22

Zwei Tage lang kämpfte Peter Marlowe mit dem Tod. Aber er hatte den Willen zu leben. Und er lebte.

»Peter!« Mac rüttelte ihn sanft wach.

»Ja, Mac?«

»Es ist Zeit.«

Mac half Peter Marlowe aus dem Bett, und gemeinsam stiegen sie vorsichtig die Treppe hinab, wobei die Jugend sich auf das Alter stützte, und gingen dann in der Dunkelheit zum Bungalow.

Steven war schon da und erwartete sie. Peter Marlowe legte sich auf Larkins Bett und unterzog sich wieder der Injektion. Er mußte die Zähne fest zusammenbeißen, um nicht laut zu schreien; Steven war sanft, aber die Nadel war stumpf.

»Danke«, sagte Steven. »Jetzt wollen wir mal die Temperatur messen.« Er steckte Peter Marlowe das Thermometer in den Mund, wickelte dann die Binden auf und sah sich die Wunde an. Die Schwellung war zurückgegangen, die grüne und violette Färbung war verschwunden, und harter, sauberer Schorf bedeckte die Wunde. Steven streute Sulfonamidpuder auf die Wunde.

»Sehr gut.« Steven freute sich über den Erfolg der Behandlung. Über den heutigen Tag freute er sich indessen nicht. Dieser schmutzige Unteroffizier Flaherty, dachte er, ekelhafter Mann. Er weiß, daß ich es nicht gern tue, aber jedesmal wählt er mich dazu aus. »Scheiße«, sagte er laut.

»Was?« Mac, Larkin und Peter Marlowe waren besorgt.

»Ist was nicht in Ordnung?« fragte Peter Marlowe.

»Aber ja, mein Lieber. Ich habe von etwas anderem geredet. Jetzt sehen wir uns mal die Temperatur an.« Steven zog das Thermometer heraus und lächelte Peter Marlowe an, als er die Temperatur ablas. »Normal. Oder doch wenigstens nur einen Strich darüber, aber das spielt keine Rolle. Sie haben Schwein, ganz großes Schwein.« Er hielt das leere Antitoxinfläschchen hoch. »Ich habe Ihnen eben die letzte Spritze gegeben.«

Steven fühlte seinen Puls. »Sehr gut.« Er sah zu Mac auf. »Haben Sie ein Handtuch?«

Mac reichte es ihm, und Steven schüttete kaltes Wasser darauf und legte eine Kompresse auf Peter Marlowes Kopf. »Ich habe da was gefunden«, sagte er und gab ihm zwei Aspirintabletten. »Die werden Ihnen ein wenig helfen, mein Lieber. Ruhen Sie sich jetzt eine Weile aus.« Er drehte sich zu Mac um, stand auf, seufzte und strich den Sarong um seine Hüften glatt. »Ich kann jetzt nichts mehr helfen. Er ist sehr schwach. Sie werden ihm etwas Hühnerbrühe geben müssen. Und alle Eier, die Sie herbeischaffen können. Und achten Sie gut auf ihn.« Er drehte sich wieder um und sah auf Peter Marlowes abgemagerte Gestalt. »Er muß in den beiden letzten Tagen fünfzehn Pfund verloren haben, und das ist bei seinem Gewicht gefährlich, armer Junge. Er kann nicht mehr als hundertzehn Pfund wiegen, und das ist für seine Größe nicht allzuviel.«

»Hm, wir möchten Ihnen gern danken, Steven«, sagte Larkin brummig. »Wir alle, eh, schätzen Ihre Arbeit sehr. Wirklich.«

»Ich freue mich immer, wenn ich helfen kann«, strahlte Steven und drückte ein Löckchen zurecht, das ihm in die Stirn fiel.

