7

Tage folgten Tagen, Tage in einer Monotonie von Tagen.

Dann ging der King eines Nachts zum Lagerlazarett und suchte nach Masters. Schließlich entdeckte er ihn auf der Veranda einer der Baracken. Halb bewußtlos lag er auf einem übelriechenden Bett, und die Augen starrten an die Atapwand.

»Hallo, Masters«, grüßte der King, nachdem er sich vergewissert hatte, daß niemand lauschte. »Wie fühlen Sie sich?«

Masters riß den starren Blick hoch und erkannte ihn nicht. »Fühlen?«

»Klar.«

Eine Minute verging, dann murmelte Masters: »Ich weiß nicht.« Ein Speichelfaden lief ihm über das Kinn.

Der King nahm seine Tabaksdose heraus und füllte die leere Büchse, die auf dem Tisch neben dem Bett stand.

»Masters«, sagte der King. »Ich wollte Ihnen danken, daß Sie mir den Tip gegeben haben.«

»Tip!«

»Daß Sie mir gesagt haben, was Sie auf dem Stück Zeitungspapier gelesen haben. Ich wollte Ihnen nur dafür danken und Ihnen ein bißchen Tabak bringen.«

Masters strengte sich an und versuchte sich zu erinnern. »Es ist nicht recht … wenn ein Kumpel … einen anderen Kumpel verrät … Verfluchtes Gesindel!« Und dann starb er.

Dr. Kennedy kam herüber und zog sorgfältig das grobe Tuch über Masters Kopf. »Freund von Ihnen?« fragte er den King, und die müden Augen unter einem Dickicht buschiger Brauen blickten frostig.

»In gewisser Hinsicht ja, Herr Oberst.«

»Er hat Glück«, meinte der Arzt. »Ihn plagen jetzt keine Schmerzen mehr.«

»So kann man es auch sehen, Sir«, antwortete der King höflich. Er nahm den Tabak und legte ihn in seine eigene Dose zurück. Masters würde ihn ja jetzt nicht mehr brauchen. »An was ist er denn gestorben?«

»Fehlende Lebensgeister.« Der Arzt unterdrückte ein Gähnen. Seine Zähne waren fleckig und schmutzig, und sein Haar dünn und schmutzig, und seine Hände rosig und makellos.

»Sie meinen: Lebenswille?«

»So kann man es auch sehen.« Er sah düster zum King auf. »Etwas, woran Sie bestimmt nicht sterben werden, nicht wahr?«

»Verdammt, nein, Sir.«

»Was macht Sie eigentlich so … unüberwindlich?« fragte Dr. Kennedy und haßte diesen riesigen Körper vor sich, der Gesundheit und Kraft geradezu ausstrahlte.

»Ich kann Ihnen nicht folgen, Sir.«

»Warum geht es Ihnen gut und allen übrigen nicht?«

»Ich habe einfach Glück«, antwortete der King und wollte sich abwenden.

Aber der Arzt packte ihn am Hemd. »Es kann doch nicht einfach Glück sein. Das kann es nicht sein. Vielleicht sind Sie der Teufel, der ausgeschickt wurde, um uns weiter zu versuchen! Sie sind ein Vampir und ein Betrüger und ein Dieb …«

»Hören Sie. Ich habe in meinem Leben noch nie gestohlen oder betrogen und werde mir derartige Beschimpfungen von niemandem bieten lassen.«

»Dann sagen Sie mir doch einfach, wie Sie es machen! Wie? Mehr will ich ja gar nicht wissen. Begreifen Sie denn nicht? Sie sind für uns alle die Lösung. Sie sind entweder gut oder böse, und ich möchte wissen, was Sie nun eigentlich sind.«

»Sie sind verrückt«, fauchte der King und riß seinen Arm los.

