet er an das weibliche Tier heran und beginnt es mit seinen Flossen zu kitzeln …«

Trotz seiner Begierde, etwas über Ratten zu erfahren, begann sogar der King aufmerksam zu lauschen.

»Dann bricht er seine Verführungsspiele ab, taucht wieder unter und läßt das weibliche Tier keuchend an der Oberfläche zurück, verläßt es vielleicht sogar für immer.« Vexley machte eine dramatische Pause. »Aber nein. Er verläßt das Weibchen nicht. Er verschwindet vielleicht auf eine Stunde in den Tiefen des Meeres, sammelt Kräfte, schießt dann erneut hinauf, bricht aus dem Wasser heraus und fällt wie mit einem Donnerschlag in einer ungeheuren Wolke von Wasserstaub wieder hinab. Er dreht sich zu seinem Weibchen herum, umklammert es fest mit beiden Flossen und zwingt ihm bis zur Erschöpfung seinen mächtigen Willen auf.«

Vexley war von der Großartigkeit des Schauspiels sich paarender Giganten ebenfalls erschöpft. Ach, wer das Glück hätte, Zeuge dieses Schauspiels zu sein, dabeizusein, ein kleines, unbedeutendes Menschenwesen … Hastig erzählte er weiter: »Die Paarung findet etwa im Juli statt, im warmen Wasser. Das Junge wiegt bei der Geburt fünf Tonnen und ist etwa zehn Meter lang.« Sein Lachen klang geübt. »Stellen Sie sich das vor!« Es gab höfliches Lächeln, und dann rückte Vexley mit dem Gag heraus, mit dem er stets herzhaftes Gelächter erzielte: »Wenn man sich das alles vorstellt und an die Größe des Walkalbes denkt, dann stellt man sich unwillkürlich auch den guten alten Zebedäus des Wals vor, was?«

Wieder gab es höfliches Lachen – die regelmäßigen Zuhörer hatten die Geschichte schon viele Male gehört.

Vexley fuhr mit der Beschreibung fort, wie das Kalb sieben Monate lang von der Mutter gesäugt wird, wie dem Kalb aus zwei ungeheuren Zitzen hinten am Bauch die Milch ins Maul spritzt. »Wie Sie sich ohne Zweifel vorstellen können«, erklärte er emphatisch, »bringt längeres Säugen unter Wasser Probleme mit sich.«

»Säugen die Ratten ihre Jungen?« warf der King schnell ein.

»Ja«, bestätigte der Staffelführer mit einem Seufzen. »Was nun den grauen Amber anlangt …«

Der King stöhnte geschlagen und hörte zu, wie Vexley sich des langen und breiten über den grauen Amber, über Zahnwale und Bartenwale und Weißwale und Pottwale, Grauwale und Zwergpottwale und Seiwale und Narwale und Schwertwale und Buckelwale und Braunwale und Grindwale und Schwarzwale und Schnabelwale und schließlich über Rundkopfwale ausließ. Inzwischen war die ganze Klasse weggegangen, außer Peter Marlowe und dem King. Als Vexley geendet hatte, sagte der King schlicht:

»Ich möchte etwas über Ratten wissen.«

Vexley stöhnte. »Über Ratten?«

»Nehmen Sie eine Zigarette«, sagte der King mild.