Mac schaute zu Larkin hinüber. »Wenn wir etwas für Sie tun können, Steven, dann sagen Sie es ungeniert.«

»Das ist sehr nett von Ihnen. Sie sind beide so – nett«, sagte er geziert, strahlte den Oberst bewundernd an und erhöhte dadurch ihre Verlegenheit, während er gleichzeitig mit dem Sankt-Christophorus-Medaillon spielte, das er um den Hals trug. »Wenn Sie nur morgen an meiner Stelle beim Bohrlochkommando mitmachen könnten, dann würde ich alles für Sie tun, einfach alles. Ich kann die stinkigen Maden nicht ausstehen. Abscheulich«, sprudelte er heraus. »Würden Sie das tun?«

»Einverstanden, Steven«, antwortete Larkin mit saurer Miene.

»Dann also bis morgen früh«, grunzte Mac und trat ein wenig zurück, um Stevens versuchter Zärtlichkeit auszuweichen. Larkin war nicht schnell genug, und Steven legte dem Oberst die Hand auf die Taille und tätschelte sie zärtlich. »Nacht, ihr Lieben, ach, was seid ihr beide so nett zu Steven.«

Als er gegangen war, starrte Larkin Mac an. »Wenn Sie ein Wort sagen, reiße ich Ihnen die Ohren ab.«

Mac kicherte. »Sie, Alter, dasselbe rate ich Ihnen. Aber Sie haben wirklich den Eindruck gemacht, als hätten Sie es gern gehabt.« Er bückte sich zu Peter Marlowe hinab, der zugesehen hatte. »He, Peter?«

»Ich glaube, Sie sind beide dran für eine Nummer«, sagte Peter Marlowe und lächelte leise. »Er wird gut dafür bezahlt, aber Sie beide gehen hin, bieten ihm Ihre Dienste an und führen ihn in Versuchung. Aber was er an euch beiden alten Fürzen gefressen hat, das kapiere ich wirklich nicht.«

Mac grinste Larkin an. »Aha, dem lieben kleinen Bürschchen geht es etwas besser. Na, da kann er ja zur Abwechslung sein Gewicht mal selbst herumschleppen. Und sich nicht, wie sagt der King doch gleich – ach ja –, und sich nicht ›drücken‹.«

»Sind es eigentlich zwei oder drei Tage seit der ersten Injektion?« fragte Peter Marlowe.

»Zwei.«

Zwei Tage? Kommt mir eher wie zwei Jahre vor, dachte Peter Marlowe. Aber morgen werde ich stark genug sein, um das Geld zu holen.

Am gleichen Abend, kurz nach dem letzten Appell, kam Pater Donovan, um mit ihnen Bridge zu spielen. Als Peter Marlowe ihnen von dem Streit erzählte, den er mit ihnen in seinen Alpträumen gehabt hatte, lachten alle.

»Ja, mein Junge«, meinte Mac, »das Hirn kann einem komische Streiche spielen, wenn einen das Fieber gepackt hat.«

»Ja«, sagte Pater Donovan. Dann lächelte er Peter an. »Ich bin froh, daß Ihr Arm geheilt ist, Peter.«

Peter Marlowe lächelte zurück. »Es gibt nicht viel, das im Lager vorgeht und von dem Sie nichts wissen, nicht wahr?«

»Es gibt nicht viel, das im Lager vorgeht und von dem ER nichts weiß.« Donovan war sehr sicher und ganz friedfertig. »Wir stehen in guten Händen.« Dann lachte er vor sich hin und setzte hinzu: »Selbst Sie drei!«

»Na, das ist schon was«, meinte Mac, »obwohl ich glaube, daß der Oberst nicht zu retten ist!«

Nach dem Spiel und nachdem Donovan weggegangen war, nickte Mac Larkin zu. »Sie halten jetzt die Augen offen. Wir hören Nachrichten, und dann geht's ab in die Klappe.«

Larkin beobachtete die Straße, und Peter Marlowe saß auf der Veranda und versuchte, die Augen offenzuhalten. Zwei Tage. Nadeln in den Arm, und jetzt war er geheilt und hatte seinen Arm wieder. Seltsame Tage, und jetzt war alles in Ordnung.

Die Nachrichten waren außerordentlich gut, und alle gingen zu ihren Betten. Ihr Schlaf war traumlos und zufrieden.

Im Morgengrauen ging Mac zum Hühnerauslauf und fand drei Eier. Er brachte sie zurück, buk ein Omelett, füllte es mit etwas Reis, den er vom Vortag aufgehoben hatte, und würzte ihn mit einem Scheibchen Knoblauch.