»Sie können uns helfen …«

»Helfen Sie sich selbst. Ich kümmere mich um mich. Kümmern Sie sich um sich.« Der King bemerkte, wie Dr. Kennedys weißer Kittel lose an seiner ausgemergelten Brust herunterhing. »Hier«, sagte er und gab ihm den Rest einer Packung Kooa. »Rauchen Sie eine Zigarette. Das ist gut für die Nerven, Sir.« Er drehte sich auf dem Absatz um und ging straff hinaus und schüttelte sich. Er haßte Krankenhäuser. Er haßte den Gestank und die Krankheit und die Ohnmacht der Ärzte.

Der King verachtete Schwäche. Dieser Arzt, dachte er, ist bald soweit, sich die Kartoffeln von unten zu besehen. Reif für die Klapsmühle, der Idiot. Ein Verrückter wie er kann nicht lange am Leben bleiben. Wie Masters, der arme Kerl! Andererseits war Masters vielleicht gar kein armer Kerl – er war eben Masters, und er war schwach und deshalb einfach zu gar nichts zu gebrauchen. Die Welt ist ein Dschungel, und im Dschungel überlebt der Starke, und der Schwache stirbt. Letzten Endes hieß es immer, entweder man selbst oder der andere. Das ist auch völlig richtig so. Es gibt keinen anderen Weg.

Dr. Kennedy starrte auf die Zigaretten und gratulierte sich zu seinem Glück. Er zündete eine an. Sein ganzer Körper saugte das süßliche Nikotin gierig auf. Dann ging er in den Krankensaal, zu Johnny Carstairs, DSO, Hauptmann, I. Panzerregiment, der fast schon ein Leichnam war. »Hier«, sagte er und hielt ihm die Zigarette hin.

»Und was ist mit Ihnen, Dr. Kennedy?«

»Ich rauche nicht, habe nie geraucht.«

»Sie haben Glück.« Johnny hustete, als er einen Lungenzug nahm, und im Schleim zeigte sich ein wenig Blut. Unter der Anstrengung des Hustens zogen seine Eingeweide sich zusammen, und blutige Flüssigkeit schoß aus ihm heraus, denn seine Aftermuskeln hatten schon seit langem ihren Dienst quittiert. »Doktor«, sagte Johnny. »Ziehen Sie mir doch bitte meine Stiefel an. Ich muß aufstehen.«

Der alte Mann blickte sich überall suchend um. Man sah schlecht, denn das Nachtlicht im Krankensaal war abgeblendet und sorgfältig abgeschirmt.

»Es sind keine hier«, antwortete er und spähte kurzsichtig zu Johnny hinüber, als er sich auf den Bettrand setzte.

»Ach … Kann man nichts machen.«

»Was waren es denn für Stiefel?«

Tränen quollen aus Johnnys Augen. »Ich habe die Stiefel immer tadellos in Schuß gehalten. Die Stiefel haben mich ein Leben lang getragen. Waren das einzige, was mir noch geblieben war.«

»Möchten Sie noch eine Zigarette rauchen?«

»Danke, ich habe gerade zu Ende geraucht.« Johnny legte sich in seinen eigenen Schmutz zurück. »Schade um meine Stiefel«, klagte er.

Dr. Kennedy seufzte, zog seine schnürsenkellosen Stiefel aus und zog sie Johnny an. »Ich habe noch ein Paar«, log er, stand dann barfuß auf und fühlte einen stechenden Schmerz im Rücken.

Johnny bewegte die Zehen und genoß das Gefühl des rauhen Leders an den Füßen. Er versuchte sie anzusehen, aber die Anstrengung war zu groß.

»Ich sterbe«, sagte er.

»Ja«, sagte der Arzt. Es gab eine Zeit – gab es überhaupt je eine solche Zeit? –, in der er sich zu seinen besten Manieren am Krankenbett gezwungen hätte. Jetzt gab es keinen Anlaß dazu.

»Ziemlich witzlos, nicht wahr, Doktor? Zweiundzwanzig Jahre und nichts. Vom Nichts ins Nichts.«

Ein Lufthauch brachte das Versprechen auf das Morgengrauen mit sich in den Krankensaal.

»Danke, daß Sie mir Ihre Stiefel geliehen haben«, sagte Johnny. »Etwas, das ich mir immer versprochen habe. Ein Mann muß Stiefel haben.«

Er starb.

Dr. Kennedy nahm Johnny die Stiefel weg und zog sie wieder an die eigenen Füße. »Wärter«, rief er laut, als er einen auf der Veranda entdeckte.

»Jawohl, Sir?« antwortete Steven hell und ging mit einem Eimer Durchfall in der linken Hand zu ihm hinüber.

»Lassen Sie diesen Mann hier vom Leichenkommando abholen. Ach ja, und Unteroffizier Masters' Bett können Sie auch neu belegen.«

»Ich kann aber wirklich nicht alles schaffen, Herr Oberst«, erwiderte Steven und stellte den Eimer ab. »Ich muß drei Bettpfannen für die Betten 10, 23 und 47 holen, und der arme Oberst Hutton fühlt sich so schlecht, daß ich einfach seine Verbände wechseln muß.« Steven sah auf das Bett hinab und schüttelte den Kopf. »Nichts als Tote …«

»Das ist nun mal unsere Aufgabe, Steven. Das mindeste, was wir für sie tun können, ist, sie zu beerdigen. Und je schneller, desto besser.«

»Natürlich, Sir. Arme Jungens.« Steven seufzte und tupfte sich geziert mit einem sauberen Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Dann schob er das Taschentuch in die Brusttasche seines weißen Arztkittels zurück, hob den Eimer auf, taumelte ein wenig unter dessen Gewicht und ging zur Tür hinaus.

Dr. Kennedy verachtete ihn, verachtete sein öliges schwarzes Haar, seine ausrasierten Achselhöhlen und glattrasierten Beine. Gleichzeitig konnte er ihm aber keine Vorwürfe machen. Homosexualität war ebenfalls eine Möglichkeit, zu überleben. Die Männer schlugen sich um Steven, teilten ihre Rationen mit ihm, gaben ihm ihre Zigaretten, alles für die vorübergehende Benutzung seines Körpers. Und was, fragte der Arzt sich, was ist eigentlich so Ekliges daran? Wenn man an den normalen Geschlechtsverkehr denkt, nun, klinisch gesehen ist er ebenso ekelerregend.

Mit seiner lederartigen Hand kratzte er sich gedankenabwesend den Hodensack, denn das Jucken war heute nacht schlimm. Unwillkürlich faßte er sich an die Geschlechtsteile. Sie waren gefühllos. Knorpel.

Er erinnerte sich, daß er schon seit Monaten keine Erektion mehr gehabt hatte. Nun, dachte er, das liegt nur an der schlechten Ernährung. Kein Grund, sich Sorgen zu machen. Sobald wir hier herauskommen und normales Essen erhalten, wird es wieder klappen. Ein Mann mit dreiundvierzig ist schließlich immer noch ein Mann.

Steven kam mit dem Leichenkommando zurück. Die Leiche wurde auf eine Tragbahre gelegt und hinausgetragen. Steven wechselte die einzige Decke. Einen Augenblick später wurde eine zweite Tragbahre hereingetragen und der neue Patient vorsichtig aufs Bett gelegt.

Automatisch fühlte Dr. Kennedy den Puls des Mannes.

»Das Fieber wird morgen zurückgehen«, sagte er. »Nur Malaria.«

»Jawohl, Herr Doktor.« Steven blickte affektiert auf. »Soll ich ihm etwas Chinin geben?«

»Natürlich, geben Sie ihm Chinin.«

»Entschuldigung, Herr Oberst«, erwiderte Steven bissig und warf den Kopf in den Nacken. »Ich habe ja nur gefragt. Schließlich dürfen nur Ärzte Medikamente verordnen.«

»Also geben Sie ihm Chinin, Steven, und hören Sie um Gottes willen auf, sich wie ein albernes Weib zu benehmen.«

»Oh!« Stevens Armbänder klirrten, als er den Kopf zurückwarf und sich wieder zu dem Patienten umdrehte. »Es ist wirklich sehr ungerecht, so auf einem herumzuhacken, Dr. Kennedy, wo man nur versucht, sein Bestes zu tun.«

Dr. Kennedy hätte Steven richtig zur Schnecke gemacht, aber in diesem Augenblick betrat Dr. Prudhomme den Krankensaal.