Dann trug er es zu Peter Marlowes Baracke hinauf, weckte ihn und sah zu, wie er alles aß.

Plötzlich kam Spence in die Baracke gestürmt. »He, Leute!« schrie er. »Es ist Post gekommen!«

Mac drehte sich der Magen um. O Gott, laß einen Brief für mich dabei sein!

Aber es war kein Brief für Mac dabei.

Insgesamt waren es dreiundvierzig Briefe für die zehntausend. Die Japaner hatten zweimal innerhalb von drei Jahren Post an das Lager verteilt. Einige Briefe. Und dreimal war den Männern erlaubt worden, eine Postkarte mit fünfundzwanzig Wörtern zu schreiben. Aber ob die Karten je weitergegeben worden waren, wußten sie nicht.

Larkin war unter denen, die einen Brief bekamen. Der erste, den er überhaupt bekam.

Der Brief trug das Datum vom 21. April 1945. Vier Monate alt. Das Alter der übrigen Briefe schwankte zwischen drei Wochen und mehr als zwei Jahren.

Larkin las und las den Brief immer wieder. Dann las er ihn Mac, Peter Marlowe und dem King vor, die auf der Veranda des Bungalows saßen.

Liebling! Dieser Brief trägt die Nr. 205, begann er. Mir geht es gut, und Jenny geht es gut, und Mutter wohnt bei uns, und wir wohnen noch da, wo wir immer gewohnt haben. Wir haben keine Nachricht von Dir seit Deinem Brief vom 1. Februar 42, der in Singapur aufgegeben wurde, aber wir wissen trotzdem, daß es Dir gutgeht und daß Du glücklich bist, und wir beten um Deine sichere Heimkehr.

Ich habe jeden Brief gleich angefangen, wenn Du das Obige also schon einmal gelesen hast, dann verzeih mir. Aber es ist schwierig, wenn man nicht weiß, ob dieser Brief Dich erreichen wird, ob überhaupt einer Dich erreicht hat. Ich liebe Dich. Ich brauche Dich. Und Du fehlst mir mehr, als ich manchmal ertragen kann.

Heute bin ich traurig. Ich weiß nicht, warum, aber ich bin es. Ich möchte nicht niedergedrückt sein, denn ich wollte Dir viele schöne Dinge erzählen.

Vielleicht bin ich wegen Frau Gurble traurig. Sie hat gestern eine Postkarte bekommen und ich nicht. Vermutlich bin ich nur selbstsüchtig. Aber so bin ich nun mal. Jedenfalls, vergiß ja nicht, Vic Gurble zu erzählen, daß seine Frau Sarah eine Postkarte mit dem Datum vom 6. Januar 1943 bekommen hat. Es geht ihr gut, und sein Sohn gedeiht prächtig. Sarah ist so glücklich, daß sie wieder Verbindung hat. Ach ja, und den Regimentsfrauen geht es gut. Timsens Mutter ist einfach großartig. Und vergiß nicht, Tom Masters von mir zu grüßen. Ich habe gestern abend seine Frau gesehen. Auch ihr geht es gut, und sie verdient viel Geld für ihn. Sie ist in einer neuen Firma. Ach ja, und ich habe Elizabeth Fort gesehen und Mary Vickers …

Larkin blickte von dem Brief auf. »Sie erwähnt vielleicht ein Dutzend Ehefrauen, aber die Männer sind tot. Alle. Der einzige, der noch lebt, ist Timsen.«

»Lesen Sie weiter, Bester«, sagte Mac schnell, der mit schmerzhafter Deutlichkeit die Qual gesehen hatte, die in Larkins Augen geschrieben stand.

Heute ist es heiß, fuhr Larkin fort, und ich sitze auf der Veranda, und Jeannie spielt im Garten, und ich glaube, daß ich dieses Wochenende zur Hütte in den Blue Mountains hinaufgehen werde.

Ich würde Dir gerne schreiben, was in der Welt geschieht, aber das ist nicht erlaubt.