»'n Abend, Oberst.«

»Oh, hallo.« Dr. Kennedy drehte sich dankbar zu ihm um und erkannte, daß es blanke Dummheit gewesen wäre, wenn er Steven zur Schnecke gemacht hätte. »Ist alles in Ordnung?«

»Ja. Kann ich Sie einen Augenblick sprechen?«

»Natürlich.«

Prudhomme war ein kleiner, heiterer Mann – mit eingefallener Hühnerbrust –, seine Hände waren von der langjährigen Berührung mit Chemikalien fleckig. Seine Stimme klang tief und sanft. »Für morgen stehen zwei Blinddärme an. Der eine ist gerade als dringender Fall eingeliefert worden.«

»In Ordnung. Ich seh mir die beiden an, bevor ich weggehe.«

»Wollen Sie operieren?« Prudhomme blickte zum anderen Ende des Krankensaales hinüber, wo Steven gerade einem Mann eine Schüssel vorhielt, in die er sich erbrechen konnte.

»Ja. Geben Sie mir was zu tun«, antwortete Kennedy. Er spähte in die dunkle Ecke hinüber. Im Zwielicht der abgeschirmten elektrischen Birne wirkten Stevens lange, schlanke Beine noch betonter. Ebenso die Kurven seiner Arschbacken, die prall die engen, kurzen Hosen ausfüllten.

Steven fühlte die forschenden Blicke und sah auf. Er lächelte. »Guten Abend, Dr. Prudhomme.«

»Hallo, Steven«, sagte Prudhomme freundlich.

Dr. Kennedy sah zu seiner Entrüstung, daß Prudhomme noch immer auf Steven blickte.

Prudhomme drehte sich wieder zu Kennedy um und bemerkte dessen Abscheu. »Oh, übrigens habe ich die Autopsie des Mannes beendet, der im Bohrloch gefunden wurde. Tod durch Ersticken«, sagte er freundlich.

»Wenn ein Mann mit dem Kopf nach unten auf halber Höhe in einem Bohrloch steckt, dann ist zu vermuten, daß der Tod durch Ersticken eingetreten ist.«

»Sie haben natürlich recht, Doktor«, antwortete Prudhomme leichthin. »Ich habe den Totenschein auf ›Selbstmord aus einer Störung des seelischen Gleichgewichts‹ ausgestellt.«

»Ist die Leiche identifiziert worden?«

»Oh, ja. Heute nachmittag. Es war ein Australier. Ein Mann namens Gurble.«

Dr. Kennedy fuhr sich über das Gesicht. »Es ist nicht gerade die Art, auf die ich Selbstmord begehen würde. Grausig.«

Prudhomme nickte, und seine Augen schweiften wieder zu Steven hinüber. »Darin stimme ich völlig mit Ihnen überein. Er könnte natürlich auch in das Bohrloch hinabgestoßen worden sein.«

»Haben Sie irgendwelche Spuren an der Leiche festgestellt, die darauf hindeuten?«

»Keine.«

Dr. Kennedy versuchte, nicht mehr die Art zu bemerken, in der Prudhomme Steven anstierte. »Nun, ob Mord oder Selbstmord, es ist eine schreckliche Todesart. Einfach schrecklich! Ich nehme an, wir werden wohl nie erfahren, was von beidem es nun tatsächlich gewesen ist.«

»Heute nachmittag wurde eine gerichtliche Untersuchung durchgeführt, sobald man wußte, wer der Tote war. Offenbar wurde dieser Mann vor einigen Tagen dabei erwischt, wie er einige Barackenrationen gestohlen hat.«

»Oh, ich verstehe.«

»Ob nun so oder so, ich würde sagen, er hatte es verdient, meinen Sie nicht auch?«

»Ich glaube schon.« Dr. Kennedy wollte die Unterhaltung fortsetzen, denn er fühlte sich einsam, aber er sah, daß Prudhomme nur an Steven interessiert war. »Nun«, sagte er, »ich mache besser meine Visiten. Möchten Sie mitkommen?«

»Danke, aber ich muß noch die Patienten für die Operation vorbereiten.«

Als Dr. Kennedy den Krankensaal verließ, bemerkte er aus dem Augenwinkel heraus, wie Steven sich eng an Prudhomme vorbeidrückte, und sah Prudhommes heimliche Liebkosung. Er hörte Stevens Lachen und sah ihn die Liebkosung ganz offen und intim erwidern.