O Gott, wie schreibt man in eine Leere hinein? Wie soll ich das wissen? Um der Liebe Christi willen, wo bist Du, mein Liebster? Ich schreibe nicht mehr weiter. Ich beende den Brief einfach hier und schicke ihn nicht weg … Ach, mein Liebster, ich bete für Dich – bete Du für mich. Bitte, bete für mich, bete für mich …

Nach einer Pause sagte Larkin: »Es ist keine Unterschrift darunter, und es ist – die Adresse ist in der Handschrift meiner Mutter geschrieben. Was halten Sie davon?«

»Sie wissen ja, wie das so mit den Frauen ist«, antwortete Mac. »Wahrscheinlich hat sie den Brief einfach in eine Schublade gelegt, und dann hat Ihre Mutter ihn gefunden und ihn mit Luftpost weggeschickt, ohne ihn vorher zu lesen und ohne sie zu fragen. Sie wissen ja, wie Mütter sind. Höchstwahrscheinlich hat Betty ihn ganz vergessen und am nächsten Tag einen neuen Brief geschrieben, als sie sich wieder besser fühlte.«

»Was hat sie mit ›Bete für mich‹ gemeint?« fragte Larkin. »Sie weiß doch, daß ich das tue, jeden Tag. Was ist bloß los? Um Himmels willen, ist sie krank, oder ist sonst etwas?«

»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Oberst«, tröstete Peter Marlowe.

»Verdammt, was wissen Sie schon über solche Dinge?« brauste Larkin plötzlich auf. »Himmeldonnerwetter, wie soll ich mir keine Sorgen machen!«

»Mann, Sie wissen doch wenigstens, daß es ihr gutgeht, und Ihrer Tochter geht es auch gut«, schrie Mac zurück und war vor Sehnsucht außer sich. »Sie sollten Ihrem Glück dankbar sein! Wir haben keinen Brief bekommen! Keiner von uns! Sie haben Glück gehabt!« Und wütend stampfte er hinaus.

»Tut mir leid, Mac.« Larkin rannte hinter ihm her und zog ihn zurück. »Tut mir leid, es ist … nun ja, wenn man nach solch langer Zeit …«

»Ja, Mensch, schon gut, Sie haben ja weiter nichts gesagt. Ich bin es gewesen. Ich müßte mich entschuldigen. Ich bin vor Eifersucht ganz krank gewesen. Ich glaube, ich hasse diese Briefe.«

»Das können Sie noch mal sagen«, brummte der King. »Das kann einen verrückt machen. Die Leute, die sie bekommen, werden verrückt, und die Leute, die sie nicht bekommen, werden ebenfalls verrückt. Nichts als Ärger.«

Es war Abenddämmerung. Kurz nach dem Essenfassen. Die ganze amerikanische Baracke war versammelt.

Kurt spuckte auf den Boden und stellte das Tablett ab.

»Hier sind neun. Einen habe ich behalten. Meine zehn Prozent.« Er spuckte wieder und ging weg.

Alle sahen auf das Tablett.

»Ich glaube, ich muß wieder kotzen«, sagte Peter Marlowe.

»Kann Ihnen keinen Vorwurf machen«, pflichtete der King bei.

»Das könnte ich nicht sagen.« Max räusperte sich. »Sie sehen genau wie Kaninchenschlegel aus. Klein, gewiß, aber doch wie Kaninchenschlegel.«

»Willst du einen versuchen?« fragte der King.

»Verdammt, nein. Ich habe ja nur gesagt, daß sie so aussehen. Man wird doch noch seine Ansichten haben dürfen, oder nicht?«

»Heiliges Kanonenrohr«, sagte Timsen. »Hätte nie gedacht, daß wir wirklich welche verkaufen würden.«

»Wenn ich nicht wüßte …« Tex brach ab. »Ich bin so hungrig. Und so viel Fleisch habe ich nicht mehr gesehen, seit wir den Hund …«

»Welchen Hund?« fragte Max argwöhnisch.