Ihre Obszönität überwältigte ihn, und er wußte, daß er eigentlich hätte in den Krankensaal zurückkehren und ihnen befehlen sollen, auseinanderzugehen, und daß er sie hätte vors Kriegsgericht stellen sollen. Aber er war zu müde. Deshalb ging er einfach weiter zum anderen Ende der Veranda.

Die Luft war still, die Nacht dunkel und blätterlos, und der Mond hing wie eine riesige Bogenlampe vom Dachbalken des Himmels herab. Noch immer gingen Männer den Weg entlang, aber sie waren alle schweigsam. Alles wartete auf das Heraufziehen der Morgendämmerung.

Kennedy blickte zu den Sternen hinauf und versuchte aus ihnen eine Antwort auf seine fortwährende Frage zu lesen. Wann, mein Gott, wann wird dieser Alptraum enden?

Aber er bekam keine Antwort.

Peter Marlowe hockte auf der Offizierslatrine und genoß die Schönheit eines falschen Morgengrauens und das Hochgefühl einer friedlichen Darmtätigkeit. Die erstere erlebte er häufig, das zweite selten.

Er wählte immer die hintere Reihe, wenn er zu den Latrinen ging, teils, weil er es haßte, sich im Freien zu erleichtern, teils, weil er jeden hinter sich haßte, und teils, weil es unterhaltsam war, andere vor sich zu beobachten.

Die Löcher waren fünf Meter tief und maßen etwas mehr als einen halben Meter im Durchmesser; sie lagen in einem Abstand von zwei Metern voneinander entfernt. Zwanzig Reihen, die sich hangabwärts zogen, mit dreißig Löchern in einer Reihe. Jedes Loch hatte eine hölzerne Abdeckung und einen losen Deckel.

In der Mitte dieses Gebietes stand ein einsamer, aus Holz gefertigter Thron. Ein herkömmlicher Einloch-Abort. Er war allein den Obersten vorbehalten. Jeder andere hatte sich nach Eingeborenenart mit den Füßen zu beiden Seiten des Loches hinzuhocken. Es gab keine Trennwände irgendwelcher Art, und das ganze Gebiet lag zum Himmel und zum Lager offen da.

In einsamer Pracht saß Oberst Samson auf dem Thron. Er war nackt bis auf seinen zerknautschten Kulihut. Seinen Hut trug er immer. Das war ein Tick von ihm. Nur wenn er sich den Schädel kahl rasierte oder ihn massierte oder ihn mit Kokosöl oder irgendwelchen unheimlichen Salben einrieb, um wieder sein volles Haar zu bekommen, nahm er ihn ab. Er hatte irgendeine unbekannte Krankheit aufgelesen, und eines Tages waren ihm alle Haare ausgefallen – sogar die Augenbrauen und Wimpern. An allen anderen Stellen war er dafür behaart wie ein Affe.

Wie Punkte saßen andere Männer auf diesem Gelände verstreut, jeder möglichst weit vom nächsten entfernt. Jeder hatte eine Flasche Wasser bei sich. Jeder wehrte mit den Händen die ihn fortwährend umschwärmenden Fliegen ab.

Peter Marlowe sagte sich erneut, daß ein breitbeinig dahockender nackter Mann, der sich erleichterte, die häßlichste Kreatur ist – vielleicht aber auch die bemitleidenswerteste.

Bis jetzt war erst das Versprechen auf den Tag zu sehen, ein immer heller werdender Dunstschleier und goldene Finger, die sich auf dem samtenen Himmel vortasteten. Die Erde war kühl, denn in der Nacht war der Regen gekommen, und die Brise war kühl und lau und trug den Geruch von Meersalz und Frangipani mit sich.