»Ach, verdammt, das war, eh, vor ein paar Jahren«, antwortete Tex. »Damals, eh, 1943.«

»Oh.«

»Gottverdammt«, fluchte der King, der von dem Tablett immer noch ganz fasziniert war. »Es sieht wie richtiges Fleisch aus.« Er beugte sich vor und schnupperte an dem Fleisch, brachte aber die Nase nicht zu nahe. »Es riecht wie richtiges Fleisch …«

»Aber es ist keins«, unterbrach Byron Jones III beißend. »Es ist Rattenfleisch.«

Der King zog den Kopf zurück. »Verdammt, wozu sagst du das, du blöder Hund!« fauchte er in das Gelächter hinein.

»Mann, es ist doch Rattenfleisch, um Himmels willen. Wie du dich benimmst, könnte man ja richtig Heißhunger kriegen!«

Peter Marlowe hob vorsichtig einen Schlegel hoch und legte ihn auf ein Bananenblatt. »Den hier muß ich haben«, sagte er und kehrte zu seiner Baracke zurück. Er ging zu seinem Bett und flüsterte Ewart zu: »Vielleicht gibt es heute abend etwas Gutes zu essen.«

»Was?«

»Schon gut. Etwas Besonderes.« Peter Marlowe wußte, daß Drinkwater sie belauschte. Heimlich legte er das Bananenblatt auf sein Wandbrett und sagte zu Ewart: »Ich bin gleich wieder zurück.« Eine halbe Stunde später kam er zurück, und da war das Bananenblatt verschwunden und Drinkwater ebenfalls. »Sind Sie inzwischen draußen gewesen?« fragte Peter Marlowe Ewart.

»Nur einen Augenblick. Drinkwater hat mich gebeten, etwas Wasser für ihn zu holen. Er hat gesagt, es sei ihm so schlecht.« Und dann bekam Peter Marlowe hysterische Lachkrämpfe, und alle in der Baracke dachten, er hätte den Verstand verloren. Erst als Mike ihn schüttelte, konnte er zu lachen aufhören. »Entschuldigung, ich habe über etwas ganz Privates lachen müssen.«

Als Drinkwater zurückkehrte, gab Peter Marlowe vor, vom Verlust von etwas Eßbarem tödlich getroffen zu sein, und Drinkwater gab sich ebenfalls besorgt, leckte sich die Lippen und erklärte: »Was für eine Gemeinheit!«, und Peter Marlowes hysterischer Lachanfall begann von vorn.

Schließlich tastete sich Peter Marlowe zu seinem Bett und legte sich erschöpft hin. Und schnell verstärkte diese Erschöpfung noch die Erschöpfung der beiden letzten Tage. Er schlief ein, und in seinen Träumen aß Drinkwater Berge kleiner Schenkel, und er, Peter Marlowe, stand dabei und sah die ganze Zeit zu, und Drinkwater sagte immer wieder: »Was ist denn los? Sie sind köstlich, wirklich köstlich.«

Ewart rüttelte ihn wach. »Draußen steht ein Amerikaner, Peter. Er möchte mit Ihnen reden.«

Peter Marlowe fühlte sich noch immer schwach, und Übelkeit quälte ihn, aber er stand auf. »Wo ist Drinkwater?«

»Er ist weggegangen, nachdem Sie den Lachanfall hatten.«

»Aha.« Peter Marlowe lachte von neuem. »Ich hatte schon gefürchtet, es könnte ein Traum gewesen sein.«

»Was?« Ewart sah ihn forschend an.

»Nichts.«

»Ich weiß nicht, was in Sie gefahren ist, Peter. Sie haben sich in letzter Zeit ziemlich komisch benommen.«

Tex erwartete Peter Marlowe im Schutz der Baracke. »Peter«, wisperte er. »Der King schickt mich. Es ist allerhöchste Zeit, daß Sie kommen.«

»Oh, verdammt! Entschuldigung, ich habe verschlafen.«

»Ja, das hat er sich gedacht. ›Am besten bringen Sie es so schnell wie möglich hinter sich‹, hat er mir für Sie aufgetragen.« Tex runzelte die Stirn. »Sind Sie wieder gesund?«

»Ja. Noch ein wenig schwach. Es wird schon gehen.«

Tex nickte und eilte dann davon. Peter Marlowe rieb sich das Gesicht, ging dann die Treppe hinab zur Asphaltstraße und stellte sich unter die Dusche, und sein Körper trank Kraft aus der Kühle. Dann füllte er seine Feldflasche und ging schwerfällig zu den Latrinen. Er wählte ein Loch am Fuße des Abhangs möglichst nahe am Stacheldrahtzaun.

Es stand nur eine schmale Mondsichel am Himmel. Er wartete, bis die Latrinengegend einen Augenblick leer war, glitt dann über die freie Fläche, schlüpfte unter dem Stacheldrahtzaun hindurch und in den Dschungel hinein. Er ging geduckt, als er im Dschungel dem Stacheldrahtzaun folgte und einen Bogen um den Posten schlug, von dem er wußte, daß er auf dem Pfad zwischen Dschungelrand und Stacheldrahtzaun auf und ab gehen mußte. Er brauchte eine Stunde, bis er die Stelle fand, wo er das Geld versteckt hatte. Er setzte sich auf den Dschungelboden, nahm die zentimeterdicken Banknotenbündel, band sie sich um die Oberschenkel und schlang den Sarong doppelt um die Taille. Der Sarong reichte jetzt nicht mehr bis auf den Boden, sondern war nur noch knielang und aufgebauscht und half dadurch mit, die außergewöhnliche Dicke seiner Schenkel zu verbergen.

Er mußte noch eine ganze Stunde bei der Latrinengegend warten, bevor er unter dem Stacheldrahtzaun hindurchschlüpfen konnte. In der Dunkelheit hockte er sich über das Bohrloch, um Atem zu schöpfen und abzuwarten, bis sein Herz ruhiger schlug. Schließlich hob er seine Feldflasche auf und verließ die Latrinengegend.

»Hallo, Kamerad«, sagte Timsen und trat mit einem Grinsen aus dem Schatten heraus. »Herrliche Nacht, nicht wahr?«

»Ja«, antwortete Peter Marlowe.

»Eine phantastische Nacht für einen Spaziergang. Stimmt's?«

»Wie meinen Sie das?«

»Haben Sie was dagegen, wenn ich mit Ihnen gehe?«

»Nein. Kommen Sie, Tim. Ich bin froh, wenn Sie bei mir sind. Dann gibt es keine verdammten Buschklepper. Stimmt's?«

»Stimmt genau, Kamerad. Sie sind in Ordnung.«

»Sie sind selbst nicht schlecht, Sie krummer Hund.« Peter Marlowe schlug ihm auf den Rücken. »Ich habe Ihnen noch gar nicht gedankt.«

»Schon gut, Kamerad«, kicherte Timsen, »fast hätten Sie mich an der Nase herumgeführt. Ich hatte schon gedacht, Sie wollten nur abprotzen gehen.«

Der King war grimmig, als er Timsen bemerkte, war gleichzeitig aber auch wieder nicht zu grimmig, denn das Geld war wieder in seinem Besitz. Er zählte es und legte es in die schwarze Kiste.

»Jetzt brauchen wir nur noch das Glitzersteinchen.«

»Jawohl, Kamerad.« Timsen räusperte sich. »Wenn wir den Räuber erwischen, bevor er hierherkommt oder nachdem er hierhergekommen ist, dann kriege ich den Preis, den wir vereinbart haben, stimmt's? Wenn du den Ring von ihm kaufst und wir ihn nicht erwischen – dann bist du der Sieger, stimmt's? Ist das nicht fair?«

»Doch«, bestätigte der King. »Abgemacht.«

»Gut! Gnade ihm Gott, wenn wir ihn erwischen.« Timsen nickte Peter Marlowe zu und ging hinaus.

»Peter, legen Sie sich aufs Bett«, sagte der King und setzte sich auf die schwarze Kiste. »Sie sehen völlig ausgepumpt aus.«

»Ich hatte schon gedacht, ich müßte wieder umkehren.«

»Bleiben Sie hier. Könnte sein, daß ich jemand brauche, dem ich vertrauen kann.«

Der King schwitzte, und die Hitze des Geldes in der schwarzen Kiste schien durch das Holz hindurchzubrennen.