Ja, dachte Peter Marlowe zufrieden. Es wird ein schöner Tag werden.

Als er fertig war, hielt er die Wasserflasche schräg, während er noch immer am Boden hockte, benutzte geschickt die Finger seiner linken Hand und wusch die Spuren von Kot ab. Immer mit der Linken. Die Rechte war die Eßhand. Die Eingeborenen besitzen kein Wort für linke Hand oder rechte Hand, sie kennen nur Kothand und Eßhand. Und alle Männer benutzten Wasser, denn Papier, gleichgültig welches Papier, war viel zu wertvoll. Außer für den King. Er besaß richtiges Toilettenpapier. Peter Marlowe hatte er ein Stück gegeben, und Peter Marlowe hatte es unter die Einheit verteilt, denn es eignete sich hervorragend als Zigarettenpapier.

Peter Marlowe stand auf, machte seinen Sarong wieder fest, ging zu seiner Baracke zurück und freute sich schon auf das Frühstück. Wie immer würde es Reisbrei und schwarzen Tee geben, aber heute hatte die Einheit auch eine Kokosnuß – wieder ein Geschenk vom King.

In den wenigen Tagen seiner Bekanntschaft mit dem King hatte sich eine ungewöhnliche Freundschaft zwischen ihnen angesponnen. Die Bande bestanden teils aus Lebensmitteln, teils aus Tabak und teils aus Hilfeleistung – der King hatte mit Salvarsan die Geschwüre an Macs Knöcheln geheilt, hatte sie in zwei Tagen geheilt, die Geschwüre, die zwei Jahre lang geeitert hatten. Peter Marlowe wußte auch, daß sie zwar alle drei den Reichtum und die Hilfe des King wohltuend empfanden, daß ihre Zuneigung zu ihm in der Hauptsache aber dem Manne selbst zuzuschreiben war. Wenn man bei ihm war, dann strömten Stärke und Zuversicht von ihm aus. Man fühlte sich selbst besser und stärker – denn es schien möglich, sich an dem Zauber zu stärken, der ihn umgab.

»Er ist ein Hexendoktor!« Unwillkürlich sagte Peter Marlowe es laut. Die meisten Offiziere in Baracke 16 schliefen noch oder lagen auf ihren Betten und warteten auf das Frühstück, als er eintrat. Er holte die Kokosnuß unter seinem Kissen hervor und nahm den Schaber und die Parang-Machete auf. Dann ging er ins Freie und setzte sich auf eine Bank. Mit einem geschickten Schlag mit dem Parang teilte er die Kokosnuß haargenau in der Mitte und goß die Milch in ein Eßgeschirr. Dann begann er sorgfältig die eine Hälfte der Kokosnuß auszuschaben. Streifen weißen Fleisches fielen in die Milch.

Die andere Kokosnußhälfte schabte er in einen besonderen Behälter. Das Fleisch legte er in ein Stück Moskitonetz und preßte vorsichtig den dicken und süßlichen Saft in eine Tasse. Heute war Mac an der Reihe und durfte den Saft seinem Frühstücksreisbrei zusetzen.

Peter Marlowe dachte wieder, was für eine wunderbare Nahrung doch der Rückstand einer Kokosnuß war. Reich an Protein und vollkommen geschmacklos. Dennoch reichte ein kleines Stückchen Knoblauch darin aus, ihn ganz nach Knoblauch schmecken und riechen zu lassen. Ein Viertel einer Sardine, und das Ganze wurde zu Sardine, und dies wiederum würde viele Schalen Reis würzen.

Plötzlich wurde er von Heißhunger nach der Kokosnuß gepackt. Er war so hungrig, daß er die Posten nicht näher kommen hörte. Er bemerkte ihre Gegenwart erst, als sie bereits unheilverkündend in der Barackentür standen und alle Gefangenen aufsprangen.

Yoshima, der japanische Offizier, zerbrach die Stille. »In dieser Baracke ist ein Rundfunkgerät.«