Peter Marlowe legte sich also auf das Bett, und das Herz schmerzte ihn noch immer von der Anstrengung. Er schlief, aber sein Geist war hellwach.

»Kamerad!«

Der King sprang zum Fenster. »Jetzt?«

»Beeil dich.« Das Männchen hatte schreckliche Angst, und im Weiß seiner flink hin und her huschenden Augen fing sich das Licht. »Mach schon, beeil dich.«

Der King stieß den Schlüssel ins Schloß, warf den Deckel zurück, holte das Bündel von zehntausend heraus, die er bereits abgezählt hatte, und lief zum Fenster zurück. »Hier. Zehn große Lappen. Ich hab sie abgezählt. Wo ist der Diamant?«

»Erst wenn ich das Geld kriege.«

»Sobald ich den Diamanten habe«, erwiderte der King und hielt die Geldscheine noch immer fest.

Das Männchen starrte feindselig zu ihm auf und öffnete dann die Faust. Der King starrte auf den Diamantring, prüfte ihn und machte keine Bewegung, ihn zu nehmen. Ich muß mich vergewissern, sagte er drängend bei sich. Ja, er ist es. Ich glaube, er ist es.

»Mach schon, Kamerad«, knirschte das Männchen. »Nimm ihn!«

Der King ließ die Banknoten erst los, als er den Ring fest in der Hand hielt, und das Männchen schoß davon. Der King hielt den Atem an, bückte sich neben das Licht und untersuchte sorgfältig den Ring.

»Wir haben es geschafft, Peter, Menschenskind«, flüsterte er frohlockend. »Wir haben es geschafft. Wir haben den Diamanten, und wir haben das Geld.«

Die Spannung der letzten Tage machte sich plötzlich bemerkbar, und der King öffnete ein Säckchen mit Kaffeebohnen und tat, als wollte er den Diamanten tief darin vergraben. Statt dessen verbarg er den Ring geschickt in der Hand. Selbst Peter Marlowe, der ihm am nächsten stand, wurde getäuscht. Kaum hatte er die Kiste geschlossen, wurde er von einem Hustenanfall geschüttelt. Niemand bemerkte, wie er den Ring zum Mund führte. Er tastete nach der Tasse mit dem abgekühlten Kaffee und trank sie leer. Und dabei verschluckte er den Stein. Jetzt war der Diamant sicher. Sehr sicher.

Er setzte sich auf einen Stuhl und wartete auf das Abklingen der Spannung. O ja, jubelte er bei sich. Du hast es geschafft.

Ein Warnpfiff zerriß die Stille.

Max schlüpfte durch die Tür. »Polypen«, sagte er und beteiligte sich schnell an dem Pokerspiel.

»Gottverdammt!« Der King zwang seine Beine zur Bewegung und riß die Geldstapel an sich. Er warf Peter Marlowe drei Zentimeter zu, stopfte drei Zentimeter in die eigenen Taschen, jagte die Baracke hinab zum Pokertisch und gab jedem einen Stapel, den die Spieler in die Taschen stopften. Dann verteilte er den Rest auf dem Tisch, griff sich einen Stuhl und beteiligte sich am Spiel. »Mach schon, um Himmels willen, und gib«, drängte der King.

»Schon gut. Schon gut«, machte Max. »Fünf Karten.« Er schob eine Hundertdollarnote in die Tischmitte. »Hundert Einsatz.«

»Zweihundert«, rief Tex strahlend.

»Ich halte mit!«

Alle hielten mit und frohlockten und waren glücklich, und Max gab die beiden ersten Karten und sich selbst ein As. »Ich setze vierhundert!«

»Deine vier und noch vier dazu«, grölte Tex, der einen Jungen aufgedeckt auf dem Tisch liegen hatte und sonst nichts.

»Ich halte mit«, erwiderte der King, und dann sah er auf, und Grey stand in der Tür. Zwischen Brough und Yoshima. Und hinter Yoshima standen Shagata und ein anderer Posten.